Entwicklungslinien der Grounded Theory

Während die theoretische Sensibilität in der frühen Konzeption der Grounded Theory von 1967 von Glaser und Strauss noch nicht methodologisch reflektiert wurde, haben beide Wissenschaftler, unter besonderer Berücksichtigung der Rolle des theoretischen Vorwissens im Prozess der gegenstandsverankerten Theoriebildung, in den darauffolgenden Jahrzehnten die Grounded Theory weiterentwickelt. Dabei haben Glaser und Strauss unterschiedliche Wege eingeschlagen: Glaser stellte 1978 in seiner Arbeit “Theoretical Sensitivity“ das Konzept des theoretischen Kodierens und Strauss 1984 in seinem Buch “Qualitative Analysis for Social Scientist“ (später zusammen mit Juliet Corbin) das Kodierparadigma vor (vgl. Kelle 2007: 39).

Für Glaser (1978) stellt die durch die theoretische Sensibilität angeleitete Entdeckung von Verbindungen zwischen den generierten Kategorien das theoretische Kodieren dar, welches er von der gegenstandsbezogenen Kodierung abgrenzt. Während bei dem gegenstandsbezogenen Kodieren auf der Grundlage von empirischen Phänomenen gegenstandsbezogene Kategorien gebildet werden, werden beim theoretischen Kodieren die gegenstandsbezogenen Kategorien durch das Entdecken von Verbindungen zu theoretischen Modellen zusammengeführt. Die theoretischen Kodes bestehen aus einer Vielzahl von formalen Begriffen der Erkenntnistheorie und Soziologie, die Glaser in Form von theoretischen Kodierfamilien ordnet. Diese sollen bei der Erstellung des theoretischen Modells als Orientierungsrahmen dienen und stehen den Forschenden von Anbeginn der Untersuchung zur Verfügung (vgl. Kelle 2007: 39-41).

Die theoretische Sensibilität kommt auch bei Strauss bei der Identifizierung von Verbindungen zwischen den aus dem Datenmaterial gewonnenen Kategorien zum Tragen. Strauss entdeckt diese Beziehungen jedoch nicht mittels vorgegebener Kodierfamilien, sondern durch die Anwendung des von ihm entwickelten Kodierparadigmas (im Rahmen des axiales Kodierens), welches als „ein handlungstheoretisches Modell in der Tradition der pragmatistischen Philosophie und des Interaktionismus“ (Kelle 2007: 42) bezeichnet werden kann. Durch die Anwendung des Kodierparadigmas ist es den Forschenden möglich, die gewonnenen Kategorien miteinander in Beziehung zu setzen und zwar hinsichtlich Bedingungen, Interaktion zwischen den Akteuren, Strategien und Taktiken sowie Konsequenzen (vgl. Strauss 1998: 56-57). Die theoretische Sensibilität ist ferner bei der Dimensionalisierung der Kategorien von Bedeutung. [1] Die Forschenden legen theoretische Merkmale und deren Ausprägungen zu den jeweiligen Kategorien fest, die mittels der komparativen Analyse empirisch überprüft werden. Somit können im ständigen Abgleich mit dem Datenmaterial im Kontext des theoretischen Samplings Merkmalskombinationen der jeweiligen Kategorien ausgearbeitet werden.

Mit seiner Publikation “Emergence vs Forcing. Basics of Grounded Theory Analysis“ aus dem Jahr 1992 wird ein sich aus den beiden unterschiedlichen Entwicklungslinien der Grounded Theory gewachsener Methodenstreit zwischen den beiden Wissenschaftlern publik: Glaser wirft Strauss darin vor, mit dem Konzept der Dimensionalisierung und des Kodierparadigmas die Grounded Theory, wie sie in den 1960er Jahren von den beiden Wissenschaftlern entwickelt wurde, zu verfälschen. Durch diese Elemente würden den Daten laut Glaser Konzepte aufgezwungen. Die in der “Discovery of Grounded Theory“ vertretene induktive Vorgehensweise bei der Generierung von Kategorien würde somit unterwandert. Glaser schreibt über Strauss Buch “Basics of Qualitativ Research“: “Basics of Qualitativ Research cannot produce a grounded theory. It produces a forced, preconceived, full conceptual description, which is fine, but it is not grounded theory“ (Glaser 1992: 3). Strauss nimmt die von Glaser in seiner Streitschrift formulierte Kritik und konkreten Veränderungsvorschläge zu der von ihm eingeschlagenen Richtung der Grounded Theory nicht auf. Strübing (2007) schreibt hierzu:

