Abhängigkeit bildungsbereichsübergreifender Zusammenarbeit von den Interessen und Funktionen der beteiligten Einrichtungen (Z. 559-581)

Nachdem Müller sich im vorherigen Subsegment auf die Zusammenarbeit zwischen den Ebenen der pädagogischen Fachkräfte, der Bildungseinrichtungen und der Bildungspolitik innerhalb eines Bildungsbereiches bezieht und dabei Prämissen für eine bildungsbereichsübergreifende Zusammenarbeit definiert, stellt er nun die Zusammenarbeit zwischen Organisationen verschiedener Bildungsbereiche in den Mittelpunkt seiner Argumentation. In diesem Subsegment geht er auf die Fragestellung der Interviewerin hinsichtlich seines Verständnisses einer bildungsbereichsübergreifenden Förderung lebenslangen Lernens ein, jedoch nicht in Form einer Definitionsdarlegung, sondern in Form einer Problematisierung der in der Fragestellung implizit enthaltenen Behauptung, dass die bildungsbereichsübergreifende Zusammenarbeit förderungswürdig sei.

Mit der Relevanzmarkierung „und ahm dann ist es auch wohl wichtig(‚)“ (Z. 559) leitet der Experte seine Behauptung ein. Müller ist der Auffassung, dass eine bildungsbereichsübergreifende Zusammenarbeit einen Vorteil für die beteiligten Bildungsorganisationen erbringen muss („dass ich aus dem Kontext der eines&einer Bildungssphäre Schule(') Hochschule(') betriebliche Bildung(') dass ich ahm dort ahm die&die Dinge die(') das andere einbringen kann auch wirklich sinnvoll (voll?) nutzen kann(.)“, Z. 560-563) [1]. Mit dieser Behauptung nimmt der Experte eine utilitaristische Position ein, die seine Argumentation erschwert, da der Nutzen einer Zusammenarbeit zu Beginn nicht eindeutig definierbar ist. Zwar können am Anfang Erwartungen an eine Kooperation gestellt werden, jedoch ist es ungewiss, ob diese im Verlauf der Kooperation erfüllt werden. Die Bewertung einer Kooperation hinsichtlich ihres Nutzens kann erst erfolgen, wenn die Zusammenarbeit eine gewisse Zeit stattgefunden hat. Die von Müller vertretene utilitaristische Perspektive birgt die Gefahr, dass eine Kooperation aufgrund der Nichtvorhersagbarkeit des Nutzens erst gar nicht zustande kommt. Ferner weist diese Betrachtungsweise auf eine Übernahme von ökonomieorientierten Begriffen in die Sinnwelt des pädagogischen Diskurses hin. Da der Nutzenaspekt auch in Förderprogrammen proklamiert wird, kann es sich hierbei um eine Kategorie des Arbeitsfeldes von Müller handeln. Die Formulierung „dass ich ahm dort ahm die&die Dinge die(') das andere einbringen kann(.)“ (Z. 561-562) deutet auf potenzielle Kooperationsleistungen der jeweiligen Akteurinnen und Akteure hin. Dabei können sich das Adverb „dort“ (Z. 562) und die Beschreibung „das andere einbringen“ (Z. 562) darauf beziehen, dass Kooperationsleistungen einer Einrichtung in ein gemeinsames Vorhaben eingebracht werden und zwar mit dem Ziel der ,sinnvollen' Nutzung („wirklich sinnvoll (voll?) nutzen kann(.)“ Z. 562-563). Die Verwendung des Adjektivs ,sinnvoll' stellt eine Dopplung zum Nutzen dar, da dieser an sich bereits als sinnvoll charakterisiert werden kann. Diese Akzentuierung ist eine Steigerung, um die Bedeutung des Nutzens zu betonen. Müller gebraucht zudem die Formulierung „wirklich“ (Z. 562), die im angewendeten Kontext zwei Bedeutungen einnehmen kann: Sie kann sowohl die Funktion eines Adjektivs im Sinne von

,etwas tatsächlich sinnvoll nutzen', als auch die Funktion eines Adverbs, die den Nutzen nochmals verstärkt, einnehmen. Erstere würde eine bisherige ,sinnvolle Nutzung' infrage stellen. Die zweite Funktion würde die bereits angeführte Deutung, dass der Nutzen einer Kooperation einen hohen Stellenwert im Relevanzsystem des Experten einnimmt, bestärken. Eine Differenzierung der Adressatinnen und Adressaten, welche die Kooperationsleistungen ,sinnvoll nutzen', findet nicht statt.

