Niedersachsen im europäischen Mehrebenensystem

Die Mehrebenendimension der Europäischen Politik kommt eigentlich den föderalen Gebietskörperschaften entgegen. Die Frage ist nur, nutzen sie dies auch und wenn ja, auf welche Weise? Die Politik in einem Mehrebenensystem ist schwerpunktmäßig nicht normativ orientiert, sondern funktional,19 d.h. es geht um Geldleistungen und Arrangements, die jeweils auf einer anderen Ebene austariert werden können. Was tut ein Land wie Niedersachsen, dass es in der vernetzten Struktur der Mehrebenenpolitik eigenständig bleibt als politischer Akteur, dass Initiativkompetenzen erhalten bleiben und Projekte auf EU-Förderebene nicht einfach nur abgerufen werden, weil es Geld dazu gibt, sondern weil es sich um ernsthafte Belange des Landes handelt?20 Droht nicht auch Niedersachsen wie den anderen Bundesländern insgesamt mehr oder weniger eine Art Provinzstatus als untergeordnete subnationale Ebene,21 auf der nicht wirklich viel entschieden wird – und vor allem das meiste, was hier entschieden wird, lediglich im Nachgang als Vollzug der Dezisionen in Brüssel bzw. in Berlin zustande kommt?

Nach dem neuen Artikel 23 GG, der mit dem Maastrichter Vertrag 1993 zustande kam,22 werden die Länder bei Politikfeldern, die ihre spezifische Länderkompetenz betreffen, von einem Ländervertreter im Ministerrat der EU (statt dem Vertreter des Bundes) repräsentiert.23 Aber das bedeutet für das einzelne Bundesland zunächst einmal gar nichts. Auch der Ausschuss der Regionen (AdR) ist alles andere als eine wirkliche Alternative in der Wahrnehmung eigener länderspezifischer Interessen in Europa geworden.24 Anders als von deutscher Seite gedacht, kommt es hier zu einem sehr viel komplexeren Zusammenspiel höchst unterschiedlicher subnationaler Akteure, was zweifellos für die Dritte Ebene der EU interessant ist, doch den Stellenwert der Länder in Brüssel nicht ohne weiteres verbessert. Auch wenn sich die Hoffnungen der Länder auf eine bedeutsame Mitgestaltungsfunktion im AdR (hier waren ganz besonders die bayerischen Intentionen sehr hoch) nicht erfüllt haben,25 strukturell sogar eine Enttäuschung stattgefunden hat, darf man den AdR allerdings nicht abschreiben oder unterschätzen. Gerade ein so neues institutionelles Organ, das historisch keine Vorbilder hat,26 innerhalb der komplexen Gemengelage zwischen dem EU-Parlament, der Kommission und dem Ministerrat positioniert ist, von den diversen Lobbyisten ganz zu schweigen, benötigt eine Entwicklungsphase und dafür sind zwanzig Jahre noch nicht viel. Zudem sind bestimmte Informationsrechte und Kommunikationsabläufe (Anhörungsrecht zur Stellungnahme) hier signifikant installiert worden. Allerdings, und dies ist aus Sicht der deutschen Länder entscheidend: Ein Mitspracherecht existiert bis dato nicht. Von dem idealistischen Anspruch, so etwas wie eine Dritte Kammer in der EU zu sein, ist der AdR weit entfernt. Die deutschen Länderinteressen muss man hier als Regionalinteressen verstehen, was schon groteskerweise ausgerechnet aus deutscher Sicht zu einer Verschiebung der ursprünglichen Intention des AdR führt. Denn die Länder im Bund vertreten hier ihre Territorialinteressen als Teilstaaten des Gesamtstaates, sind im spezifischen Sinne damit mehr als (nur) Regionen. Die meisten Länder lassen sich ihrerseits nochmals hinsichtlich regionaler Interessensund Strukturlagen unterteilen. Das gilt ganz besonders auch für Niedersachsen mit einer teilweise historisch tief eingegrabenen Identität in regionale Teilräume (Ostfriesland, Oldenburger Münsterland, Emsland, Großraum Hannover, Harzer Bergland etc.). Wenn also unter den maximal 350 Vertretern im AdR für Niedersachsen ein Repräsentant sitzt,27 der im Verbund mit 23 anderen deutschen Repräsentanten, von denen fünf Sitze zwischen den Ländern rotieren und drei den kommunalen Spitzenverbänden vorbehalten bleiben, hier die niedersächsischen Interessen organisieren soll, zeigt schon die Gesamtrelation nach außen (auf der europäischen Ebene) als auch nach innen hin (innerhalb der regionalen Konstellation Niedersachsen), wie homöopathisch bzw. fiktional der Interessensanspruch hier gestaltet werden kann.28 Wenn überhaupt, dann handelt es sich hierbei um bestimmte (meist ideologisch bedingte) Zielvorstellungen aus der Staatskanzlei. Mit regionaler Interessensvertretung hat dies nichts zu tun.29 Auch wenn man mit den Repräsentanten aus anderen regionalen bis föderalen Staaten ähnliche Mitspieler im AdR hat, dies gilt für die Vertreter aus Österreich, Belgien, Finnland, Italien, Portugal, Spanien und Großbritannien, ist die Ausgangslage doch zu verschieden bzw. bleibt heterogen genug, von der Mehrheit der zentralistisch ausgerichteten Vertreter ganz abgesehen.

