Institutionelle Ermöglichungsstrukturen bildungsbereichsübergreifender Zusammenarbeit (Z. 538-600)
Abhängigkeit der bildungsbereichsübergreifenden Zusammenarbeit von Bereitschaft und „Freiräumen“ innerhalb der Bildungsbereiche
(Z. 538-559)
Das Subsegment beginnt mit einer Frage der Interviewerin, die Müllers Verständnis einer bildungsbereichsübergreifenden Förderung lebenslangen Lernens in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt. Nach einer kurzen Pause fügt die Interviewerin eine weitere Fragestellung an. Diese bezieht sich auf potenzielle Schwerpunkte der bildungsbereichsübergreifenden Förderung und rekurriert auf eine vorherige Äußerung des Experten. Der Zeitpunkt der Pause legt die Vermutung nahe, dass ausbleibende Rezeptionssignale seitens des Interviewpartners die Interviewerin zur Formulierung einer weiteren Frage veranlasst haben könnten. Die komplexe Fragestellung bezieht sich nun einerseits auf die Darlegung einer Definition und andererseits auf die Benennung normativer Perspektiven. Ferner beinhaltet sie die implizite Behauptung, dass eine bildungsbereichsübergreifende Zusammenarbeit etwas Positives und Förderungswürdiges sei.
Der Interviewpartner beantwortet die Frage der Interviewerin erst nach einer mittleren Planungspause, welche er anscheinend benötigt, um die Fragestellungen für sich zu rekapitulieren und eine Antwort zu überlegen. Hierbei erfolgt eine Reinterpretation der Ausgangsfrage. Der Interviewpartner erläutert nicht sein Verständnis zur bildungsbereichsübergreifenden Förderung lebenslangen Lernens. Er folgt seinen eigenen Relevanzstrukturen, indem er Bezug auf eine zuvor von ihm getätigte Aussage nimmt, die er jedoch nicht noch einmal ausführt („ … ja(') also wie ich schon so n bisschen gesagt habe(')“, Z. 543). Es liegt nahe, dass er sich hier auf seine Ausführungen in Subsegment 3.4 (vgl. Z. 458-537) bezieht. Dort schildert er die Schwierigkeiten, die er bei der Kooperation von Einrichtungen unterschiedlicher Bildungsbereiche sieht. Für ihn scheinen diese Schwierigkeiten in einem Zusatzaufwand zu liegen, den eine Kooperation aus seiner Sicht sowohl für das Leitungspersonal als auch für die Mitarbeiter/innen gegenüber dem Tagesgeschäft mit sich bringe, ohne dass gleichzeitig Entlastung geschaffen werde. Ferner geht Müller davon aus, dass eine Kooperation seitens der Akteurinnen und Akteure eine generelle Bereitschaft voraussetze. Ausgehend von der von ihm zuvor getätigten Aussage formuliert Müller nun seine Behauptung (vgl. Z. 543-550), die eine Prämisse zur Ermöglichung bildungsbereichsübergreifender Arbeit darstellt. Die Ermöglichung bildungsbereichsübergreifender Arbeit sei ein Prozess, der für diese Form der Arbeit auf der Ebene der Organisation und der Bildungspolitik Bereitschaft schaffen und Freiräume eröffnen müsse. Dabei geht der Informant davon aus, dass der Wille zur Realisierung einer bildungsbereichsübergreifenden Arbeit auf zwei Ebenen vorhanden sein muss: Es handle sich dabei zunächst um die „Ebene der Organisation dieses ganzen Vorganges“ (Z. 545). Zwar wird diese Ebene von dem Interviewpartner nicht weiter spezifiziert, es liegt jedoch nahe, dass er hier die konkrete Ebene der Umsetzung meint. Darunter ist die Planung, Gestaltung, Koordination und Begleitung einer bildungsbereichsübergreifenden Zusammenarbeit zu verstehen, die von den betreffenden Bildungseinrichtungen respektive deren Personal vorgenommen werden muss. Das Rahmenschaltelement „ahm“ (Z. 545) und die darauf folgende Relevanzmarkierung „und dann sogar noch“ (Z. 546) verdeutlichen, dass nach Müllers Einschätzung darüber hinaus auch der Wille vonseiten der Bildungspolitik bestehen müsse („ahm und dann sogar noch ne Ebene drüber auch im politischen&im bildungspolitischen Umfeld(') zum Beispiel in der Administration&in der Schulad&behörde(')“, Z. 545-548). Die Hervorhebung der Bildungspolitik durch die Relevanzmarkierung und die beispielhafte Konkretisierung des bildungspolitischen Umfeldes mit dem Verweis auf die „Schulad&behörde“ (Z. 548) als untere Schulaufsichtsbehörde [1] kann darauf hindeuten, dass die bildungsbereichsübergreifende Arbeit ein politisches Mandat benötigt, das die entsprechenden Tätigkeiten auf der organisationalen Ebene legitimiert. Möglicherweise handelt es sich hierbei um einen Top-down organisierten Ermöglichungsprozess. Der Appell in den Zeilen 548 bis 550 („dort müssen&müssen erst mal ahm auch Prozesse einsetzen(') dass die dies&Form von Tätigkeit sinnvoll und wichtig finden und sich dafür&dafür Freiräume eröffnen(.)