Lebenslanges Lernen: eine absolute Metapher (Z. 71-101)
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E: |
.. und ahm(,) ich bin dann |
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mal gefragt worden(') da war ich dann so ungefähr en(,) halbes Jahr im neuen |
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Aufgabenfeld&ah war n Holländer und hat mich&gefragt ahm(-) was halten Sie |
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denn vom lebenslangen Lernen(?) was ist denn das(?) (lacht) und da bin ich |
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schon ins Stottern gekommen(.) .. ahm .. um . um mir selber noch mal klar zu |
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werden(') ich bin plötzlich in dieser Funktion und habe von der Begrifflichkeit |
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ah selber auch noch nicht die&die totale Vorstellung und ahm mir ich habe mir |
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dann versucht ah hineinzufinden und gehe davon aus dass ah dieses Konstrukt .. |
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ahm .. nicht eindeutig determinierbar ist(') die&die Definitionen(') die man |
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findet(') ah die variieren(.) ich halte sie auch zu lernbezogen die meisten |
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Definitionen(') und ich finde auch ah&wichtig und spannend(') dass wenn man |
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die Genese des lebenslangen Lernens(') die recurrent education(') die |
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ersten&ersten Dokumente sieht(') dass sie auch ideologische ahm&oder eben |
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(gz) mhm(') |
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weltanschauliche Veränderungen er&erfährt diese&diese dieses Konstrukt(.) es |
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kann(') es war mal sozial oder human gedacht(') um denjenigen(') die zu kurz |
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(gz) mhm(') |
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gekommen sind immer wieder im Leben eine Chance zu geben(.) das war |
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(allerdings?) so die ersten Konnotationen(.) dann gab es schon auch ah über |
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wirtschaftliche Krisen die Vorstellung(') wir müssen jetzt den Standort sichern |
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und ahm dass es wesentlich dazu da(') die Produktivkraft ah auf allen Ebenen zu |
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stärken(') alle Bildungs&ah&ressourcen freizuschalten und wenn man in die |
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heutigen Papiere schaut(') dann findet man den Zungenschlag eigentlich von |
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jeder der Ideologien(') ahm und in der Realität (räuspert sich) ist sehr viel stark |
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ah Selbstverantwortung(') Liberalisierung(') Marktgeschichten(') das hat so n |
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durchschlagendes Moment(') |
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mhm(') |
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und ahm wenn ich mich dann positioniere(') dann versuche ich natürlich eher |
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auch die emanzipativen persönlichkeitsfördernden und ah bildungsstärkenden |
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Momente im lebenslangen Lernen(,) herauszustellen(.) |
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aha(') |
Das Subsegment beginnt mit der Beschreibung eines situativen Kontextes (Z. 7178). Obwohl die Interviewerin den Experten nicht auf derartige Erfahrungen angesprochen hat, thematisiert dieser eine für ihn wichtige berufsbiografische Schlüsselsituation, die in seinem beruflichen Handeln ein krisenhaftes Ereignis gewesen sein könnte. Die Schlüsselsituation wird durch die Fragen einer Person, die der Informant als „Holländer“ (Z. 73) bezeichnet, ausgelöst und führt zu einer Irritation in seinem Antwortverhalten. Auffällig ist, dass Müller diese Person nicht namentlich benennt, sondern auf deren nationale Identität reduziert. Es handelt sich um eine von außen kommende Person, die nicht dem gleichen Kulturkreis des Interviewpartners angehört. Die Fragen der Person beziehen sich auf eine Bewertung und Definition des Begriffs ,lebenslanges Lernen', für deren Beantwortung eine fundierte inhaltliche Auseinandersetzung notwendig erscheint. Der Informant hätte in dieser Situation seinen Expertenstatus im Bereich lebenslanges Lernen verdeutlichen können. Dies scheint ihm allerdings nicht gelungen zu sein, was durch die Aussage „und da bin ich ins Stottern gekommen(.)“ (Z. 74-75) markiert wird. Der Grund für das Stottern als Ausdruck der Irritation kann in der in dieser Situation erlangten Erkenntnis liegen, dass er aufgrund der von seinem Arbeitgeber vorgenommenen Zuschreibung eines Expertenstatus im Bereich des lebenslangen Lernens zwar als solcher fungiert und auch angefragt wird, er jedoch nicht über eine konkrete Definition des Begriffs verfügt. Er kann somit grundlegende Erwartungen, die an ihn als Experte gestellt werden, nicht erfüllen. Dieses Phänomen ist möglicherweise Ausdruck einer routinisierten Form der Verständigung im Diskurs über das lebenslange Lernen. Darunter ist zu verstehen, dass Begriffe verwendet werden, deren Bedeutung als bekannt vorausgesetzt wird. Ein Hinterfragen der Begriffe kann unter Umständen zu Irritationen im Antwortverhalten der Akteurinnen und Akteure führen, wie es in dieser Sequenz der Fall ist.
