„Was stört's den Eichbaum, wenn die Sau dran scheuert?“ – zum Selbstverständnis und Selbstbewusstsein der kleinen Landverbände

Vor dem Hintergrund der ausgesprochen begrenzten formalen Kompetenzen der Landesverbände Braunschweig und Oldenburg stellt sich nun die Frage nach der Bedeutung dieses Sonderstatus als Landesverbände. Überhaupt ist die Funktion dieser historisch und kulturell scheinbar überkommenen Gliederung relativ unklar: Zu welchem Zweck wird der Fortbestand der Dreigliedrigkeit heute noch angestrebt? Werden hier tatsächlich noch relevante landsmannschaftliche Bedürfnisse bedient? Geht es letztlich nur um partikulare Interessen von Verbandsfunktionären? Oder besitzt dieser besondere Aufbau möglicherweise sogar einen Nutzen für die Gesamtpartei in Niedersachsen oder auf Bundesebene? Zunächst ist vorwegzunehmen: Auch aus Sicht der CDU-Repräsentanten der Landesver- bände spielen konfessionelle Konflikte oder regionale Abgrenzungsbedürfnisse für die Fortexistenz der Landesverbände keine Rolle. Relevanter sind Fragen regionaler Identität:

„Die historischen Wurzeln haben eben so ein bisschen in diesem CDU-Landesverband Brauschweig überdauert. Aber wenn man reinhört in die Öffentlichkeit: Die Menschen sehen sich als Menschen im Braunschweiger Land. Es gibt da, denke ich, einen großen Zusammenhalt. Vielleicht nicht bis in alle – geografisch gesehen – Ränder hinein, aber da gibt's schon 'ne Identität. […] Und das wollen wir natürlich auch pflegen.“ (CDU BS)

„Früher gab's die Bezirksregierung Weser-Ems und da gehörte ja auch Cuxhaven und so weiter dazu. Und bei uns im Oldenburger Land, obwohl bei uns der Bezirksregierungssitz war, ist es ein künstliches Gebilde, Weser-Ems. Es ist von den Menschen nie angenommen worden, weil die Menschen im Oldenburger Land und viele traditionelle Vereine auch, vom Schützenverein über die Oldenburgische Landschaft, sich doch sehr an diesen traditionellen Grenzen des Oldenburger Landes, des Großherzogtums, orientieren und eben nicht an dem Weser-Ems-Gebilde, was 'ne Verwaltungsstruktur war.“ (CDU OL)

Obgleich im ersten Zitat darauf verwiesen wird, dass die „historischen Wurzeln“ Braunschweigs in den Unionsstrukturen lediglich „überdauert“ hätten, was nach dem Charakter eines Reliktes klingt, wird sogleich nachgeschoben, dass diese landsmannschaftliche Identität nach wie vor, zumindest als „Zusammenhalt“ existiert. Für das Oldenburger Mitglied zeigt sich in der Zurückweisung des Kunstgebildes Regierungsbezirk WeserEms64 deutlich, dass die natürlich gewachsenen Grenzlinien des Oldenburger Landes für die „Menschen“ noch maßgeblich seien. Die beiden CDU-Landesverbände betrachten sich insofern als eine Schutzmacht regionaler Identitätspflege. In Braunschweig komme hinzu, wird an anderer Stelle festgestellt, dass das Selbstverständnis als Landesverband in diesem überwiegend sozialdemokratischen geprägten Landstrich für die CDU-Mitglieder die Funktion einer identitätsstiftenden „Klammer“ einnehme.

Diese Kulturen besitzen heute kein reales Konfliktpotenzial mehr, sie sind, ähnlich wie Mintzel sie für die Regionalismen und Symboliken im Freistaat Bayern feststellt65, auch in Niedersachsen bis zu einem gewissen Grade folklorisiert. Damit ist nicht gesagt, dass sie keine politischen Funktionen mehr besitzen. Denn wie stark regionale politische Kulturen und Traditionsbestände – verstanden als regionales „Erbe“ – noch politisch mobilisierbar sind66, zeigt die seit Jahrzehnten existierende Dominanz der Christdemokratie in der Region Südoldenburg. Durch diesen kulturellen Traditionalismus in den CDU-Verbandsstrukturen manifestiere sich somit auch ein Wettbewerbsvorteil gegenüber der SPD:

