Land oder Regionen als identitätsprägende Faktoren?
Insgesamt spricht zunächst wenig dafür, dass das Land oder die Region eine große Bedeutung für die Identität der Menschen besitzen, die in ihnen leben. Dies gilt prinzipiell für alle Bundesländer und alle Regionen und ist auch empirisch nachgewiesen46: Die großen gesellschaftlichen Debatten sind kaum auf diese bezogen, in den Medien sind sie – außer über die durchaus erfolgreichen dritten Programme – wenig präsent, die gestiegene Mobilität führt dazu, dass, anders als in früheren Zeiten, regionale Prägungen nicht mehr einfach generationell weitergegeben werden. Und Niedersachsen hat, anders als etwa Bayern, aber ebenso wie viele andere Länder, als Land auch deutlich weniger eigenständiges Profil in der Binnenwie der Außenwahrnehmung; ganz egal, wie man die Politik Bayerns, die seit Jahrzehnten durch die CSU geprägt wird, beurteilt, hat sie ohne Zweifel durch die häufig scharfe Abgrenzung gegenüber den Ebenen Bund und Europa dazu beigetragen, Eigenständigkeit zu behaupten, die auch von außen anerkannt, wenn auch unterschiedlich bewertet wird. Dies ist in Niedersachsen wie in den meisten anderen Ländern nicht der Fall.47 Wahrnehmbar war das Land, wie bereits erwähnt, am ehesten durch bundespolitisch relevante politische Akteure wie Albrecht und Schröder.
Allerdings: Das Regionale hat ohne Zweifel seit den späten 1970er Jahren eine Renaissance erfahren. Gerade die Europäisierungsund Globalisierungstendenzen, die zahlreiche wichtige politische und ökonomische Entscheidungen auf als anonym wahrgenommene Ebenen verlagert haben und die Städte durch die kulturelle Vereinheitlichung austauschbar machen, haben vielfach den Wunsch nach (tatsächlicher oder vermeintlicher) Authentizität, nach unmittelbarer Begegnung, nach Unverwechselbarkeit, nach menschlichen Maßen und Überschaubarkeit, kurz: nach „Heimat“ wachsen lassen – und da sind die Regionen mit ihrer unterschiedlichen Geschichte, die auch noch in Relikten die gegenwärtige Wahrnehmung prägt, wieder attraktiv geworden.48 Allerdings betrifft dies wohl eher kleinere Regionen als Bundesländer. Welche Bedeutung allerdings diese Renaissance des Regionalen (und Lokalen) für die Identität von Menschen des 21. Jahrhunderts besitzt, ist bislang kaum zu beurteilen.
Ist Niedersachsen auf der mental map der Niedersachsen?
Das Land Niedersachsen ist, ebenso wie das föderalistische System insgesamt, selbstverständlich und wird wohl auch in absehbarer Zeit von niemandem aktiv infrage gestellt.49 Das war noch in den 1950er Jahren anders: Die erwähnten erfolgreichen Volksbegehren waren ein Indiz dafür, eine Umfrage im Jahr 1955, wonach 54 Prozent der befragten Niedersachsen dafür waren, die Länderregierungen aufzulösen, und nur 14 Prozent dagegen, war ein weiteres50 – und das nach immerhin fast zehn Jahren Regierung des als „Landesvater“ apostrophierten Hinrich Wilhelm Kopf. Und die Landeseliten haben heute, anders als in den 1950er Jahren, keine Probleme damit, die Vorgeschichte der Landesgründung deutlich differenzierter darzustellen, ohne damit die Einheit des Landes infrage zu stellen.51 Das hat aber wohl nicht nur mit einer gefestigten Situation des Landes zu tun, sondern auch mit der Tatsache, dass ein Landesbewusstsein möglicherweise gar keine große politische Bedeutung (mehr) besitzt und dass diese Tatsache auch den Landeseliten klar ist.
Auch wenn die Wissenschaft der Auffassung ist, dass Landespolitik eine solche Legitimation benötigt52 – ob dies tatsächlich so ist, ob also ein geringes Landesbewusstsein die Stabilität und Legitimität dieses politischen Gemeinwesens infrage stellt, ist kaum zu beurteilen. Vermutlich wären Krisensituationen ein Prüfstein – aber da Krisen selten einzelne Länder infrage stellen (höchstens einzelne Landesregierungen, die man ja aber abwählen kann), ist die Existenz solcher Prüfsteine kaum zu erwarten. Es spricht daher wenig dagegen, dass, ungeachtet immer mal wieder aufflammender Neugliederungsdiskussionen53, Niedersachsen auch in den nächsten Jahrzehnten weiter bestehen wird, ohne dass die Menschen, die in ihm leben, sich ständig als „Niedersachsen“ definieren oder gar fühlen.54 Für die Landespolitik heißt das, dass man sich, mit wenigen Ausnahmen55, nur bei besonderen Anlässen wie Jubiläen mit solchen Identitätsfragen befasst, sie aber in der Alltagspolitik kaum eine Rolle spielen.56