Die Beschreibung der berufsbiografisch relevanten Schlüsselsituation sowie die in Subsegment 1.1 vorgenommene Darlegung seines beruflichen Bezugs zum lebenslangen Lernen ermöglichen Müller, sich als Novize in diesem Bereich darzustellen. Durch diese Vorgehensweise kann er mangelndes Wissen bekunden und den Anspruch erheben, das Konstrukt ,lebenslanges Lernen' erst einmal für sich eruieren zu müssen. Dabei scheint er sich mit den grundsätzlichen Fragen aus der Perspektive des Fremden, die durch die Person des Holländers verkörpert wird, identifizieren zu können. Aufgrund dessen wird der im Sachverhaltsschema des Beschreibens dargestellte Dialog mit dem Holländer von Müller internalisiert und hat wahrscheinlich – nach Aussage des Experten – zu einer inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Begriff ,lebenslanges Lernen' geführt („ich bin plötzlich in dieser Funktion und habe von der Begrifflichkeit ah selber auch noch nicht die&die totale Vorstellung und ahm mir ich habe mir dann versucht ah hineinzufinden“, Z. 76-78).
Die Beschreibung der berufsbiografisch relevanten Schlüsselsituation bereitet das daran anschließende Sachverhaltsschema des Argumentierens vor (Z. 7896). Mit dem Rahmenschaltelement „und gehe davon aus“ (Z. 78) beginnt der Informant seine Argumentation und vollzieht dabei einen Wechsel in der zeitlichen Darstellung. Während Müller in den Zeilen 77 bis 78 beschreibt, dass er als Folge jenes beruflichen Ereignisses versucht habe, sich inhaltlich mit dem Thema ,lebenslanges Lernen' auseinanderzusetzen, formuliert er nun das Ergebnis seiner Überlegungen: Es handelt sich dabei um die Behauptung, dass das lebenslange Lernen nicht eindeutig zu bestimmen sei (vgl. Z. 78-79). Diese Erkenntnis verstärkt der Interviewpartner, indem er dem lebenslangen Lernen den Status eines Konstrukts zuschreibt (vgl. Z. 78). Nach der Formulierung der Behauptung erfolgt die Grundaktivität des Begründens (vgl. Z. 79-80). Unter dem Zugzwang des Explizierens erklärt Müller, dass es verschiedene Definitionen zum lebenslangen Lernen gebe. Er benennt dabei allerdings keine expliziten Quellen, wie z. B. Dokumente oder Autoren. Ein möglicher Grund hierfür kann sein, dass sich die intermediäre Funktion des Experten an dieser Stelle widerspiegelt. In diesem Sinne nimmt er eine Metaebene ein und verweist darauf, dass dem lebenslangen Lernen je nach Verwendungskontext eine andere Definition zugrunde liegen kann.