„Die SPD hat sich beispielsweise in den Unterbezirk Weser-Ems [gegliedert], hat aber das Problem, dass sie nicht deckungsgleich ist mit vielen Vereinen, Verbänden, Oldenburgische Landschaft, die diese Kulturpflege macht. Die haben mit Weser-Ems, mit allem was östlich der Weser ist, wenig zu tun. Und deswegen hat die Sozialdemokratie auch ein Problem, der legitime Vertreter in der Region zu sein, weil viele Interessen aus dem Bereich Elbe-Weser reinspielen in deren Vertretung. Und das ist bei uns anders. Wir sehen eben das Oldenburger Land und setzen uns auch dafür ein.“ (CDU OL)

Die Landesverbände besitzen, diesem Zitat zufolge, keineswegs nur eine kulturelle Funktion. Es geht auch um handfeste Interessenvertretung. Die Interessenlagen strukturierten sich entlang historischer Grenzlinien. Weil die SPD aufgrund ihrer Kulturgrenzen übergreifenden Struktur notwendig Interessen von westlich (Oldenburger Land) und östlich der Weser kumulieren müsse, könne sie im Gegensatz zur Union keine „legitime Vertreter[in]“ der Region sein, da sie die regionalen Interessen, wie sie im Vereinsund Verbändewesen bestehen, notgedrungen mit regionsfremden Interessen kreuzen müsse. Die Landesverbände stellen aus Sicht der Verbandsvertreter somit Garanten für eine wirksame Interessenvertretung dar:

„Dieser Status Landesverband gibt uns eben auch die Möglichkeit, regionale Interessen auch gemeinsam zu vertreten. Ich sag mal ein Stichwort: die Durchsetzung des Ausgleichsfonds für Asse II, dieses unglückliche Atommüllendlager, was wir jetzt dann doch wieder räumen wollen. Da geht's auch um einen Entschädigungsfonds für die Region. Das haben wir gemeinsam auf regionaler Ebene durchgesetzt. Der eine oder andere würde sagen: Na ja, der Landesverband ist eher ein kleiner Bezirksverband. Nein! Wir werden durchaus wahrgenommen und wir machen das auch, sag ich mal, im Einvernehmen recht intensiv.“ (CDU BS)

Es seien demnach explizit der Status als Landesverband und die damit verbundene Wahrnehmung und das Prestige67, welche, wie im Falle des Asse-Ausgleichsfonds, die Vertretung und Durchsetzung von Interessen erlaubten. Eine nähere Begründung hierfür erfolgt jedoch nicht. In den Gesprächen wird die besondere Wahrnehmbarkeit der beiden kleinen Landesverbände durch ihren Status immer wieder betont, wobei die Arbeit der Funktionsträger vielfach einer besseren innerparteilichen Wahrnehmung der Verbände und der Regionalinteressen dient. Zu diesem Zweck werden die knappen Ressourcen der Braunschweiger CDU sinnvoll zu investieren versucht. Einen Landesausschuss als drittes Verbandsorgan habe man aufgrund schwacher Frequentierung abgeschafft und investiert die freigewordenen Kapazitäten nun in thematische Veranstaltungen wie ein 2014 veranstaltetes Forstforum, in welchem die Zukunft der Braunschweiger Waldgebiete dis- kutiert wurde. Überdies setzt jedoch vor allem die Braunschweiger CDU auch auf die Verbandsgrenzen überschreitende Kooperation mit den angrenzenden „hannoverschen“ Bezirksverbänden. Neben der Existenz von Interessen, die über die Grenzen der einzelnen Regionalverbände hinausreichen, kommt auch ein Bewusstsein für die Begrenztheit des Einflusses des eigenen Landesverbandes zum Vorschein, aus dem vor allem im Landesvorstand ein Kooperationsinteresse erwächst:

„Wenn man da glaubt, man kann nach oben, nach außen hin noch Interessen alleine vertreten, dann liegt man vollkommen falsch. Es gibt Kreisverbände in Deutschland, die sind so groß wie unser Landesverband, muss man auch ganz ehrlich sagen. Wenn wir uns nicht zusammentun, erreichen wir gar nichts. […] Wenn wir hier vor Kraft kaum laufen könnten, dann ist der Drang, sich Verbündete zu suchen, ja gar nicht so groß.“ (CDU BS)

Namentlich die mitglieder-, mandatsund ressourcenstarken Oldenburger bedürften, diesem Braunschweiger Funktionär zufolge, weniger der Unterstützung durch angrenzende Verbündete. Der Landesverband Braunschweig hingegen, der zwischen 2009 und 2013 nicht einen Bundestagsabgeordneten stellte, käme nicht umhin, die Interessenvertretung z.T. überregional zu koordinieren. Doch das starke Selbstbewusstsein, welches der Landesverbandsstatus verleiht, könne an der Basis in den jeweils verbandszugehörigen Kreisund Ortsverbänden auch Widerstände gegen Kooperationen, Reformen oder eine Öffnung nach außen wecken. Somit bestünde ein permanenter innerverbandlicher Koordinierungsbedarf, der ebenfalls zu den Kernaufgaben der Landesvorstände, auch in Oldenburg, gehöre:

