Der Neue Deutsche Film der 60erund 70er-Jahre
Diesem Misserfolg des traditionellen Films widersetzten sich junge Autoren mit dem „Oberhausener Manifest“, das anlässlich der 8. Westdeutschen Kurzfilmtage von 1962 mit dem Titel „Papas Kino ist tot“ in einer Pressekonferenz vorgestellt wurde. Ziel war die Erneuerung der desolaten westdeutschen Filmproduktion, die Überwindung überkommener Schranken und der Anspruch auf „Freiheit von den branchenüblichen Konventionen, Freiheit von der Beeinflussung durch kommerzielle Partner, Freiheit von der Bevormundung durch kommerzielle Interessengruppen“.
Die „Oberhausener“ kritisierten an den traditionellen Unterhaltungsfilmen, dass sie realitätsverzerrend und affirmativ waren. Von der Produktion des neuen deutschen Films hatten sie konkrete geistige, formale und wirtschaftliche Vorstellungen. Vor allem vertraten die „Autorenfilmer“ den Anspruch, alle künstlerischen Tätigkeiten einer Filmproduktion wie Regie, Kameraarbeit und Schnitt selbst zu kontrollieren. Ein Film wurde als individuelles Kunstwerk des jeweiligen Regisseurs verstanden. Insbesondere kommerziell motivierte Eingriffe der Produzenten oder Produktionsfirmen wurden vehement abgelehnt.
Filmhistoriker sehen dieses „Oberhausener Manifest“ als die Geburtsstunde des „Jungen deutschen Films“ und damit auch den Beginn der gesellschaftspolitischen Trendwende der bundesdeutschen Filmkultur nach dem Zweiten Weltkrieg. Mit dieser neuen Bewegung gewann der deutsche Film erstmals seit den 1920er und frühen 1930er-Jahren wieder internationale Bedeutung. Häufig wurden die deutschen Autorenfilme im Ausland früher anerkannt als im eigenen Land.
Abschied von gestern (1966) von Alexander Kluge ist der erste Film eines Regisseurs, der das Oberhausener Manifest unterzeichnet hatte und gilt als der künstlerische Durchbruch der neuen Generation. Er erzählt die Geschichte der Anita G., einer deutschen Jüdin, geboren 1937, die in der Zeit des Nationalsozialismus vom Schulbesuch ausgeschlossen war, sich auch in der DDR nicht zurecht findet und 1957 in den Westen kommt. Aber auch dort scheitert sie an der Gleichgültigkeit und dem Egoismus der Gesellschaft.
Der Neue Deutsche Film ist neben Alexander Kluge verbunden mit Namen wie Ulrich und Peter Schamoni, Edgar Reitz (der zusammen mit Alexander Kluge das Institut für Filmgestaltung im Ulm gründete und für seine Trilogie Heimat mit Kritikerlob, Zuschauerbegeisterung und Preisen überschüttet wurde), und Johannes Schaaf, der mit seinem Film Tätowierung 1967 als einer der ersten zu Beginn der Studentenrevolte den damaligen Generationenkonflikt thematisierte.
Volker Schlöndorff schuf mit seiner Verfilmung des Günter-Grass-Romans Die Blechtrommel (1979) den ersten deutschen Film, der als „Bester fremdsprachiger Film“ mit einem Oscar ausgezeichnet wurde. Neben zahlreichen anderen Filmpreisen erhielt er auch die „Goldene Palme“ von Cannes.
Mitentscheidend für den Erfolg und die Qualität des Neuen Deutschen Films war die Installierung einer Filmförderung im Jahr 1964 durch das „Kuratorium Junger Deutscher Film“, das die Filmbranche mit Millionen von Steuergeldern förderte. 1967 wurde das Erste Filmförderungsgesetz mit der Kinoabgabe verabschiedet. Damit wurden Produktionen möglich wie der Film Es von Ulrich Schamoni, der mit dem Thema Abtreibung ein Tabu auf-greift, das bis dahin so noch nie in einem deutschen Film gezeigt werden konnte. Schamoni gewann damit zahlreiche Preise.
Die Filmkomödie Zur Sache, Schätzchen (1968) von May Spils mit Uschi Glas und Werner Enke in den Hauptrollen gehörte zu den großen kommerziellen Erfolgen des Jungen Deutschen Films. Er erlangte Kultstatus, weil er sich als einer der ersten Filme mit dem Lebensgefühl junger Menschen zur Zeit der 68er Bewegung auseinandersetzte. In den USA lief er unter dem Titel Go for it, Baby.