Mit der Äußerung in Zeile 80 bis 81 „ich halte sie auch zu lernbezogen die meisten Definitionen(')“ nimmt Müller eine subjektive Bewertung der von ihm gesichteten Definitionen vor und versucht sich mit dieser Einschätzung von der Mehrheit der Definitionen abzugrenzen. Es handelt sich hierbei um eine weitere Behauptung, die auf den ersten Blick irritierend erscheint, da sich die Frage stellt, wie eine auf das lebenslange Lernen bezogene Definition zu lernbezogen sein kann. Die Betonung ,zu lernbezogen' könnte jedoch den Verweis beinhalten, dass nach Einschätzung des Informanten im Mittelpunkt vieler Definitionen das Lernen an sich stehe, jedoch andere Referenzebenen, wie z. B. die der Organisation oder der pädagogischen Fachkräfte, nicht oder kaum berücksichtigt werden. Da Müller keine Vorschläge zu einer weniger lernbezogenen Definition des lebenslangen Lernens unterbreitetet, ist davon auszugehen, dass er eine geeignete Definition gemäß seiner Vorstellungen noch nicht gefunden hat und daher nur intuitiv, eventuell aufgrund seiner interdisziplinären Funktion als Experte, seinen Bedarf an einer weniger lernbezogenen Definition formulieren kann. Hierdurch wird seine erste Behauptung, dass das lebenslange Lernen nicht eindeutig zu bestimmen sei, bekräftigt.
Eingeleitet durch die Relevanzmarkierung „und ich finde auch ah&wichtig und spannend(')“ (Z. 81) wechselt der Interviewpartner unter dem Zugzwang des Berücksichtigens und Abwägens wieder in die Grundaktivität des Begründens (vgl. Z. 81-85). Diese kann sich sowohl auf die erste als auch auf die zweite Behauptung beziehen, und zwar in dem Sinne, dass die Genese der Begriffsgeschichte, die durch unterschiedliche Ideologien geprägt sei, das Verständnis von lebenslangem Lernen jeweils beeinflussen würde. Die zu Tage tretende Thematisierung von Ideologien kann darauf zurückgeführt werden, dass der Interviewpartner aufgrund seines Alters der Generationslagerung [1] der 68er-Bewegung zugeordnet werden kann, die mit dem Begriff der Ideologie eine bestimmte Art des Wissens und des Selbstverständnisses verbindet. [2] Der Experte führt im Rahmen der Begründungsaktivität die „Recurrent Education“ der OECD aus dem Jahr 1973 [3] als exemplarischen Bestandteil der Begriffsgeschichte an und ordnet diese den ersten bildungspolitischen Dokumenten zum lebenslangen Lernen zu. [4] Anhand der begriffsgeschichtlichen Genese des lebenslangen Lernens und den dazugehörigen Dokumenten könne man die „ideologischen oder weltanschaulichen Veränderungen“ (vgl. Z. 83-85) des Begriffs ,lebenslanges Lernen' erkennen. Indem der Experte das Werturteil ,ideologisch' durch die Konjunktion ,oder' mit dem Adjektiv ,weltanschaulich' verbindet, erhält die Verwendung des Ideologiebegriffes eine eher neutrale Konnotation im Sinne eines weltanschaulich begründeten Systems von Wissen und Normen.
Im Rahmen der Grundaktivität des Belegens in den Zeilen 85 bis 96 beschreibt der Informant in chronologischer Reihenfolge ,ideologische oder weltanschauliche' Veränderungen. Während die ersten Ideologien ,soziale oder humane' Intentionen beinhaltet hätten, seien im weiteren Verlauf durch wirtschaftliche Krisen arbeitsmarktpolitische und bildungsökonomische Aspekte in den Vordergrund gerückt. Auffällig ist, dass der Informant in der Zeile 93 nicht von Dokumenten im Sinne von offiziellen bildungspolitischen Schriftstücken mit handlungsleitender Relevanz spricht, sondern in einem eher lässigen Sprachstil die Formulierung „heutige Papiere“ (Z. 93) verwendet. Während das Adjektiv ,heutig' aufzeigt, dass es sich um Schriftstücke der Gegenwart handelt, verweist die Beschreibung ,Papiere' auf einen eher vorläufigen Charakter. Möglicherweise deutet sich hier eine distanzierte Haltung des Experten gegenüber bildungspolitischen Dokumenten des lebenslangen Lernens der Gegenwart an, die zwar eine handlungsleitende Funktion innehaben, jedoch aufgrund ihres vorläufigen Charakters eine gewisse Ungewissheit bezüglich ihrer zukünftigen Geltungsdauer beinhalten. Die Formulierung ,heutige Papiere' kann somit als Kritik an der Ernsthaftigkeit der inhaltlichen Aussagen dieser Schriftstücke gedeutet werden. Die Verwendung der Metapher „Zungenschlag“ (Z. 93) verweist darauf, dass Müller der Auffassung ist, dass in den gegenwärtigen Dokumenten zum lebenslangen Lernen eine Vermischung unterschiedlicher Ideologien stattgefunden habe. Hier