“) macht darauf aufmerksam, dass die von Müller als notwendig erachtete Bereitschaft in den genannten Bereichen nicht per se vorhanden zu sein scheint. Zudem ist der Experte der Auffassung, dass für die Realisierung dieser Tätigkeit gewisse „Freiräume“ (Z. 550) erforderlich seien. Der Informant führt hier die lexikalisierte Metapher [2] ,Freiraum' an. In dem verwendeten Kontext kann sie sich auf die Freiheit von Personen beziehen, die diese z. B. für die Entwicklung und Entfaltung ihrer Kreativität benötigen. Für eine bildungsbereichsübergreifende Arbeit müssten in diesem Zusammenhang Rahmenbedingungen geschaffen werden, die Entwicklungsund Entfaltungsfreiheit ermöglichen und dafür
z. B. zeitliche und finanzielle Ressourcen vorsehen. Die Schaffung solcher Rahmenbedingungen könnte beispielsweise eine Konsequenz eines politischen Mandats sein.
In den Zeilen 552 bis 555 formuliert Müller mit einem Verweis auf eigene Erfahrungen eine weitere Behauptung. Er ist der Meinung, dass die Ebenen der pädagogisch Tätigen, der Organisationen und der Bildungspolitik nicht gut „verzahnt“ (Z. 555) seien. Im Rahmen dieser zweiten Behauptungsaktivität erweitert er die bisher in der ersten Behauptung (vgl. Z. 543-550) angeführten Referenzebenen explizit um eine dritte Ebene, nämlich die der Lehrenden und bringt diese in eine hierarchische Reihenfolge: Die unterste Ebene werde durch die pädagogischen Fachkräfte repräsentiert, die mittlere Ebene umschließe die Bildungsorganisationen und die über allem stehende Ebene sei die Bildungspolitik. Aufgrund seiner berufsbiografischen Erfahrungen weist der Informant darauf hin, dass diese drei Ebenen „gut verzahnt“ (Z. 555) sein müssten, was nach seinem Ermessen jedoch nicht der Fall sei. Allerdings ist nicht ersichtlich, was er mit der metaphorischen Umschreibung ‚gut verzahnt' konkret meint. Die lexikalisierte Metapher kann in dem angewandten Kontext darauf hindeuten, dass eine gemeinsame Arbeit nur erfolgreich verlaufen kann, wenn die drei Ebenen – an dieser Stelle vermutlich zunächst nur bildungsbereichsintern – als Gesamtsystem funktionieren. Vor diesem Hintergrund müsste eine geeignete Form der Zusammenarbeit gefunden werden, sodass Veränderungen auf einer der Ebenen entsprechende Auswirkungen auf die anderen Ebenen hätten. Der Aspekt der ,Verzahnung' spezifiziert somit die von Müller gewählte Formulierung ,bildungsbereichsübergreifende Arbeit' in Richtung einer Zusammenarbeit. Wie deren Gestaltung konkret erfolgen soll, bleibt offen. Die zweite Behauptung stellt, wie auch die erste Behauptung in den Zeilen 543 bis 550 eine Prämisse zur Ermöglichung einer bildungsbereichsübergreifenden Zusammenarbeit dar.
Im Anschluss an die zweite Behauptung beendet der Informant in den Zeilen 556 bis 559 mithilfe einer Konklusion seine Argumentation in diesem Subsegment. Hierbei nimmt er zunächst eine Bewertung der zuvor von ihm im Rahmen der zweiten Behauptung formulierten Notwendigkeit einer adäquaten Zusammenarbeit der drei Ebenen vor, indem er auf der Grundlage seiner Beobachtungen darauf verweist, dass solch eine Form der Zusammenarbeit noch nicht bestehe. Seiner Meinung nach fehle zurzeit die notwendige Unterstützung zur Schaffung von Freiräumen für die bildungsbereichsübergreifende Arbeit. Der Experte verwendet dabei die lexikalisierte Metapher ,Schützenhilfe', welche die Deutung bestärkt, dass engagierte Akteurinnen und Akteure bei der bildungsbereichsübergreifenden Zusammenarbeit nicht die notwendige Unterstützung (wie z. B. durch ihre Organisation oder einen politischen Auftrag) erhalten. Die Konsequenz daraus scheint zu sein, dass eine bildungsbereichsübergreifende Zusammenarbeit nur in Einzelfällen realisiert werden könne („dass hier nich&nich genügend Schützenhilfe da is und das es immer nur so Einzel&Einzeldinge sind(.)“, Z. 558-559).
