Die kommunale Ebene in Niedersachsen
Hiltrud Naßmacher
Mancher, der die Entwicklungen in den Kommunen interessiert verfolgt, wird sich die Frage stellen, ob angesichts der allseits bekannten prekären Finanzlage vieler Kommunen Entscheidungen vor Ort überhaupt noch möglich sind. Kommunalpolitiker sehen sich zuweilen nur noch als verlängerter Arm von Entscheidungen, die auf der Landes-, Bundesund europäischen Ebene getroffen wurden. Diese auch von Bürgern häufig vertretene Sichtweise ist allerdings viel zu oberflächlich. Kontroversen darüber, wie die langfristigen Weichenstellungen für Entwicklungen vor Ort ausfallen sollen, sind auch in den Kommunen auszutragen und zu entscheiden. Nur dadurch erhält die Demokratie Bodenhaftung.
Reichweite von Kommunalpolitik
Der Anspruch von Kommunalpolitik, nämlich dass Kreise, Städte, Gemeinden und Ortschaften alle verbindlichen Entscheidungen für die örtliche Gemeinschaft aktiv mitgestalten sollen, ist weitreichend und verlangt eine Konkretisierung. Es erscheint selbstverständlich, dass kommunale Entscheidungen sich innerhalb des gegebenen Mehrebenensystems vollziehen, also nicht unabhängig sind von Entscheidungen, die auf der Kreis-, Landes-, Bundesund europäischen Ebene getroffen werden. Das Problem der Aufgabenverteilung und damit der Verantwortungsbereiche im Einzelnen stellt sich allerdings immer neu. Denn den Kommunen ist weder ein fester Aufgabenbestand noch eine auf Dauer verbindliche Abgrenzung des Gemeindegebietes garantiert.
Die Aufgaben einer Großstadt bzw. kreisfreien Stadt (in Niedersachsen Hannover [509.485 EW], Braunschweig [243.829 EW], Oldenburg [157.706 EW], Osnabrück [154.513 EW], Wolfsburg [120.889 EW], Göttingen1 [116.052 EW], Salzgitter [98.895 EW], Wilhelmshaven [76.926 EW], Delmenhorst [73.364 EW] und Emden [49.848 EW]2) sind natürlich umfassender als die von kreisangehörigen Gemeinden. Dazwischen gibt es noch die großen selbstständigen Städte Celle, Cuxhaven, Goslar, Hameln, Hildesheim, Lingen (Ems) und Lüneburg.3 Bei der Zuordnung spielte nicht nur die Einwohnerzahl eine Rolle. Sie erfolgte vielmehr, um die Auswirkungen der Gebietsreform aus den 1970er Jahren abzumildern. Große selbstständige Städte waren vorher kreisfreie Städte bzw. Kreisstädte. In den großen selbstständigen Städten und in den 37 Landkreisen werden zwangsläufig viele Aufgaben gemeinsam für die zugehörigen Gemeinden erledigt. Eine Besonderheit für Niedersachsen unterhalb der Kreisebene ist, dass es Samtgemeinden4 und Einheitsgemeinden5 gibt: Von den 991 Gemeinden sind 703 Mitgliedsgemeinden in 126 Samtgemeinden mit einer Einwohnerzahl von 3.000 bis unter 50.000 Einwohnern und 288 sind in Einheitsgemeinden (mit Einwohnern von unter 1.000 bis unter 50.000) zusammengefasst. Darüber hinaus ist die Region Hannover als kommunale Körperschaft eine weitere Besonderheit.6 Da sich sowohl kreisfreie Städte als auch Landkreise in ihren Einwohnerzahlen sehr stark unterscheiden, spricht Hesse von „einer diskussionswürdigen ‚Spreizung'“.7
Dies hängt aber auch mit der Verteilung der Siedlungsschwerpunkte im Land und politischen Entscheidungen zusammen. Seit der Gebietsreform der 1970er Jahre sind nur wenige Gebietsveränderungen vorgenommen worden. Bis 2011 sollten weitere freiwillig zur Verbesserung der Verwaltungskraft erfolgen. Die Empfehlung, die Samtgemeinden im Rahmen der Verwaltungsreform auf freiwilliger Basis in Einheitsgemeinden umzuwandeln, wurde gar nicht vollzogen.8 Göttingen fühlt sich aufgrund seines Entwicklungspotenzials als Universitätsstadt durch die Kreispolitik gehemmt.9 Bemühungen von Braunschweig her, eine Region nach dem Vorbild der Region Hannover10 zu schaffen, bleiben schwierig.11 Hier gibt es einen Zweckverband als Träger der Regionalplanung und als Aufgabenträger für den öffentlichen Nahverkehr.12 Mit besonderen Problemen sind Veränderungen der Gemeindegrenzen und damit Vereinigungen von bisher selbstständigen Gemeinden und kleineren Städten verbunden. Sie zogen häufig jahrelange Konflikte nach sich, die zuweilen vor Gericht ausgetragen wurden und die teilweise noch nach Jahrzehnten nachwirken.