deutet sich eine politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Instrumentalisierung des Begriffs ,lebenslanges Lernen' an, die von Müller jedoch nicht problematisiert wird. In den Zeilen 94 bis 96 grenzt der Experte die Realität von den verschiedenen Ideologien ab, welche seiner Meinung nach in den heutigen Schriftstücken zum lebenslangen Lernen zu finden seien. Diese Stelle kann ein Indiz dafür sein, dass der Informant aus einer eher ideologiekritischen Perspektive argumentiert. Hinter dem Schleier der Ideologien, also in der Realität, verbindet er lebenslanges Lernen mit den Begriffen „Selbstverantwortung(')“, „Liberalisierung(')“ und „Marktgeschichten(')“ (Z. 95). Es wird allerdings nicht ersichtlich, in welchem Maße sich die vom Interviewpartner so bezeichnete Realität von den Ideologien unterscheidet. Hier wird daher nur ansatzweise eine ideologiekritische Perspektive sichtbar, indem Müller auf eine Differenz zwischen Ideologie und Realität des lebenslangen Lernens hinweist. Da aber die Beschreibung der wirklichen Verhältnisse nur schlagwortartig vorgenommen wird, fehlt die inhaltliche Präzisierung dieser Differenz. Ferner sind die Beschreibungen ,Selbstverantwortung' als auch ,Liberalisierung' sowohl in den bildungspolitischen Dokumenten der 1970er als auch in den Dokumenten, die seit Mitte der 1990er Jahre publiziert werden, zu finden, welche für Müller unterschiedliche Ideologien beinhalten.
In den Zeilen 98 bis 100 wechselt der Interviewpartner die Ordnungsebene der Interaktion: Bewegte er sich bisher auf der Ebene der Kommunikationsschemata der Sachverhaltsdarstellung (hier: Argumentation), so verlässt er diese nun und mündet in die Ebene der Handlungskonstitution, indem er eine Positionierung vornimmt. Der Informant nimmt nicht, wie es vor dem Hintergrund seiner institutionellen Funktion und seiner Behauptung zu erwarten wäre, eine Metaebene zu den zuvor von ihm aufgezählten Aspekten des lebenslangen Lernens ein, sondern formuliert eine bildungspolitische Grundhaltung und positioniert sich damit im bildungspolitischen Diskurs („und ahm wenn ich mich dann positioniere(') dann versuche ich natürlich eher auch die emanzipativen persönlichkeitsfördernden und ah bildungsstärkenden Momente im lebenslangen Lernen(‚) herauszustellen(.)“, Z. 98-100). Indem Müller in seiner Positionierung von
„emanzipativen persönlichkeitsfördernden und ah bildungsstärkenden Momente[n, C.D.]“ (Z. 99-100) spricht, bezieht er sich auf mögliche Dimensionen des lebenslangen Lernens. Die Verwendung des Adverbs „natürlich“ (Z. 98) als Markierer von Selbstevidenz ist bei genauerer Betrachtung erklärungsbedürftig. Der Experte erläutert jedoch nicht, warum er die von ihm genannten Dimensionen des lebenslangen Lernens für selbstverständlich erachtet. Da Müller wie bereits dargestellt der Generation der 68er-Bewegung zugeordnet werden kann, liegt es nahe, dass er hier auf für ihn bekannte Begriffe der emanzipatorischen Pädagogik [5] zurückgreift, die auch in den bildungspolitischen Dokumenten der 1970er Jahre von Bedeutung sind. Die von Müller geäußerte Behauptung, das Konstrukt ,lebenslanges Lernen' sei nicht eindeutig zu bestimmen, impliziert, dass er sich eigentlich nicht positionieren dürfte. Dass der Experte die Positionierung dennoch vornimmt, kann als Hinweis auf ein rollenförmiges Handeln gedeutet werden. Die Rollenanforderung bzw. Rollenerwartung an ihn als Experte ist, eine Definition zum lebenslangen Lernen zu formulieren. Die Positionierung ist eine Bearbeitungsstrategie, um einerseits mit seiner Behauptung umzugehen: Müller muss auf die von ihm geäußerte Unmöglichkeit einer eindeutigen Definition zum lebenslangen Lernen reagieren und darlegen, wie er zu dieser Erkenntnis als Experte steht. Er verstrickt sich mit seiner Behauptung, dass das lebenslange Lernen nicht zu definieren sei in ein argumentatives Dilemma, das er mittels der Positionierung zu bearbeiten versucht. Andererseits besteht ein unmittelbarer Bezug zur berufsbiografisch relevanten Schlüsselsituation, in der eine Person aus einem anderen Kulturkreis eine Definition und Positionierung zum lebenslangen Lernen erfragt. Die Positionierung kann auch in Bezug auf die Schlüsselsituation als eine Bearbeitungsstrategie betrachtet werden, da Müller durch deren Anwendung die damals erlebte Krise in der Interviewsituation nachträglich aufzulösen vermag.