Eingeleitet durch das formale Rahmenschaltelement „also“ (Z. 565) spezifiziert der Experte in den Zeilen 565 bis 567 seine Behauptung anhand eines Beispiels. Er versucht den Vorteil einer bildungsbereichsübergreifenden Zusammenarbeit exemplarisch für die betriebliche Ausbildung zu verdeutlichen, was schwierig zu sein scheint. Hierauf verweist zum einen der Abbruch in Zeile 565 („also in der Lehrlingsausbildung(') die ahm muss dann auch“) und der darauf folgende Einschub zur Konkretisierung der Lehrlingsausbildung („ah wenn das Training on the Job ist(')“, Z. 565-566 [2]). Daran anschließend stellt der Informant eine Frage zum Ziel der bildungsbereichsübergreifenden Zusammenarbeit („dann wieso sollen die was mit Schulen oder mit der Uni was machen(?)“, Z. 566-567). Er beantwortet die von ihm gestellte Frage jedoch nicht. Vor dem Hintergrund der Behauptung suggeriert die Frage jedoch die Antwort, dass ein Betrieb nur mit einer Schule oder Hochschule zusammenarbeiten würde, wenn er selbst einen Vorteil davon hat. Falls der Interviewpartner diese Intention mit seiner Fragestellung verfolgt, würde er somit seine Behauptung, dass eine bildungsbereichsübergreifende Zusammenarbeit einen Nutzen für die beteiligten Akteurinnen und Akteure erbringen müsse, bestärken.

Da für den Informanten der Nutzenaspekt bei einer bildungsbereichsübergreifenden Zusammenarbeit von Bedeutung ist, er aber – wie die Spezifizierungsaktivität aufgezeigt hat – selbst nicht in der Lage ist, den Nutzen einrichtungsspezifisch zu konkretisieren, formuliert er im Rahmen einer neuen Behauptung eine Forderung, die es ihm ermöglicht seine Argumentation fortzusetzen. Müller ist der Meinung, dass sich das „Anforderungsprofil“ (Z. 568) der beteiligten Einrichtungen verändern müsse („also dann ah(-) das heißt auch(') dass das Anforderungsprofil ah sich ah an den einzelnen Stellen verändern muss(.)“, Z. 567-568). Dabei ist nicht eindeutig feststellbar, was der Interviewpartner konkret unter dem Begriff ,Anforderungsprofil' sowie unter der Formulierung ,an den einzelnen Stellen verändern muss' versteht. Denkbar wäre, dass Müller die Position vertritt, dass die Bereitschaft zu einer bildungsbereichsübergreifenden Zusammenarbeit bei Organisationen, die im Rahmen ihres bisherigen Bildungsauftrages nicht zwingend auf eine Kooperation angewiesen waren, nicht per se vorhanden sein muss. Da sich der Nutzen einer solchen Zusammenarbeit offenbar nur schwierig definieren lässt, scheint die Notwendigkeit zur Kooperation auf eine andere Weise hergestellt werden zu müssen, und zwar indem sie als Anspruch an die Bildungseinrichtungen gestellt wird. Die Zusammenarbeit erhält damit einen eher oktroyierenden Charakter. Dabei stellt sich die Frage, wer diese Bedingungen festlegen kann. Eine Möglichkeit ist, dass die politische Ebene

durch entsprechende Gesetze und finanzielle Förderung neue Anforderungen an die Einrichtungen der verschiedenen Bildungsbereiche definiert. [3]