Mit den aktuellen wirtschaftlichen Schwerpunkten sind zugleich Aufgaben und Entwicklungspotenziale für die Kommunen benannt. Hier ergeben sich eher ländliche Bereiche (Ostfriesland, Emsland, Oldenburger Münsterland, Altes Land, Lüneburger Umland), die noch immer stark landwirtschaftlich geprägt sind, hohe Umsatzzuwächse in der Nahrungsmittelindustrie erwirtschaften, aber teilweise durch Düngemittel und intensive Massentierhaltung eine erhebliche Nitratbelastung des Grundwassers verursachen. Erst neuerdings kommt die Fleischindustrie durch Umweltschutzauflagen13 sowie Kritik an der Tierhaltung und verändertes Ernährungsverhalten der Bevölkerung stärker unter Druck. Industrieregionen mit Eisenund Stahlindustrie waren traditionell um Osnabrück und Salzgitter/Peine sowie mit Schiffbau um Wilhelmshaven und Emden zu finden. Arbeitsplatzverluste ergaben sich durch Rationalisierungen und im Gefolge der Stahlund Werftenkrise. Heute sind die zukunftsträchtigen Industriezweige wie die elektrotechnische und die chemische Branche, der Maschinenbau und der IT-Bereich in Niedersachsen stark auf die Automobilindustrie (Wolfsburg, Hannover, Emden) ausgerichtet. Letztere erwirtschaftet im Verhältnis zum Beschäftigtenanteil einen überproportionalen Anteil an der Bruttowertschöpfung. „Über die Hälfte der niedersächsischen Industrieforschungskapazitäten ist im Automobilbau zu finden“14, bei Hinzunahme der damit verbundenen Branchen sind es sogar siebzig Prozent. Die Automobilindustrie ist auch vor allem für die positiven Zahlen im Export verantwortlich. Einen weiteren wichtigen zukünftigen Wachstumsbereich könnte der Dienstleistungssektor mit Handel sowie Freizeit bieten, wobei sich die Hoffnungen auf den neuen einzigen tideunabhängigen Tiefwasserhafen in Deutschland, den Jade-Weser-Port in Wilhelmshaven, sowie die nordseenahen und mittelgebirgsnahen Städte und Gemeinden richten.
