Element der Feinanalyse: Argumentationsanalyse auf der Grundlage des Argumentationsschemas von Schüze
Anhand des Datenmaterials wird deutlich, dass das kommunikative Handeln der Befragten primär in Form des Argumentierens stattfindet. Aufgrund der zum Teil diffizilen Argumentationen wurde zu Beginn des Analyseprozesses schnell evident, dass durch das offene Kodieren die Struktur der Argumentation zum Erreichen eines besseren Verständnisses des jeweiligen Aussageereignisses nicht durchdrungen werden konnte. Für die Beantwortung der Fragen ,Was will der Interviewpartner hier aussagen?', ,Auf was bezieht er sich an dieser Stelle?' oder ,Warum führt er diesen Aspekt hier an?' ist ein anderes Analyseinstrument erforderlich, welches dem offenen Kodieren vorzuschalten ist. Dementsprechend galt es, ein Verfahren zu finden bzw. zu entwickeln, das den Fokus auf das Aufbrechen der formalen Argumentationsstruktur legt und damit den nachfolgenden Kodierprozess erleichtert. Diese Funktion übernimmt in der vorliegenden Arbeit die Argumentationsanalyse in Anlehnung an das Argumentationsschema von Fritz Schütze (1978).
Historische Grundlagen der Argumentationsanalyse und ihre Bedeutung in der Erziehungswissenschaft
Die Argumentationsanalyse stellt einen Teilbereich der Argumentationstheorie dar, deren Anfang bis in die griechische Antike zurückverfolgt werden kann. Diesbezüglich konstatiert Retter (2002), dass es „heute nur wenige Sachverhalte im argumentativen Dialog [gibt, C.D.], die nicht schon in der Philosophie und Rhetorik der Antike aufgetreten sind“ (Retter 2002: 89). Platon (427-347 v. Chr.) begründete die Dialektik (im Sinne von Rede und Gegenrede führen) als Methode der Erkenntnisgewinnung, welche als Wegbereiter der heutigen Argumentationstheorien gesehen wird (vgl. Retter 2002: 90). Während Rhetorik im Sinne von Manipulation eine negative und Dialektik im Sinne von Erkenntnisgewinnung eine positive Konnotation seitens Platon beigemessen wird und beide Bereiche von ihm in einem divergenten Verhältnis stehend beschrieben werden, nimmt sein Schüler Aristoteles (384-322 v. Chr.) diese Zuschreibung von gut (Dialektik) und schlecht (Rhetorik) nicht auf, sondern betrachtet die beiden Bereiche als zusammengehörig, die sich aber voneinander abgrenzen lassen. Dialektik und Syllogismus (logisches Schlussverfahren) stellen die Grundlagen seiner Rhetorik dar (vgl. Retter 2002: 98). Bereits in seinem Werk „Rhetorik“ setzt sich Aristoteles mit Aktivitäten des Argumentierens wie dem Behaupten, Begründen, Beweisen und Bestreiten auseinander (vgl. Aristoteles 2007: 191195).
Für eine zunehmende wissenschaftliche Anerkennung der Argumentationstheorie haben die Arbeiten von Toulmin (1975) sowie von Perelman und Olbrechts-Tycteca (2004) den ausschlaggebenden Beitrag geleistet. Betrachtet man den erziehungswissenschaftlichen Diskurs, so stellt die Beschäftigung mit Argumentationstheorie und Argumentationsanalyse seit Mitte der 1980er Jahre ein kontinuierliches Aufgabengebiet dar (vgl. exemplarisch Apfel & Koch 1997; Dörpinghaus 2002; Gruschka 1994; Helmer 1992; Helmer 1999; Kopperschmidt 2000; Krummheuer 2003; Oelkers 1991a; Osterwalder 1992; Paschen 1986; Paschen 1988; Paschen 1991; Paschen & Wigger 1992a; Paschen & Wigger 1992b; Prange 1992; Wigger 1988; Wigger 1991; Wigger 1994; Wigger 2001), das – wie Wigger (2010) anschaulich skizziert – sehr vielfältig gestaltet ist. Vor diesem Hintergrund kann man nicht von der Argumentationsanalyse als empirische Forschungsmethode sprechen, vielmehr zeichnen sich verschiedene Richtungen ab, die Wigger in drei Gruppen klassifiziert: „die inhaltliche oder topische Analyse, die formale oder strukturelle Analyse; die Analyse der Voraussetzungen des Argumentierens“ (Wigger 2010: 354). Darüber hinaus gibt es nach Wigger in der Erziehungswissenschaft eine Vielzahl von argumentationsanalytischen Studien, die über keine fundierte Methodologie verfügen. Mit Blick auf die vorliegende Arbeit kann die hier angewendete Argumentationsanalyse der zweiten von Wigger vorgenommenen Klassifizierung zugeordnet werden.