„Strauss stellt in seinen späteren Schriften immer deutlicher das vor allem von John Dewey (1938) geprägte pragmatistische Prozessmodell iterativ-zyklischen Problemlösens als Grundmuster der Grounded Theory heraus, während Glaser stärker mit einer induktivistischen Epistemologie und der Vorstellung der Emergenz von Theorie aus Daten operiert. Darüber kommt es in den frühen 1990er-Jahren (…) zum Bruch mit Glaser. Das Verfahren der Grounded Theory wird unterdessen zu einem der meistverbreiteten Verfahren der Analyse qualitativer Daten, wobei lange Jahre die divergenten methodologischen Positionen der Erfinder des Verfahrens kaum zur Kenntnis genommen werden.“ (Strübing 2007: 49)

Methodisches Vorgehen bei der Generierung einer Grounded Theory:

Die drei Kodierschritte, das Kodierparadigma und die Bedingungsmatrix nach Strauss/Corbin

In der vorliegenden Studie orientiert sich das konkrete methodische Vorgehen bei der Entwicklung einer gegenstandsverankerten Theorie an der Arbeit von Strauss und Corbin (vgl. Strauss 1998; Strauss & Corbin 1996). Der zentrale Prozess, um eine gegenstandsverankerte Theorie zu entwickeln, stellt bei Strauss und Corbin das Kodieren dar. Das Kodieren ist eine konkrete Vorgehensweise, um das Datenmaterial aufzubrechen, zu konzeptualisieren und sukzessive neu zusammenzusetzen (vgl. Strauss & Corbin 1996: 39-42). Es werden drei Kodierschritte unterschieden: das offene, das axiale und das selektive Kodieren.

Das offene Kodieren stellt den ersten Schritt des Kodiervorgangs dar. Seine Funktion besteht darin, die Daten aufzubrechen, d. h. im Datenmaterial Phänomene zu entdecken und diese in Konzepten/Kodes zusammenzufassen, diese wiederum in Kategorien zu klassifizieren und zu dimensionalisieren. Beim offenen Kodieren wird sehr genau analysiert. Bezogen auf ein Interviewtranskript bedeutet dies, dass die Forschenden bei der Entdeckung von Phänomenen Zeile für Zeile vorgehen. Zu diesem Zeitpunkt werden alle Phänomene als für die Beantwortung der forschungsleitenden Fragestellung relevant eingestuft, nehmen aber einen vorläufigen Status ein (vgl. Strauss 1998: 57-62; Strauss & Corbin 1996: 43-55).

Wurden beim offenen Kodieren Kategorien gebildet, so können diese durch das axiale Kodieren näher bestimmt werden. Hierbei wird eine Kategorie durch die Anwendung des Kodierparadigmas mit anderen Kategorien in Beziehung gesetzt. Während Strauss in seiner Arbeit “Qualitative Analysis for Social Scientist“ (1984) Bedingungen, Interaktion zwischen den Akteuren, Strategien und Taktiken sowie Konsequenzen als Elemente des Kodierparadigmas festlegt (vgl. Strauss 1998: 57), nimmt er mit Juliet Corbin eine Spezifizierung des Kodierparadigmas vor: Es wird zunächst geschaut, welche (a) ursächlichen Bedingungen zu der Kategorie führen, die (b) ein bestimmtes empirisches Phänomen repräsentiert. Dann wird (c) der Kontext der Kategorie untersucht. Hierunter ist einerseits die Identifizierung von Eigenschaften und deren Dimensionalisierung zu verstehen, womit bereits beim offenen Kodieren begonnen wurde. Andererseits stellt der Kontext die Bedingungen für (d) die handlungsund interaktionalen Strategien dar, die den Umgang mit dem Phänomen beschreiben. Diese Strategien sind wiederum (e) intervenierenden Bedingungen unterworfen, die die Handlungen/Interaktionen fördern oder hemmen. Aus den Handlungen/Interaktionen entwickeln sich wiederum (f) Konsequenzen (vgl. Strauss & Corbin 1996: 7885). Das In-Beziehung-Setzen einer Kategorie mit anderen Kategorien, die dann den Charakter einer Subkategorie einnehmen, erfolgt zunächst hypothetisch. Die Hypothesen gilt es dann mithilfe des Datenmaterials zu verifizieren. Beim axialen Kodieren findet somit ein ständiger Wechsel von induktivem und deduktivem Vorgehen statt. Zwar stellen das offene und das axiale Kodieren getrennte analytische Prozedere dar, im Forschungsprozess wechseln die Forschenden jedoch zwischen diesen beiden Analyseschritten hin und her (vgl. Strauss & Corbin 1996: 77).