Weitere Entwicklungspotenziale ergeben sich durch die Lage der Stadt oder Gemeinde im Raum. So sind sie durch die Raumordnung als Ober-, Mittelund Unterzentrum qualifiziert, wobei in Niedersachsen die Städte Braunschweig, Celle, Göttingen, Hannover, Hildesheim, Lüneburg, Oldenburg, Osnabrück, Salzgitter, Wilhelmshaven und Wolfsburg als Oberzentren eingestuft sind. Mittelzentren sind Delmenhorst, Emden, Hameln, Langenhagen, Lingen (Ems), Nordhorn und Wolfenbüttel. Die Räume Braunschweig-WolfsburgSalzgitter sowie Hannover ragen als prägende Verdichtungsräume heraus. Die Nähe zu ersterem hat Celle ebenfalls den Status eines Oberzentrums gebracht. Nahe beieinanderliegende Mittelzentren erfüllen oberzentrale Teilfunktionen15, d.h. sie nehmen Aufgaben der höheren Bedarfsdeckung bei Arbeitsplatzangeboten und der Versorgung mit Waren, Dienstleistungen und Bildungsangeboten wahr. Eine gleichmäßigere Leistungserbringung könnte nach Einschätzung von Hesse durch Gebietsreformen noch weiter vorangebracht werden.
Auch die Einbindung der Gebietskörperschaften in die Verwaltungsstruktur des Landes – durch Aufsichtsbehörden und Sonderbehörden – spielt beim Wahrnehmen von Aufgaben eine Rolle. Ungeachtet der rechtlichen Eigenständigkeit unterliegen die Kommunen der Aufsicht des Staates, die für kreisfreie und große selbstständige Städte vom Innenministerium des Landes (Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport), für die kreisangehörigen Gemeinden von den Landkreisen als Kommunalaufsichtsbehörden wahrgenommen wird. Bei der Aufgabenerledigung der Kommunen gibt es die Rechtsaufsicht bei Selbstverwaltungsangelegenheiten, bei der Erledigung von staatlichen Aufgaben (z.B. Durchführung von Wahlen aller Ebenen, Einwohnermeldewesen) die Fachaufsicht. Das Ministerium konkretisiert diese Aufgaben folgendermaßen: „In der Praxis bedeutet Kommunalaufsicht vor allem Beratung im Vorfeld kommunaler Entscheidungen. Dabei ist zu beachten, dass die Aufsicht so gehandhabt werden soll, dass die Entschlusskraft und Verantwortungsfreude der Kommunen nicht beeinträchtigt werden.“16
In Niedersachsen hat es mit der Zielvorstellung der Verwaltungsmodernisierung mehrfach Veränderungen bei nachgeordneten Behörden des Innenministeriums (den Mittelbehörden) gegeben. So wurden die Bezirksregierungen von der CDU/FDP-Regierung ab 2003 abgeschafft und durch Regierungsvertretungen ersetzt.17 Die rot-grüne Landesregierung hat die Regierungsvertretungen aufgelöst und mit Wirkung vom 1. Januar 2014 Landesbeauftragte für regionale Landesentwicklung eingesetzt, die in Braunschweig, Hildesheim, Lüneburg und Oldenburg ihren Sitz haben.18 Ihnen soll ein regionaler Steue- rungsausschuss beigegeben werden, zusammengesetzt aus (Ober-)Bürgermeistern und Landräten aus der Region.19 Hier geht es im Wesentlichen um den Zugriff auf die Förderprogramme der EU, z.B. EFRE (Europäischer Fonds für regionale Entwicklung) und ESF (Europäischer Sozialfonds).
Durch die Reform der Landesverwaltung soll auch die interkommunale Zusammenarbeit vorangebracht werden mit dem Ziel der Weiterentwicklung der Metropolregionen. Hier ist vor allem der Ballungsraum Hannover mit Braunschweig, Göttingen und Wolfsburg im Blick. Aber auch über die Landesgrenzen hinweg geht es um eine Verbesserung der Kooperation, z.B. mit Hamburg (Metropolregion Hamburg), Mecklenburg-Vorpommern, Bremen (Metropolregion Bremen-Oldenburg), den Städten und Gemeinden der Küstenregion und den Niederlanden. Dazu regte auch das Nordseeprogramm INTERREG IV B der EU an.20 Manche Regionen wählen aber auch individuelle Grenzen, z.B. die Jade-Region.