„Und darum ist es wichtig, auch trotz dieses Übergewichts an interner Mehrheit [der Katholiken im Landesverband; O.D.] immer einen Ausgleich zu finden, denn dieses Gebilde, Landesverband Oldenburg, hat ja nur Bestand, wenn jeder in diesem Gebilde das Gefühl hat, dass er was davon hat, wenn er sagt, es lohnt sich, da mitzumachen, es lohnt sich auch nach sechzig, siebzig Jahren, das aufrechtzuerhalten. Es ist ein Zukunftsmodell.“ (CDU OL)

Sowohl die Aussagen zur Kooperation bei verbandsübergreifenden Interessen als auch die zu internen Divergenzen innerhalb der Landesverbände konterkarieren bis zu einem gewissen Grade die zuvor zumindest subtil unterstellte Interessenhomogenität innerhalb der beiden Landschaften und CDU-Verbände, die zuvor ja dazu diente, die dreigliedrige Struktur der CDU in Niedersachsen zu rechtfertigen. Koordinationsbedarf ergibt sich offenkundig auch innerhalb der kleinteiligen Verbandsstrukturen in Oldenburg und Braunschweig. Somit muss das Modell der CDU in Niedersachsen und hier eben des Landesverbandes Oldenburg permanent unter Beweis stellen, dass es ein „Zukunftsmodell“ ist. Daraus scheint auch ein anhaltender (möglicherweise nur innerer) Rechtfertigungsdruck zu erwachsen, dem sich die anderen Landesverbände als notwendige Gliederungen nicht ausgesetzt sehen.

Identitätspflege und passfähigere Interessenvertretung erscheinen aus Sicht ihrer Funktionäre als die Hauptfunktionen der kleinen Landesverbände. Damit ist jedoch noch nichts über die Durchsetzungsmöglichkeiten und die Machtstellung von Oldenburgern und Braunschweigern innerhalb der niedersächsischen und der Bundes-CDU gesagt. Gleichwohl das Bewusstsein für die Begrenztheit des eigenen Einflusses durchaus gegeben ist („Wenn ich jetzt zum Bundesparteitag fahre, wo tausend Leute sitzen und ich hab' zwölf, dass ich da nicht die Politik bestimmen werde, das habe ich inzwischen auch schon begriffen“; CDU BS), wird insbesondere das Privileg zur bundespolitischen Kontaktpflege, die der Status als Landesverband bietet, entschieden angenommen:

„Der Vorteil, den wir auch als Landesverband haben durch diese Konstellation, ist erstmal schlicht und einfach: Wir haben einen Sitz im Bundesvorstand mit beratender Stimme. […]. Das schafft 'ne Menge Kontakte zu Kollegen, in die Gremien hinein. […] Es ist eine gewisse Selbstständigkeit, wenn es zum Beispiel um die Frage von Fachausschüssen, auch auf Bundesebene [geht], da werden natürlich dann auch die kleinen Landesverbände gefragt. Wir machen das dann über Niedersachsen im Einvernehmen mit. Das heißt, wir haben da gute Mitwirkungsmöglichkeiten. Wir werden auch separat wahrgenommen, beispielsweise bei einem Bundesparteitag, weil die Braunschweiger zwar in der großen Gruppe der Niedersachsen sitzen, genau wie die Oldenburger, aber durchaus auch als Landesverband wahrnehmbar sind. Das erleichtert manches Mal so ein bisschen auch das eine oder andere.“ (CDU BS)

Für die Spitzenfunktionäre bietet der Status als Landesverband also gewisse Boni, wie Kontakte auf Bundesebene oder Mitwirkung an Fachausschüssen und anderen Gremien. Und schließlich kann die Präsenz dreier niedersächsischer Landesvorsitzender schlicht die Wahrnehmung der Regionen in bundespolitischen Gremien der Partei erhöhen. Damit ist auch ein gewisses Prestige verbunden, das die Landesverbände gegenüber den hannoverschen Bezirksverbänden besitzen. Tatsächlicher Einfluss ist damit noch nicht zwingend verbunden. Doch bemühen sich gerade die innerparteilich oft belächelten Braunschweiger und Oldenburger, gerade auf Bundesebene besonders enge Bande im Abwehrkampf gegen Geringschätzung anderer Landesverbände zu knüpfen. Dabei gilt es stets, den Anspruch, Landesverband zu sein, auch auf Bundesebene wirksam zu demonstrieren. So halten die Bundesparteitagsdelegierten aus Braunschweig und Oldenburg – obwohl sie alle in der niedersächsischen Delegation sitzen – separate Delegiertenvorbesprechungen ab:

„[…] um einfach zu sagen: Wir sind keine Bezirksverbände, wir sind Landesverbände. Und die Landesverbände machen Delegiertenvorbesprechungen beim Bundesparteitag. Allein das hat schon für 'ne gewisse Aufmerksamkeit gesorgt. Und das ist ja manchmal schon das, was wir brauchen: Aufmerksamkeit, was unsere Arbeit hier angeht.“ (CDU BS)

Gleiches gilt für Gremiensitzungen auf Bundesebene. Will man hier jedoch wirklich etwas durchsetzen, benötigt es das Gewicht des gesamten Landesverbandes:

„Wir versuchen uns natürlich immer so abzustimmen, dass wir zu dritt, drei Landesvorsitzende, auf Bundesebene geschlossen auftreten. Es hat auch 'ne Schlagkraft auf Bundesebene. Viele belächeln das. Aber es sind drei Landesvorsitzende, es können drei Mal Wortmeldungen gemacht werden, man hat also verschiedenste Möglichkeit, auch über Bande mal zu spielen, wie man in der Politik sagt: Sag Du mal zuerst da was zu und dann da was zu.“ (CDU OL)

Es bedarf also schon einer gewissen strategischen Flexibilität und Findigkeit der kleinen Landesverbände, ihre Position zur Geltung zu bringen. Denn unmittelbare Einflusspositionen können sie im Grunde nicht formal aus den satzungsrechtlichen Privilegien generieren. Großparteien wie die CDU sind jedoch keine strategisch und hierarchisch durchstrukturierten Organisationen, sondern vielfach fragmentiert und dysfunktional in ihrem Tun.68 Die CDU als eine pluralistische Partei informeller Strukturen ermöglicht es somit auch relativ kleinen Organisationseinheiten wie den kleinen Landesverbänden, sich Räume zur politischen Gestaltung zu erschließen. Deren Wirkung wird unmittelbar jedoch bestenfalls innerparteilich sichtbar. Auf die institutionelle Politik wirken diese Landesverbände nur zurück, wenn Verbandspositionen mit bestimmten (Regierungs-)Ämtern oder Mandaten gekoppelt sind, wie im Falle des Oldenburger und Braunschweiger Einflusses in der Landtagsfraktion. Wie diese Mechanismen im Einzelfalle funktionieren und ob diese letztlich wirksamer sind als bei engagierten Bezirksvorständen, könnte im Rahmen künftiger Studien geklärt werden.

Für diesen Beitrag ist zu konstatieren, dass sich die Landesverbände Braunschweig und Oldenburg, als bundesweite Unikate, formell nur in geringem Maße von den hannoverschen Bezirksverbänden unterscheiden. In einer Partei wie der CDU, die Informalität und Regionalproporz organisatorisch geradezu kultiviert hat, ergeben sich jedoch Möglichkeiten der innerparteilichen Wirksamkeit in einer Sphäre zwischen den formalen Gremien – über Kontakte, über Selbstdarstellung und Prestigehierarchien. Das dem zugrundeliegende traditionsbasierte Selbstbewusstsein und die Tatsache, dass es in Niedersachsen seit Jahrzehnten keine ernstzunehmenden Bestrebungen in Richtung einer Zentralisierung gibt, dürfte einem langfristigen Fortbestand dieser spezifischen Landesstrukturen in Niedersachsen entgegenkommen.

„Ich würd das nicht aufgeben. Wenn wir dadurch 100.000 Euro sparen würden, dann müssten wir vielleicht mal drüber nachdenken. Aber ich glaube, wenn wir vom Landesverband Braunschweig zum Bezirksverband Braunschweig würden, dann würden wir keine 10.000 Euro sparen. So, und was soll's denn. Wir haben die Kontakte Richtung Berlin, ist vielleicht 'ne andere Wahrnehmung, hat ein bisschen was mit … Statussymbol will ich jetzt gar nicht mal sagen. [...] Aber ich glaube das ist schon ganz gut. Und warum etwas aufgeben, was einem eher nützt, als schadet. […] Da gilt ja dieser alte Grundsatz: Was stört's den Eich-baum, wenn sich die Sau dran scheuert. Ohne unser Einverständnis geht das nicht und dieses Einverständnis wird's nicht geben. Also das ist im Augenblick zumindest bei uns Konsens.“ (CDU BS)

 
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