Gewaltenteilung und parlamentarisches Regierungssystem

Gewaltenteilung als Verfassungsprinzip

Im Wortlaut mit Art. 20 Abs. 2 GG übereinstimmend wird nach Art. 2 Abs. 1 Satz 2 NV alle Staatsgewalt durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. Die Formulierung wird allgemein als Verkörperung und Ausdruck der klassischen dreiteiligen Gewaltenteilung bei Montesquieu angesehen.64 Die drei verschiedenen Funktionen der Gesetzgebung, Gesetzesvollziehung und Rechtsprechung sind danach verschiedenen organisatorisch und persönlich unabhängigen Institutionen oder Organen zugewiesen.65

Die Norm erscheint so „lediglich als positivrechtliche Verankerung eines überpositiven Dogmas“,66 das als strikte Gewaltentrennung verstanden, ganz offensichtlich mit der gegenwärtigen Verteilung der Staatsfunktionen in der Verfassungspraxis kontrastiert, im Bund wie in Niedersachsen. Auch die Niedersächsische Verfassung konstituiert ein parlamentarisches Regierungssystem, in dem Parlament und Exekutive voneinander gegenseitig abhängig sind, sich personell in der Regierung überschneiden und eng miteinander zusammenarbeiten.67 In ihrer klassischen Ausprägung lässt sich die Theorie daher nicht halten. Es hat sich deswegen auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts68 die Theorie der Funktionsgerechtigkeit oder Organadäquanz durchgesetzt.

Ausgangspunkt dieses Konzepts ist die konkrete Zuordnung der Kompetenzen in der Verfassung, kein abstraktes Gewaltenteilungsmodell. Organadäquanz bedeutet, dass die jeweiligen Funktionen von den Organen oder Institutionen ausgeübt werden sollen, die dafür nach ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahren über die besten Vorraussetzungen verfügen. Diese Gewaltenteilungslehre wird erst herangezogen, wenn die Verfassung keine eindeutige Zuordnung vornimmt, zwingt der konkreten Kompetenzverteilung aber nicht das Prokrustesbett eines abstrakten Modells auf. Auch wird klarer erkennbar, dass Gewaltenteilung nicht lediglich rechtsstaatlicher Machtbegrenzung dient,69 sondern ebenso die Effizienz der staatlichen Organisationsstruktur steigern und demokratische Legitimation verwirklichen soll.70

Die Rolle des Volkes im System der repräsentativen Demokratie

Das Prinzip der Volkssouveränität (Art. 2 Abs. 1 Satz 1 NV) verlangt nicht nur, dass alle Staatsgewalt vom Volk abgeleitet ist, sondern weist ihm auch eine maßgebliche Rolle im politischen Prozess der repräsentativen Demokratie zu. Mit der Verabschiedung der Verfassung ist das Volk allerdings wie alle anderen Institutionen und Organe ein von der Verfassung begründetes Organ,71 das mithin ebenfalls bei seinen Entscheidungen an die Verfassung gebunden ist.

In einer repräsentativen Demokratie sind Wahlen der Kern der demokratischen Beteiligung des Volkes, die dem Parlament demokratische Legitimation verleihen. Die Niedersächsische Verfassung schreibt in Art. 8 Abs. 1 NV die klassischen fünf Wahlrechtsgrundsätze allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahlen vor und entspricht damit den vom Grundgesetz erhobenen Anforderungen an das Wahlrecht in Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG. Wie das Grundgesetz legt die Niedersächsische Verfassung das Wahlsystem trotz seiner hohen Bedeutung nicht unmittelbar fest. Lediglich das aktive und passive Wahlrecht wird auf die Vollendung des 18. Lebensjahres festgelegt (Art. 8 Abs. 2 NV). Außerdem gibt Art. 8 Abs. 3 NV anders als Art. 38 GG eine Sperrklausel in Höhe von fünf Prozent vor. Da eine Sperrklausel nur in einem Verhältniswahlsystem Anwendung finden kann, wird man darin eine – indirekte – Option für ein Verhältniswahlsystem sehen können. Im Übrigen wird die Ausgestaltung des Wahlrechts dem Gesetzgeber überlassen (Art. 8 Abs. 5 Satz 1 NV).

