Niedersachsen im Bund
Die oft verwendete Bezeichnung Zentralund Gliedstaat für das föderale System der Bundesrepublik ist eigentlich nicht ganz passend,7 da der Bund nicht das Zentrum der Republik bildet, sondern den Gesamtstaat verkörpert. Insofern ist es eher angebracht, hier von Gesamtund Gliedstaat zu reden. Dies hat vor allem im Hinblick auf die lange Tradition des Föderalismus in Deutschland seine Berechtigung, denn die Betonung des Föderalsystems im Grundgesetz folgt nicht einfach einer Gebrauchsanweisung der west-lichen Siegermächte nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern bedingt sich auch in der Verwaltungsgeschichte der deutschen Territorialsysteme durch den Rückblick auf das 19. Wie 18. Jahrhundert. Niedersachsen ist in dieser Hinsicht historisch betrachtet zwar kein absolutes Bindestrichland wie Nordrhein-Westfalen oder Baden-Württemberg, erweist sich aber dennoch durch eine Trias von strukturellen Faktoren als sehr ausdifferenziert:
a) In Bezug auf regionale Identitäten.
b) Hinsichtlich der topografischen Diversität.
c) Mit einem ausgesprochenen Stadt-Land-Gegensatz.
Was die politischen Gestaltungsmöglichkeiten des Landes im Bund, hier vor allem im Bundesrat, betrifft, so hängt die Bewertung nicht unwesentlich davon ab, wie man das Föderalsystem in seiner bisherigen Entwicklung gegenüber dem Ausgangspunkt im Grundgesetz in der Faktorenanalyse modelliert. Vor dem Hintergrund der Debatten über einen Kooperativen Föderalismus oder einen Konkurrenzföderalismus, der sich durch Wettbewerb unter den Ländern auszeichnet, und angesichts der strukturell immensen Zunahme an Politikverflechtung zwischen Bund und den Ländern, die ursprünglich im Grundgesetz so gar nicht angelegt war, ist schon die Frage berechtigt, was ein einzelnes Land (wie Niedersachsen) hier tatsächlich originär noch erreichen kann, wenn ansonsten vielfach Erscheinungsformen eines verkappten Einheitsstaates zu konstatieren sind.8 Insbesondere über das Modell der Misch.ftnanzierung hat sich der Bund historisch generiert in eine Vielzahl von Politikfeldern in den Ländern eingebracht und sitzt eigentlich immer mit am Tisch der regionalen Interessenslage.9 Zweifellos haben die Länder im Bereich der Exekutive ihre Sachverwaltungskompetenz behalten,10 aber diese nützt im Grunde wenig, wenn ihnen dafür nicht die entsprechenden finanziellen Mittel hinsichtlich der ihnen übertragenen Bundesaufgaben in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen. Die viel gepriesene Kulturund Polizeihoheit der Länder stößt da strukturell in der Gegenwart schnell an ihre Leistungsgrenzen und erscheint im Übrigen im Hinblick auf Europa mitunter sektiererisch.11
Von den insgesamt 69 Stimmen im Bundesrat hat Niedersachsen zwar den gleichen Stimmenanteil wie Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen, gehört damit zu den großen vier Ländern (mit jeweils sechs Stimmen),12 kann sich aber hier nur bedingt mit diesen messen. Dafür ist die Population mit knapp unter acht Mio. Einwohnern zu klein. Allein NRW verfügt hier schon mit fast 18 Mio. Einwohnern über eine größere Repräsentationsmacht als so mancher Nationalstaat in der EU! Auch was die wirtschaftliche Stärke anbelangt, ist Niedersachsen unter den vier großen Ländern hier der kleinste Anbieter. Bayern hat eine deutlich höhere Wirtschaftskraft, die über dem Bundesdurchschnitt und damit auch signifikant über dem EU-Durchschnitt liegt.13 Davon ist Niedersachsen weit entfernt, auch wenn hier mit der Volkswagen AG ein bedeutender Global Player in der Region angesiedelt ist.14 Allerdings hat Niedersachsen eine Besonderheit im Bund, verfügt doch dieses Bundesland über mehr nachbarschaftliche Grenzen zu anderen Ländern in Deutschland als jedes andere Land.15