Spätestens an dieser Stelle zeigt sich denn auch, dass europäische Politik etwas anderes ist als die Fortsetzung der Interessenslagen aus der Bundesbzw. Landesperspektive. Während die Landesregierung in Form des Gouvernementalismus hier noch am ehesten mithalten kann, weil sie die Ressourcen, sprich Apparate, dafür bereitstellt, wenn sie es denn wirklich will, sind die Länderparlamente die eigentlichen Verlierer dieser Entwicklung. Weder von ihren internen Strukturen her, noch von ihrer Sachkompetenz können sie mit der dynamischen Entwicklung in Brüssel mithalten. Allein für die Informationsverarbeitung ist der jeweilige Europaausschuss des Landtages im Grunde in der temporären Perspektive ebenso überfordert wie der Ausschuss im Bundestag. Dafür rücken die Landesvertretungen als Netzwerkinstitutionen mehr in den Blickpunkt. Auch wenn sich ihre Tätigkeit der Öffentlichkeit nicht wirklich erschließt, sind sie jenseits der festlichen Events, die in Brüssel organisiert werden, und der Betreuung der Besuchergruppen vor Ort der entscheidende Mediator für die Interessensvermittlung an die Heimatzentrale der Landespolitik.

Im Grunde muss die Landespolitik sich mit der Perspektive auf Europa auch entgrenzen. Sie folgt damit der gleichen Logik wie der Nationalstaat, allerdings mit ganz anderen strukturellen Möglichkeiten und Ressourcen. Diese müssen aber nicht schlechter sein als die der nationalstaatlichen Politik. Zwar ist das eingesetzte Personal in der Europapolitik vom Volumen her oft kaum der Rede wert, doch ist die Interessenslage mitunter ebenso wichtig wie bei der nationalen Perspektive. Das ist von Bundesland zu Bundesland durchaus verschieden und hängt im Wesentlichen auch davon ab, ob ein Global Player bei den Wirtschaftsunternehmen im Land lokalisiert ist oder nicht. Im Falle Niedersachsens ist dies neben einer beachtlichen Reihe kleinund mittelständischer Unternehmen im agrarindustriellen Bereich vor allem der Volkswagen-Konzern. Hier wird das Land dann auch staatspolitisch in die Pflicht genommen, was speziell für Niedersachsen zu einem Sonderfall in den Beziehungen zur EU und den Institutionen im Mehrebenensystem geführt hat. Spätestens in den Wechselwirkungen zur Causa Volkswagen AG, die wegen der staatlichen Beteiligung des Landes Niedersachsen im Aufsichtsrat des Konzerns zu einer komplizierten juristischen Bewertung bis hin vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) geführt hat,30 wird auch deutlich, dass die regionale Komponente als ein dialek- tisches Äquivalent zur Globalisierung begriffen werden muss. Insofern kann man ohne Übertreibung konstatieren, dass die Regionalisierung der EU in ihrer internen Strategie zugunsten der Dritten Ebene jenseits des Nationalstaats auch zu einer wechselseitigen Europäisierung dieser Ebene geführt hat. Ob sich allerdings die Länder im Bund bisher darauf adäquat eingestellt haben, kann trotz fehlender tiefgreifender empirischer Studien hier zunächst einmal bezweifelt werden. Ausnahmen wie Bayern gibt es, Niedersachsen ist hier, auch wenn die Absatzmärkte für seine Wirtschaftsunternehmen vorrangig in der EUNachbarschaft (hier besonders zu den Niederlanden), aber auch zu den USA und China liegen,31 jedoch bei Weitem noch nicht sachgerecht genug aufgestellt worden – und zwar ganz unabhängig davon, welche Partei jeweils konkret die Regierungsverantwortung in Hannover gehabt hat.