Bei genauer Betrachtung der beiden Behauptungen kann konstatiert werden, dass diese sich inhaltlich auf die Zusammenarbeit innerhalb eines Bildungsbereichs (pädagogische Fachkräfte, Bildungseinrichtungen, Bildungspolitik) beziehen. Müller formuliert dabei bildungsbereichsinterne Prämissen, die scheinbar erst erfüllt sein müssen, damit in einem nächsten Schritt eine bildungsbereichsübergreifende Zusammenarbeit ermöglicht werden kann. [3] Die Thematisierung und z. T. Hervorhebung der bildungspolitischen Ebene lässt vermuten, dass für eine Zusammenarbeit im Kontext der Institutionalisierung des lebenslangen Lernens aus Sicht des Experten ein politisches Mandat benötigt wird, das entsprechende Aktivitäten auf der organisationalen und personellen Ebene legitimiert.
Bei der Rekonstruktion der Argumentation ist auffällig, dass der Informant zwei Behauptungen aneinanderreiht, aber keine Begründungsoder Belegaktivität vornimmt. Diese Vorgehensweise kann damit erklärt werden, dass Müller sich eher als Beobachter versteht und hier nun die Ergebnisse seiner Beobachtung in Form von Behauptungen präsentiert, diese jedoch nicht durch Begründungen zu fundieren vermag. Müller wendet in diesem Subsegment eine kausale Argumentation [4] an. Dabei stellen die beiden Behauptung die beobachteten Ursachen dar, aus denen er die in der Konklusion enthaltene Wirkung ableitet.
Gleichzeitig kann auch von einer konditionalen Argumentation [5] gesprochen werden, da die beiden Behauptungen die Prämissen für eine bildungsbereichsübergreifende Zusammenarbeit darstellen: Würde auf der Ebene der Organisation und der Politik die Bereitschaft für eine Zusammenarbeit geschaffen, Freiräume für diese Zusammenarbeit eröffnet sowie eine Verzahnung der Ebenen der pädagogischen Fachkräfte, Organisation und Bildungspolitik innerhalb eines Bildungsbereichs vollzogen, dann sei eine bildungsbereichsübergreifende Zusammenarbeit möglich.
- [1] Die staatlichen Schulämter als untere Schulaufsichtsbehörde sorgen u. a. für die Beachtung der Rechtsund Verwaltungsvorschriften sowie für die Verwirklichung der Bildungsund Erziehungsbeauftragung der Schulen (vgl. Hessischer Kultusminister 1985).
- [2] „Lexikalisierte Metaphern sind den Angehörigen einer Sprachgemeinschaft im Sprachgebrauch meist nicht als metaphorisch motivierte Bezeichnungen bewusst. Denn die metaphorische Bedeutung ist längst zu einer konventionellen Bedeutung geworden, die gleichberechtigt zum Lexikoneintrag gehört“ (Skirl & Schwarz-Friesel 2007: 28).
- [3] Die Zusammenarbeit von Einrichtungen unterschiedlicher Bildungsbereiche spricht der Experte konkret im nachfolgenden Subsegment 4.2 an
- [4] Ein kausales Argument ist ein induktives Argument „(...) bei dem aus beobachteten Wirkungen auf die Ursache oder aus beobachteten Ursachen auf die Wirkungen geschlossen wird“ (Bayer 1999: 235). Dabei bedeutet Induktion einen Schluss oder ein Argument, „(...) bei dem eine Konklusion aus Prämissen abgeleitet wird, die den Gehalt der Konklusion nur teilweise enthalten. Die Prämissen beschreiben dabei z. B. ein(ige) Teil(e), etwas Besonderes oder Individuelles, die Konklusion, das Ganze, etwas Allgemeines oder Universelles“ (a.a.O.: 234).
- [5] Ein konditionales Argument ist „(...) eine Argumentform mit einer konditionalen Prämisse und einer weiteren Prämisse, die eine der Teilaussagen des Konditionals enthält“ (a.a.O.: 235-236). Dabei versteht man unter einem Konditional eine „(...) aussagelogische Verknüpfung zweier Aussagen p und q, die nur dann falsch ist, wenn p wahr und q falsch ist. Die in umgangssprachlichen Formulierungen meist mit ,wenn' eingeleitete Teilaussage p des Konditionals bezeichnet man als Antecedens, die umgangssprachlich meist mit ,dann' eingeleitete Teilsaussage q als Konsequens“ (a.a.O.: 235)