Die Analyse des Subsegments zeigt auf, dass sich der Informant als Novize im Bereich des lebenslangen Lernens präsentiert und damit signalisiert, dass er den Begriff für sich noch erkunden muss. Die von dem Interviewpartner skizzierte Vorstellung, dass das lebenslange Lernen nicht eindeutig definierbar sei und eine Vielfalt an unterschiedlichen Ideologien beinhalte, deutet auf eine dem Begriff ,lebenslanges Lernen' immanente Vagheit und Diffusität hin. Dies bestätigt de Haans (1991) Aussage, dass es sich bei dem Konstrukt ,lebenslanges Lernen' um eine absolute Metapher (Blumenberg) handelt.
Die Argumentation des Experten in diesem Subsegment kann in zweierlei Hinsicht gedeutet werden: Zum einen könnte die Verstrickung in ein argumentatives Dilemma Ausdruck eines Suchprozesses sein, um den Begriff ,lebenslanges Lernen' näher zu bestimmen. Es handelt sich dabei um einen offenen Prozess, da der Interviewpartner bisher scheinbar noch zu keinem Ergebnis gelangt ist. Die Suche nach einer tragfähigen Definition ist noch nicht beendet. Um als Experte handlungsfähig zu bleiben und der Frage der Interviewerin nach einer Definition zum lebenslangen Lernen begegnen zu können, zieht er sich im Rahmen seiner Positionierung auf die Ideologie der emanzipatorischen Pädagogik der späten 1960er Jahre zurück und reagiert damit selbst ideologisch. Zum anderen besteht die Möglichkeit, dass Müller die Verstrickung in ein argumentatives Dilemma nicht erkennt. Sollte dies der Fall sein, könnte es sich bei der Positionierung um eine routinisierte Form der Verständigung handeln, sodass dem Informant ebenfalls nicht bewusst ist, dass er mit seiner bildungspolitischen Positionierung selbst ideologisch reagiert.
Konstatierung eines nicht vorhandenen einheitlichen Verständnisses vom lebenslangen Lernen bei pädagogischen Fachkräften (Z. 102-140)
Nachdem Müller seine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Begriff
,lebenslanges Lernen' abgeschlossen hat, nimmt er eine Einordnung seiner beruflichen Tätigkeit im Handlungsfeld lebenslanges Lernen vor. Seine Aufgaben hätten eher einen administrativen Charakter, er sei aber auch für die fachliche Unterstützung der Projektnehmer/-innen im Bereich des lebenslangen Lernens verantwortlich. Er kritisiert, dass bei der Gesamtplanung des von ihm administrativ zu betreuenden Gesamtvorhabens die fachliche Unterstützung der Projektmitarbeiter/-innen nicht ausreichend berücksichtigt worden sei, sodass er diese Aufgabe im Nachhinein übernehmen musste. Die Umsetzung dieser Aufgabe sei ihm aber nicht vollständig gelungen. Er hätte mit der fachlichen Unterstützung früher beginnen müssen, da der Aushandlungsprozess einer Definition des lebenslangen Lernens und der dazugehörigen Dimensionen unter den Projektnehmerinnen und -nehmern sehr zeitintensiv gewesen sei. Der Informant nimmt zum Schluss des Subsegments nochmals Bezug auf die Einführung der Interviewerin und weist darauf hin, dass die bildungsbereichsübergreifende Förderung lebenslangen Lernens weniger Berücksichtigung in den Projektkonzepten gefunden hätte. Er beendet seine Ausführungen mit dem Hinweis, dass die Definition lebenslangen Lernens vom jeweiligen Anwendungskontext abhängig sei.
