Bildungspolitische Dokumente zum lebenslangen Lernen auf internationaler, europäischer und nationaler Ebene

Vier internationale Organisationen haben durch Berichte, Studien und Empfehlungen seit den frühen 1970er Jahren den Begriff des lebenslangen Lernens auf bildungspolitischer Ebene stark geprägt. Es handelt sich dabei um die UNESCO (United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization), die OECD (Organization for Economic, Cooperation and Development), den Europarat und die Europäische Union. [1]

Hintergrund für die in den 1970er Jahren einsetzende Fokussierung der internationalen Diskussion auf die Notwendigkeit der Entwicklung neuer Bildungskonzepte und Leitideen ist die von Philip H. Coombs Ende der 1960er Jahre veröffentlichte Analyse einer Weltbildungskrise (vgl. Gerlach 2000: 1425). Neben der Auseinandersetzung mit Ursachen [2] einer weltweiten Bildungskrise sowie der Formulierung von Zielen [3] und Lösungsansätzen [4] zu deren Bewältigung, fordert Coombs in seinen Explikationen eine notwendige Bearbeitung der Krise im Kontext einer internationalen Zusammenarbeit.

Für die o. a. Organisationen besteht der Konsens, dass das lebenslange Lernen die Basis der zukünftigen Bildungssysteme darstellt. Zur Umsetzung des lebenslangen Lernens in der individuellen Biografie wurden vor allem in den 1970er und 1990er Jahren unterschiedliche Bildungsstrategien entworfen. Dabei ist deren inhaltliche Ausprägung von dem jeweiligen Wertesystem und politischen Orientierungen der Organisation abhängig.

Die 1971 vom Europarat und dem Rat für kulturelle Zusammenarbeit veröffentlichte Publikation „Permanent Education. Fundamentals for an Integrated Educational Policy.“ [5] stellt die Kernelemente der europäischen Bildungsstrategie zur Umsetzung des lebenslangen Lernens in den 1970er Jahren vor. Selbstverantwortung, Selbstbildung und persönliche Entfaltung verkörpern die Ziele der Permanent Education. Diese sollen erreicht werden durch ein flexibles Bildungssystem, das gekennzeichnet ist durch modularisierte Lerneinheiten, selbstbestimmte Einteilung der Lernzeiten, Auswahl an möglichst breitgefächerten, diversifizierten Lernangeboten und offenem Zugang zu diesen. Die bestehenden Institutionen sollen nicht abgeschafft, sondern zur Erreichung der notwendigen Flexibilität reformiert werden. Die Neuorganisation des Bildungssystems soll an den Prinzipien der Chancengleichheit, Demokratie und Transparenz erfolgen (vgl. Kraus 2001: 59-65).

Als das Auftaktdokument der bildungspolitischen Diskussion zum lebenslangen Lernen wird allerdings der Faure-Report [6] der UNESCO deklariert (vgl. Dohmen 1996: 15; Gerlach 2000: 14). Das im Faure-Report angestrebte gesellschaftliche Modell ist das der Lerngesellschaft. Ihre Basis ist die Education permanente, die für jedes Individuum Lernen während der gesamten Lebensspanne und in allen Lebensbereichen ermöglicht (vgl. Faure et al. 1973: 246). Neben der vorschulischen und schulischen Erziehung ist die Erwachsenenbildung ein wesentlicher Bestandteil des lebenslangen Lernens. [7] Nicht nur die Vermittlung von formaler Ausbildung, sondern ebenfalls die Vorbereitung auf die das Leben betreffenden Kompetenzen und Fähigkeiten sind Aufgaben des zukünftigen Erziehungsund Bildungssystems. Selbstgesteuertes sowie non-formales und informelles Lernen gewinnen als wichtige Prinzipien zur Umsetzung des lebenslangen Lernens an Bedeutung.

Impulsgebende Strategie der OECD in den 1970er Jahren ist die Recurrent Education [8]. Nukleus dieser Bildungsstrategie ist das Alternieren von organisierten Bildungsphasen mit anderen Lebensphasen [9] während der gesamten Lebensspanne (vgl. Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder der Bundesrepublik Deutschland 1974: 21). Die Recurrent Education bezieht sich hauptsächlich auf die der Pflichtschulphase nachgelagerten Bereiche der Ausbildung und Weiterbildung und involviert formale und informelle Lernprozesse. In organisierten Lernphasen soll das Individuum die Möglichkeit zur Reflexion, Systematisierung und Erweiterung von in informellen Lernprozessen erworbenen Lernerfahrungen erhalten.

Während in den 1980er Jahren die internationale bildungspolitische Diskussion über das lebenslange Lernen abebbt, erfährt sie ab Mitte der 1990er Jahre einen neuen Aufschwung, gekennzeichnet durch „eine Aufbruchstimmung im Hinblick auf die kommende Jahrtausendwende“ (Gerlach 2000: 101). Beim Vergleich der Dokumente aus den 1970er und den 1990er Jahren ist eine inhaltliche Umorientierung zu konstatieren: Während in den 70er Jahren Strategien zur Realisierung des lebenslangen Lernens erarbeitet werden, so wird in den 1990er Jahren lebenslanges Lernen selbst zu einer omnipotenten Bildungsstrategie und einem omnipotenten Bildungskonzept deklariert.