Was den Stimmenanteil betrifft, so sieht dieser nur in der Ländertabelle zunächst imposant aus: Tatsächlich reichen die vier großen Länder allein für sich nicht aus, um Gesetzesinitiativen durchzubringen. Bei insgesamt 69 Stimmen im Bundesrat sind Allianzen zwischen den Ländern von vornherein notwendig. Ein einzelner Flächenstaat für sich betrachtet macht daher noch keine Politik im Bund. Insofern ist die Entscheidungsmacht im Bundesrat abhängig von drei Konstellationen: a) der Struktur der sog. A-Länder (sozialdemokratisch geführt) gegenüber den B-Ländern (unionsregiert), b) der Frage von Koalitionsregierungen in den Ländern, welche die strategische Option der jeweiligen Partei in der Regierungsverantwortung insgesamt einschränkt, und schließlich c) der systemischen Situation gegenüber dem Bund in der zu verhandelnden Sachfrage, die durchaus parteipolitisch übergreifend anders gesehen werden kann als auf der Bundesebene bzw. im Deutschen Bundestag. Länderinteressen sind zwar von Parteiinteressen okkupiert, bleiben aber trotzdem Länderinteressen, im Grundsatz strukturell verschieden von der Bundes- politik. Das hat der Verfassungsgeber durchaus gewollt. Insofern herrscht hier strukturell eine asymmetrische Konstellation zwischen den Ländern und dem Bund vor.
Die jeweilige Sachlage ist vor allem von einer gewissen Dynamik getragen, da die Länderinteressen nicht stabil bleiben, sondern durch die Wahlrhythmen, die gegenüber der Bundestagswahl einem anderen Zyklus folgen, immer wieder zu veränderten Ausgangsoptionen tendieren. Dies gilt besonders dann, wenn, wie dies in den letzten zwei Jahrzehnten fast schon der Normalzustand ist, das jeweilige Land von einer Koalition zwischen zwei oder gar drei Parteien regiert wird. Auch in Niedersachsen ist dies eigentlich der Normalfall: (Nur) dreimal konnte die SPD die absolute Mehrheit für eine Alleinregierung erreichen (unter Alfred Kubel 1970–1974 und Gerhard Schröder 1994–1998 sowie mit Gerhard Glogowski 1998–1999 bzw. Sigmar Gabriel 1999–2003) und zweimal die CDU (unter Ernst Albrecht 1978–1982 und 1982–1986).
Für Koalitionsregierungen gilt, dass sie in den Sitzungen des Bundesrats nur dann mit einer (gemeinsamen) Stimme sprechen können, wenn sich die Koalitionsparteien in der Sache auch wirklich einig sind. Sofern dies nicht der Fall ist, was im Koalitionsvertrag zu regeln ist, kommt keine Stimme zustande.16 Das Land bleibt dann neutral in der Abstimmung.
Seit Bestehen des Bundesrats (1949) hat Niedersachsen bisher sechsmal den vorsitzführenden Präsidenten im Turnus gestellt.17 Eigene Gesetzesinitiativen hat Niedersachsen im Bundesrat mit einer Quote über dem Durchschnitt eingebracht: Mit fünfzig eigenen Anträgen in den Jahren 1972 bis 2005 liegt man zwar nicht im Spitzenfeld von BadenWürttemberg und Bayern, setzt sich aber auch deutlich von den meisten anderen Ländern im Bund hier ab.18 Administrativ betrachtet gibt es für das Bundesland keine Besonderheit in der Wahrnehmung seiner Interessen im Bund: Wie bei den anderen Ländern auch ist die Berliner Vertretung von Niedersachsen für die Fragen der Bundespolitik direkt bei der Staatskanzlei in Hannover angesiedelt.