Erwähnenswert ist auch Jagdszenen aus Niederbayern (1969) von Peter Fleischmann, der in diesem „progressiven Heimatfilm“ nach einem Bühnenstück von Martin Sperr die Diskriminierung eines Homosexuellen in einem fiktiven bayrischen Dorf zeigt.
Weitere wichtige deutsche Filme aus dieser Zeit sind Die verlorene Ehre der Katharina Blum, gedreht von Volker Schlöndorff und Margarethe von Trotta, nach dem gleichnamigen Roman von Heinrich Böll, in dem die Terrorismus-Hysterie der 1970er-Jahre und die äußerst zwiespältige Rolle eines Massenblattes thematisiert wird. Der Film gewann zahlreiche Preise und war auch kommerziell erfolgreich.
Auf jeden Fall erwähnenswert sind auch Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1972, nach dem Roman von Peter Handke) und Paris, Texas (1984), beide von Wim Wenders, und Aguirre, der Zorn Gottes (1972) von Werner Herzog mit Klaus Kinski in der Hauptrolle als größenwahnsinniger Konquistador Don Lope de Aguirre.
Als wichtigster deutscher Autorenfilmer der 1970er-Jahre gilt Rainer Werner Fassbinder, der von der Hochschule für Film in München als unbegabt abgewiesen worden war. Fassbinder war stark vom Theater geprägt, für das er auch selbst einige Stücke geschrieben hat.
Beeinflusst war er von Jean-Luc Godard und der Nouvelle Vague sowie den Kriminalfilmen von John Huston, Raoul Walsh und Howard Hawks, vor allem aber von den Melodramen des Bühnenund Filmregisseurs Douglas Sirk, den auch Pedro Almodóvar zu seinen Vorbildern zählt.
Fassbinder schildert häufig unglückliche Liebesbeziehungen, die an den repressiven und vorurteilsbehafteten Verhältnissen scheitern. Mit dem Engagement von Stars der deutschen Kino-Tradition (Karlheinz Böhm, Brigitte Mira und Barbara Valentin) betrieb er auch eine Versöhnung von neuem und altem deutschen Film. 1970 traf er bei seinem siebten Spielfilm Whity auf den renommierten Kameramann Michael Ballhaus, mit dem er insgesamt bei 15 Filmen zusammenarbeitete.
Seine bedeutendsten Filme sind Händler der Jahreszeiten (1971), der gleichzeitig im Kino und im Fernsehen gezeigt wurde, Angst essen Seele auf (1974) und Die Ehe der Maria Braun (1979). Unbedingt zu erwähnen ist, auch wenn es sich um eine Arbeit für das Fernsehen handelt, die vierzehnteilige Verfilmung (1980) des Romans Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin aus dem Jahr 1929.
Als „Eckpfeiler und in gewisser Weise auch als Motor“ war nach eigener Aussage Fassbinders Hanna Schygulla von Anfang an der Antrieb und Inspirator seines filmischen Schaffens. Er hatte sie vom Zeitpunkt ihrer ersten Begegnung 1963 an als Star seiner zukünftigen Filme gesehen. Ihre absolute Leinwandpräsenz und anfänglich völlige „Anti-Star“-Bewusstheit bescherte beiden die ersten gemeinsamen filmischen Erfolge.
Fassbinder schuf neben Maria Braun eine Reihe weiterer wichtiger Frauenfiguren der Nachkriegsfilmgeschichte wie Fontanes Effi Briest (1974) und Lili Marleen (1981), dargestellt von Hanna Schygulla, und mit dem Film Lola (1981), in dem Barbara Sukowa die Hauptrolle spielt. Diese Frauenfiguren gingen in die Filmgeschichte ein.
In Zusammenhang mit dem neuen deutschen Film entwickelte sich auch der deutsche feministische Film, vertreten von Regisseurinnen wie Helma Sanders-Brahms, Helke Sander und Margarethe von Trotta.
In Fachaufsätzen zu diesem Abschnitt deutscher Filmgeschichte wird gelegentlich zwischen dem eher avantgardistischen „Jungen Deutschen Film“ der 1960er und dem zugänglicheren „Neuen Deutschen Film“ der 1970er-Jahre unterschieden. Beide waren jedoch gleichermaßen durch den italienischen Neorealismus, die Nouvelle Vague in Frankreich und das britische New Cinema beeinflusst. In eklektischer Weise wurden auch bestimmte Traditionen des Hollywood-Kinos aufgegriffen und zitiert.