Im Mittelpunkt des selektiven Kodierens stehen das Auswählen der Kernkategorie, das systematische In-Beziehung-Setzen der Kernkategorie mit anderen Kategorien sowie das ,Auffüllen' der Kernkategorie und (Sub-)Kategorien durch das Hinzuziehen von weiterem Datenmaterial. Bei der Kernkategorie handelt es sich um das zentrale Phänomen, das „Herzstück des Integrations-Prozesses“ (a.a.O.: 101). Strauss (1998) nennt die folgenden Merkmale der Kernkategorie: Sie muss einen zentralen Bezug zu anderen Kategorien aufweisen; sie muss häufig im Datenmaterial in Erscheinung treten; sie muss sich problemlos mit anderen Kategorien in Beziehung setzen lassen (vgl. Strauss 1998: 67). Die Integration der Kategorien zu einer Grounded Theory „unterscheidet sich nicht sehr vom axialen Kodieren. Sie wird nur auf einer höheren, abstrakteren Ebene der Analyse durchgeführt“ (Strauss & Corbin 1996: 95). Beim selektiven Kodieren wird die gesamte interpretative Arbeit (wie Memoinhalte, Diagramme etc.), die während des Forschungsprozesses ausgeführt wurde, in die sich entwickelnde Theorie integriert. Am Ende des selektiven Kodierens, wenn die Kernkategorie identifiziert und alle anderen Kategorien unter Anwendung des Kodierparadigmas mit der Kernkategorie in Beziehung gesetzt worden sind [2], werden durch den Einsatz der Bedingungsmatrix (vgl. a.a.O.: 132-147) Bedingungspfade ermittelt. Diese stellen Muster dar, die der Theorie Spezifität verleihen. „Dann ist man in der Lage zu sagen: Unter diesen Bedingungen (Auflistung) passiert das und das; während unter anderen Bedingungen das und das eintritt“ (a.a.O.: 107). Strauss und Corbin betrachten die Grounded Theory auch als

„(...) ein transaktionales System, eine Analysemethode, die es erlaubt, die interaktive Natur von Ereignissen zu untersuchen. Von all den paradigmatischen Merkmalen sind Handlung und/oder Interaktion das Herzstück der Grounded Theory. Jedes Phänomen wird durch zweckgerichtete und untereinander verbundene Handlungs/Interaktions-Abfolgen analytisch ausgedrückt. (…) Alle Phänomene und die damit verbundene Handlung/Interaktion sind in Sätze von Bedingungen eingebettet. Handlung/Interaktion führen auch zu spezifizierbaren Konsequenzen.“ (Strauss & Corbin: 133; Hervorhebung im Original).

Die Bedingungsmatrix stellt vor diesem Hintergrund ein analytisches Hilfsmittel dar, um Bedingungen, die zu einer Handlung führen, auf verschiedenen Ebenen zu berücksichtigen: internationale Ebene, nationale Ebene, Ebene der Gemeinde, organisatorische und institutionelle Ebene, Ebene von Untereinheiten in Organisationen/Institutionen; Ebene des Kollektivs, der Gruppe, des Individuums sowie die Ebene der Interaktion (vgl. a.a.O.: 136). Die beim axialen und selektiven Kodieren herausgearbeiteten Handlungen stehen jeweils im Mittelpunkt der Bedingungsmatrix. Es wird nun überprüft, welche durch die Anwendung des Kodierparadigmas bereits ermittelten ursächlichen, kontextuellen sowie intervenierenden Bedingungen zu welcher Handlung führen. Die Bedingungen werden dann gemäß der Bedingungsmatrix neu geund der jeweiligen Handlung zugeordnet. Aus der jeweiligen Handlung können dann Verbindungen zu den bereits herausgearbeiteten Konsequenzen abgeleitet werden. Durch diese Vorgehensweise können die bereits weiter oben erwähnten Muster beschrieben werden, die der Theorie ihre Spezifität verleihen.

  • [1] Die Dimensionalisierung setzt bereits bei der Identifizierung erster Kategorien während des offenen Kodierens ein, wird aber durchgängig durch alle drei Kodierschritte (offenes, axiales und selektives Kodieren) durchgeführt.
  • [2] Alle Kategorien können den paradigmatischen Merkmalen zugeordnet werden: ursächliche, kontextuelle sowie intervenierende Bedingungen, Handlungen/Interaktionen sowie Konsequenzen
 
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