1996 veröffentlicht die OECD die Studie „Lifelong Learning for All“. Lebenslanges Lernen wird nun als ein das ganze Leben umspannendes Lernen betrachtet. Recurrent Education, wie sie die OECD in den 70er Jahren als Bildungsstrategie angestrebt hat, wird nur noch „in angepasster Form, lediglich als eine Möglichkeit der Rückkehr zu formaler Bildung klassifiziert“ (Gerlach 2000: 107). Persönlichkeitsentwicklung, sozialer Zusammenhalt sowie Wirtschaftswachstum sollen unter Berücksichtigung der Prinzipien wie Transparenz, Durchlässigkeit, Zusammenarbeit, Flexibilität, Kohärenz und Chancengleichheit erzielt werden. Im Gegensatz zur Recurrent Education gewinnt die vorschulische und schulische Erziehung als grundlagenschaffende Bildungsbereiche an Bedeutung. Selbstgesteuertes Lernen mit konventionellen, vor allem aber mit neuen Medien wird zum grundlegenden methodischen Prinzip.

Ein wichtiges EU-Dokument stellt das „Memorandum über Lebenslanges Lernen“ dar, das von der Kommission der Europäischen Gemeinschaft im Jahr 2000 veröffentlicht wurde und handlungsleitend für das in 2001 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung publizierte Aktionsprogramm „Lebensbegleitendes Lernen für alle“ ist. Ein erster deutscher bildungspolitischer Beitrag zum lebenslangen Lernen erfolgt 1996 von Günther Dohmen im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung, Forschung und Technologie mit dem Titel „Das lebenslange Lernen. Leitlinien einer modernen Bildungspolitik“. Ein aktuelles nationales bildungspolitisches Dokument ist die Publikation der BundLänder-Kommission „Strategie für lebenslanges Lernen in der Bundesrepublik Deutschland“ aus dem Jahr 2004. Die in diesem Dokument dargestellte Strategie orientiert sich sowohl an den Lebensphasen des Menschen als auch an Entwicklungsschwerpunkten für lebenslanges Lernen.

  • [1] Überblick über die wichtigsten bildungspolitischen Dokumente (vgl. dazu Kraus 2001): Europäische Beiträge: Europarat: „Permanent Education. Fundamentals for an Integrated Educational Policy”(1971); Europäische Union: „Lehren und Lernen. Auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft“ (Weißbuch 1995). Beiträge der UNESCO: Faure-Report: „Wie wir leben lernen“ (1972); Delors-Report: „Lernfähigkeit: Unser verborgener Reichtum“ (1996). Beiträge der OECD: “Recurrent Education“ (1973); “Lifelong Learning for All“ (1996).
  • [2] Coombs (1969) expliziert vier Faktoren als Hauptursachen der Weltbildungskrise: quantitativ höhere Bildungsnachfrage, Ressourcenknappheit (finanziell, personell), Trägheit der Bildungssysteme (Unfähigkeit der Bildungssysteme Bildungsnachfrage zu decken) sowie Trägheit der Gesellschaft (starre Wertsysteme und soziale Statusvorstellungen bezüglich Bildungswege und Qualifizierungen).
  • [3] Als Ziele werden benannt: allgemeine Grundschulpflicht, allgemeine Befähigung zum Lesen und Schreiben, gleiche Bildungschancen für Frauen, Steigerung des Sekundarund Hochschulbesuchs und ausgedehntere Erwachsenenbildung (vgl. Coombs 1969: 117).
  • [4] Lösungsansätze werden in Technologie, Forschung und Innovation gesehen (vgl. Coombs 1969: 129-138).
  • [5] Der vollständige Titel lautet: Council of Europe/Council for Cultural Co-Operation/committee for out-of-school-education: Permanent Education. Fundamentals for an integrated Educational Policy. Studies on permanent Education, no 21/1991. Strassbourg
  • [6] Zur Erstellung des Berichtes wurde eine Kommission gegründet, deren Vorsitzender Edgar Faure war. Unter seinem Namen wurde der Bericht bekannt. Der Bericht wurde 1972 veröffentlicht. 1973 erschien die deutsche Ausgabe
  • [7] Die Erwachsenenbildung erhält durch den Faure-Report eine bildungspolitische Aufwertung (vgl. Gerlach 2000: 52).
  • [8] Originaltitel des Dokuments: OECD/Centre for Educational Research and Innovation (CERI): Recurrent Education: A Strategie for Lifelong Learning. OECD: Paris 1973. In Deutschland er schien die Publikation unter dem Titel: Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Ausbildung und Praxis im periodischen Wechsel (Recurrent Education), 1974
  • [9] Zu den Lebensphasen werden Berufstätigkeit, Arbeitslosenphase, Freizeit und Ruhestand gezählt, wobei der Fokus auf der Phase der Berufstätigkeit liegt
 
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