Das Niedersächsische Landeswahlgesetz (NLWG) in der Fassung vom 30. Mai 200272 sieht ein dem im Bundeswahlgesetz geregelten personalisierten Verhältniswahlsystem vergleichbares Wahlrecht vor. Der Landtag besteht danach aus mindestens 135 Abgeordneten, von denen 87 im Wege der Direktwahl in Wahlkreisen gewählt werden (§ 1 Abs. 1 Satz 1 und 2 NLWG).73 Die übrigen Abgeordnetensitze werden den Parteien aufgrund von Landeswahlvorschlägen zugewiesen (§ 1 Abs. 1 Satz 3 NLWG). Wie bei den Wahlen zum Bundestag hat jeder Wähler zwei Stimmen (§ 26 Abs. 1 NLWG), von denen die Erststimme für einen Bewerber aufgrund eines Kreiswahlvorschlags und die Zweitstimme für einen Landeswahlvorschlag abgegeben wird. Gewählt ist im Wahlkreis gem. § 31 Abs. 1 NLWG, wer die meisten Erststimmen erhalten hat. Die relative Mehrheit reicht also aus. Aufgrund der Direktwahl werden – anders als im Bund – nicht nur die Hälfte, sondern etwa zwei Drittel74 der Abgeordneten bestimmt. Trotz dieses Zahlenverhältnisses dominiert das Verhältniswahlsystem, weil sich die konkrete Mandatszahl jeder Partei letztlich nach dem Zweitstimmenergebnis richtet. Das folgt aus der technischen Umsetzung der Wahlergebnisse.

Von der Gesamtzahl der Mandate werden zunächst die Direktmandate abgezogen, die nicht mit einem Landeswahlvorschlag verbunden waren oder deren Landeswahlvorschläge weniger als fünf Prozent der gültigen Zweitstimmen erhalten haben (§ 33 Abs. 4 Satz 1, 2 NLWG). Danach werden die Mandate auf die Landeswahlvorschläge nach dem d'Hondt'schen Höchstzahlverfahren verteilt. (§ 33 Abs. 5 Satz 1 NLWG). Von den einer Partei aufgrund dieser Berechnung insgesamt zustehenden Abgeordnetensitzen werden die ihr zugeteilten Abgeordnetensitze aus den Wahlkreisen abgesetzt (§ 33 Abs. 6 Satz 1 NLWG). Die verbleibenden Abgeordnetensitze stehen der jeweiligen Partei nach der Reihenfolge des Landeswahlvorschlags zu, wobei diejenigen Listenbewerber ausscheiden, die bereits ein Wahlkreismandat erlangt haben (§ 33 Abs. 6 Satz 2–4 NLWG). Die Kombination des Mehrheitswahlsystems in den Wahlkreisen mit dem Verhältniswahlsystem nach den Landeswahlvorschlägen kann dazu führen, dass eine Partei mehr Direktmandate erringt, als ihr nach dem Verhältniswahlsystem zustehen. Die direkt gewählten Abgeordneten dürfen zwar ihre Mandate behalten, in Niedersachsen sieht das Wahlrecht aber Ausgleichsmandate für die anderen Parteien vor, sodass sich die Mehrheitsverhältnisse im Landtag in der Regel75 nicht verschieben (§ 33 Abs. 7 NLWG).76

Verfassungsrechtliche Fragen wirft regelmäßig nur die Wahlrechtsgleichheit auf. Die erhebliche Beeinträchtigung der Wahlrechtsgleichheit durch die Sperrklausel wird in Niedersachsen allerdings durch Art. 8 Abs. 3 NV selbst legitimiert. Einen Verstoß gegen die Wahlrechtsgleichheit hat der Niedersächsische Staatsgerichtshof allerdings in der ungleichen Wahlkreiseinteilung (für die Direktmandate) bei der Wahl zum 15. Landtag festgestellt, weil die Wahlkreisgröße zwischen 34.799 und 94.751 Wahlberechtigten zu sehr schwankte.77

 
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