Das liegt ganz offenkundig auch daran, dass eine parteipolitische Karriere über das Europaticket nur bedingt tauglich ist. Parteipolitiker müssen sich vorrangig für die Gegebenheiten ihres lokalen bzw. regionalen Wahlkreises interessieren, da sind Europathemen nicht wirklich zielleitend.32 Umgekehrt gilt dann aber auch, dass Europapolitiker bei der Wahrnehmung ihres Mandats im Europäischen Parlament (EP) meist (nur) darauf schau- en, welche regionalen Wirtschaftsinteressen sie denn hier bedienen können.33 Das hat Vorrang gegenüber den wirklich großen Fragen der europäischen Integrationspolitik. Ob man Fachmann oder Fachfrau für bestimmte Qualitätsstandards in einem Politikfeld wie der Transeuropäischen Verkehrsnetze oder für Korruptionsfragen im Rechtsausschuss zuständig ist, zählt beim heimischen Publikum herzlich wenig. Zu sehr ist der allgemeine Blick auf Europa geprägt von dem Bedürfnis, was bringt uns das?

Auch was den Stellenwert der Europainteressen des Landes im EU-Parlament betrifft, so sind es gerade einmal acht bis elf Parlamentarier(innen), die Niedersachsen hier im Durchschnitt in die bisherigen Legislaturperioden des EP erfolgreich in den Wettbewerb um die Mandate eingebracht hat. Bezogen auf die Gesamtzahl der Abgeordneten im EP sind dies je nach Legislaturperiode meist unter zwei Prozent! Werden diese Landesrepräsentanten dann auch tatsächlich speziell für Niedersachsen aktiv, wenn etwa nach Art. 5 Abs. 3 EUV des Lissabonner Vertrags die subsidiäre Qualität des Bundeslandes berührt wird von dem, was in Brüssel besprochen wird?34 Oder repräsentieren sie eher nur allgemein sich selbst und deutsche Interessenslagen auf europäischer Ebene, speziell vielleicht noch die der jeweiligen Partei oder aber tatsächlich die vor Ort in ihrer Region?

Die europäische Option dient meist nur dem Gelderwerb, also der Zielperspektive, möglichst viel bei den diversen Fördertöpfen herauszuholen für die eigene Klientel in der regionalen Wirtschaft bzw. für das Territorium symbolisch, denn für etwas muss Europa ja gut sein. Materielle, d.h. vor allem finanzielle Interessen bestimmen die Europapolitik der Länder. Gerade die Förderstruktur der Strukturfonds und die interregionale Vermittlung von Kompetenzen werden oft nur unter dem Aspekt einer Abbuchungsstelle für ansonsten unerreichbare Finanzpolster betrachtet, die man sich hier zum Ausgleich für Entsagungen durch den Bund eben von Europa holt.

 
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