Interessengruppen in Niedersachsen1

Ralf Kleinfeld

Interesse – Interessengruppe – Interessenverband

Während „Interesse“ ein sehr weiter Begriff ist und mit keiner bestimmten sozialen Organisationsform zusammenfällt2, zielt der Begriff „Interessengruppe“ auf diejenigen natürlichen oder juristischen Personen ab, die ein gemeinsames Interesse teilen und sich organisieren, um dieses Interesse zu schützen oder zu fördern. „Interessenverbände“ stellen eine wichtige und in Deutschland historisch dominante Organisationsform von Interessengruppen auf überlokaler Ebene dar, die insbesondere mit Lobbying in Verbindung gebracht werden.3

Verbände sind (zumeist) auf freiwilliger Mitgliedschaft basierende (Abgrenzung zu Kammern), nicht primär gewinnorientiert ausgerichtete (Abgrenzung zu Wirtschaftsunternehmen), nicht staatlich-verfasste (Abgrenzung zu staatlichen Einrichtungen), relativ dauerhafte Organisationsgebilde (Abgrenzung zu informellen Gruppen). Die meisten Verbände sind mehrstufige Organisationen und verfügen über einen überörtlichen Wirkungskreis (Abgrenzung gegenüber Vereinen). Formentypisch können Spitzenund Dachverbände, Landes-, Kreisund Ortsverbände sowie Fachverbände unterschieden werden. Verbände wirken als Organisator, Sprachrohr, Verteidiger und Übersetzer von individuel-len, organisationsund gruppenbezogenen Interessen (materielle oder ideelle Bedürfnisse, Werte, Normen und Nutzenkalküle). Dies gilt vor allem für den Transport und die Vermittlung der so definierten und organisierten Interessen ins politische System. Aktivitäten von Interessenverbänden sind entweder auf die eigene Gruppe bezogen oder beziehen sich auf die advokatorische Vertretung von Fremdinteressen (public interests). Die meisten Verbände nehmen gleichzeitig auch nach innen gerichtete Dienstleistungsund Weiterbildungsfunktionen für ihre Mitglieder bzw. Klientel wahr. Wo Verbände öffentlichen Status erlangen oder öffentliche Fördermittel in Anspruch nehmen, richtet sich ihre Tätigkeit auch an Nicht-Mitglieder und an die allgemeine Öffentlichkeit.4

Interessenvermittlung – Modi von Interessenvermittlung

Interessenvertretung und Interessenvermittlung (politische Funktion), Kommunikation und Koordination (sozio-kulturelle Funktion) sowie Dienstleistungserstellung (ökonomische Funktion) bilden zusammengenommen das Funktionsspektrum von Interessenverbänden.5 Da Individuen, organisierte Gruppen, Unternehmen und politisch-staatliche Institutionen immer mehr Bedürfnisse, Erwartungen, Hoffnungen und Interessen haben, als durch Politik verwirklicht, befriedigt und berücksichtigt werden können, sind Auswahlverfahren nötig, die zwischen verschiedenen Interessen eine Abstimmung leisten. Der Einfluss von Interessenverbänden auf die Handlungsmöglichkeiten einer Regierung zielt daher entweder auf Einflussnahme oder auf Unterstützungsleistungen.

Auch auf Landesebene findet sich häufig eine vom Bund her bekannte Exekutivdominanz mit den Landesregierungen als zentrale Koordinatoren in Verhandlungen zwischen Bund und Ländern sowie in Verhandlungen und Konsultationen mit organisierten Interessen und Wirtschaftsunternehmen (in Form „Runder Tische“, „Konzertierter Aktionen“ oder Expertengremien). Eine der seltenen Studien zur Interessenvermittlung auf Landesebene zeigte, dass die meisten Verbände einen bundesweiten Aktionsradius besitzen, aber bspw. in Nordrhein-Westfalen nur knapp dreißig Prozent eine territoriale Binnengliederung hatten, deren Grenzen häufig dem föderal-politischen Aufbau entsprachen.6

Um den Einfluss von Interessengruppen auf Landesregierungen zu beschreiben, zählt Schiffers vier Indikatoren auf: Interessenkoalitionen bzw. -gegensätze, steuerungstheore-tische Überlegungen, Reduktion von Unsicherheit und begrenzende Gegenleistungen.7 Neben klassischen oder modernen Formen von Lobbying finden sich verschiedene Formen von neokorporatistischen Arrangements sowie flexiblere Formen der Zusammenarbeit in Form von Pakten und Bündnissen. Diskretere Formen der Zusammenarbeit von Vertretern von Interessengruppen und staatlich-politischen Akteuren entziehen sich eher der Beobachtung von Öffentlichkeit und Wissenschaft und bedürfen meist einer vorherigen Skandalisierung, um publik zu werden. Klassische „tripartistische“ Verhandlungssysteme zwischen Staat, Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden entsprechen der verhandlungsdemokratischen Tradition in Westdeutschland. Derartige politikfeldspezifische und institutionalisierte Konzertierungsgremien finden sich in der Arbeits-, Lohnund Sozialpolitik, jedoch meist nicht in der Wirtschaftspolitik. Hier gibt es Formen des „kooperativen Staats“, also bidirektionale Interaktionen zwischen Staat und Unternehmen, sowie vor allem eine prominente Rolle der Kammern, meist unter Ausschluss der Gewerkschaften und Verbraucher.

 
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