- [1] „Generationen sind schicksalsmäßig verwandte Lagerungen von Individuen, die in eine Richtung gehende Erlebnis-, Denkund Gefühlsinhalte aufweisen“ (Ecarius 2002: 547).
- [2] Es handelt sich dabei um die ,kritische Theorie', die „(...) sich als Erkennungsmerkmal für die von Max Horkheimer und Th. W. Adorno begründete philosophische Theorie der sog. ,Frankfurter Schule' durchgesetzt [hat, C.D]“ (Regenbogen 2002: 750). Bestandteil der kritischen Theorie ist die aus der marxistischen Tradition übernommene Ideologiekritik, die von Horkheimer und Adorno zu einer Kritik der gesamten spätkapitalistischen Kulturformen und Lebensweisen weiterentwickelt wurde. Die Auswirkungen der kritischen Theorie zeigten sich in der Schulung in ideologiekritischem und damit in systemkritischem Denken bei vielen Studierenden in den 1960er Jahren (vgl. ebd.: 750-752). Im Mittelpunkt der Ideologiekritik steht die verschleierte Wahrnehmung der gesellschaftlichen Realität, da Bilder, die das Individuum sich von der Wirklichkeit macht, von subjektiven Faktoren beeinflusst werden. Die Ideologiekritik hat zum Ziel, diese Verschleierung aufzudecken und dadurch den Zugang zu den wirklichen Verhältnissen zu ermöglichen
- [3] Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Ausbildung und Praxis im periodischen Wechsel (Recurrent Education): Ein Beitrag des Zentrums für Bildungsforschung und -innovation (CERI) der OECD. Bonn 1974. Herausgabe und Übersetzung mit Genehmigung der OECD. Originaltitel: OECD/Center for Educational Research and Innovation (CERI): Recurrent Education. A Strategy for Lifelong Learning. OECD: Paris 1973
- [4] Da die begriffsgeschichtliche Herleitung lebenslangen Lernens früher rekonstruiert werden kann (vgl. z. B. Comenius 1660, Condorcet 1792), ist davon auszugehen, dass der Informant den Beginn der Genese lebenslangen Lernens mit dem Zeitpunkt verbindet, der das lebenslange Lernen in den Mittelpunkt internationaler und nationaler bildungspolitischer Diskussionen der 1970er Jahre stellt. Dieser Zeitpunkt lässt sich maßgeblich durch Berichte und Studien internationaler Gremien datieren, wie z. B. die „Recurrent Education“ der OECD aus dem Jahr 1973. Auch in der Fachliteratur wird der Beginn der Genese lebenslangen Lernens häufig mit den internationalen bildungspolitischen Diskussionen und den daraus resultierenden Dokumenten seit den 1970er Jahren gleichgesetzt
- [5] Die emanzipatorische Pädagogik oder kritische Erziehungswissenschaft „(...) ist in den späten sechziger Jahren formuliert worden. Sie beschreibt kein homogenes theoretisches Konzept und praktisches Forschungsfeld, sondern eignet sich als ,Klammerformel' (Horst Scarbath) für eine Wissenschaft, die der Ausbildung einer vernünftigen Gesellschaft mit mündigen Bürgern verpflichtet ist. Den besonderen Charakter verdient die kritische Erziehungswissenschaft ihren Entstehungsbedingungen: Dazu gehören die Rezeption der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule; das ihr eigene ambivalente Verhältnis zur vorherrschenden geisteswissenschaftlichen Tradition; die langsam einsetzenden Bildungsreformen als Reaktion auf die von Georg Picht diagnostizierte Bildungskatastrophe; schließlich der Einfluss der Studentenbewegung“ (Forster 1996: 408-409).