In den Zeilen 567 bis 581 begründet Müller unter dem Zugzwang des Berücksichtigens und Abwägens seine Forderung. Zunächst führt er seinen Gedankengang, dass sich die Bildungseinrichtungen im Kontext einer Kooperation einem Veränderungs-/Entwicklungsprozess unterziehen müssten, weiter fort und deutet eine Schwierigkeit in diesem Zusammenhang an, die es seiner Auffassung nach zu beachten gelte („und da haben wir ja ein bisschen ne Schwierigkeit(') dass wahrscheinlich lebenslanges Lernen wird zu so ner rundum&ahm“, Z. 568570). Es handelt sich hierbei um eine Negativprognose, die der Informant vorerst nicht vollendet. Er unterbricht diese durch einen mit einem schnellen Anschluss erfolgenden Einschub, der eine essenzielle Zielsetzung berücksichtigt, die der Experte mit der institutionellen Umsetzung lebenslangen Lernens verbindet (vgl. Z. 570-573). Seines Erachtens solle das Individuum im Mittelpunkt organisationaler Bestrebungen zur Förderung des lebenslangen Lernens stehen. Dabei liege die Zielsetzung in der (gleichzeitigen) Inklusion der Lernenden in Einrichtungen mehrerer Segmente des Bildungssystems. Das heißt, dass das Individuum z. B. im Laufe seiner Ausbildung [4] eine Vielzahl an institutionellen Möglichkeiten aus verschiedenen Segmenten des Bildungssystems zur Verfügung haben müsse, um Wissen zu generieren bzw. zu reflektieren. Indem Müller bei seinen Ausführungen die Perspektive der Lernenden einnimmt, ergänzt er die im vorherigen Subsegment bereits angeführten Ebenen der pädagogischen Fachkräfte, der Bildungseinrichtungen und der Bildungspolitik um die Ebene der Lernenden. Alle angeführten Ebenen scheinen für ihn bei der Förderung des lebenslangen Lernens eine zentrale Rolle zu spielen. Der dargestellte Einschub hat die Funktion, die unterbrochene Negativprognose zu untermauern, die der Informant anschließend in den Zeilen 573 bis 581 zu Ende führt. Für Müller stehe die von ihm formulierte generelle Zielsetzung des lebenslangen Lernens, nämlich die (gleichzeitige) Inklusion der Lernenden in Einrichtungen mehrerer Segmente des Bildungssystems in einem Missverhältnis zu den jeweiligen Funktionen und Interessen der unterschiedlichen Bildungseinrichtungen, wie die Zeilen 573 bis 577 abbilden („aber die Schule hat eher ein Interesse(') ein Zertifikat auszustellen und da will dabei nicht gestört sein und der Betrieb hat Interesse jemanden für seinen Betrieb nur zu nutzen und die Uni will das Hochschulzertifikat erstellen(.)“). Damit wird die bereits angeführte Lesart bestätigt, dass unter dem Begriff ,lebenslanges Lernen' unterschiedliche Interessen und Zielsetzungen subsumiert werden können.

Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass die von Müller formulierte Negativprognose eine Begründung seiner Forderung darstellt. Sie verdeutlicht, dass nach Auffassung des Informanten für eine bildungsbereichsübergreifende Zusammenarbeit die extern geregelten Anforderungsstrukturen der Bildungseinrichtungen verändert werden müssten, da ansonsten die unterschiedlichen Interessen der beteiligten Akteurinnen und Akteure die von ihm formulierte generelle Zielsetzung des lebenslangen Lernens (die gleichzeitige Inklusion der Lernenden in mehrere Segmente des Bildungssystems) und damit verbunden eine bildungsbereichsübergreifende Zusammenarbeit konterkarieren würden.

  • [1] Dass sich Müller hier auf die Lernorte Schule, Betrieb und Hochschule bezieht, mag darin begründet liegen, dass er im Subsegment 3.3 ein Kooperationsprojekt zwischen einer Schule, einem Betrieb und einer Hochschule vorstellt, welches von ihm als ein Vorzeigeprojekt im Kontext der bildungsbereichsübergreifenden Zusammenarbeit zur Förderung des lebenslangen Lernens bewertet wird
  • [2] Mit diesem Einschub deutet der Experte an, dass er sich im Rahmen der dualen Berufsausbildung auf den Lernort Betrieb und nicht auf den Lernort Berufsschule/Berufskolleg bezieht
  • [3] Ein Beispiel hierfür stellt die „Novellierung des Gesetzes zur Förderung der Weiterbildung und des lebenslangen Lernens im Land Hessen (Hessisches Weiterbildungsgesetz (HWBG) vom 25. August 2001 (GVB1. I S. 370), geändert durch Gesetz vom 26. Juni 2006 (GVB1. I S. 342)“ dar
  • [4] Müller bezieht sich in seiner Erläuterung lediglich auf die Ausbildungszeit und nicht auf die gesamte Lebensspanne, die lebenslanges Lernen impliziert. Dies könnte darin begründet sein, dass er sich gedanklich auf die zuvor genannten Lernorte Schule, Hochschule und Betrieb bezieht und dementsprechend die berufliche Erstausbildung vorrangig betrachtet
 
< Zurück   INHALT   Weiter >