Das kurze Interview zur Sache und zur Person
Der folgende Text gilt für kurze Interviews mit Alltagspersonen von etwa acht bis zehn Minuten Länge. Befragt werden z.B. eine Krankenschwester, der Fahrer eines Müllabfuhrwagens, der Besitzer eines Bestattungsinstituts, eine Sozialhilfeempfängerin auf der Behörde, ein Postbote, ein Bettler. Gute Beispiele sind die auf Interviews beruhenden Berichte in dem stilbildenden Buch „Working“ von Studs Terkel (1975); eine wenig überzeugende deutsche Kopie ist der Band „Arbeit. Fünfzig deutsche Karrieren“ (Federspiel und Weiss 1990). Es werden Berufe/Rollen durch Personen, die sie ausüben, vorgestellt: Berufsoder Tätigkeitsbilder. Es sind demnach Interviews zur Person und zur Sache.
Der große Vorteil dieser Form ist, dass sich die Empfänger mit der befragten Person mehr auseinandersetzen als mit einer prominenten, wenn sie zur Sache befragt wird. Sie können sich in deren Problemen wieder erkennen oder verdutzt sein, dass der Beruf schwieriger oder leichter ist als sie dachten. Diese Form ist für drei Arten von Sendungen geeignet:
1. Vorstellen einer Institution, z.B. Theater, Keksfabrik, Krankenhaus, Fitness-Studio, Automobilfabrik. Es ist ein Blick hinter die Kulissen durch Interviews mit Beschäftigten.
2. Eine Sendung, in der Personen vorgestellt werden, die alle mit einem Thema oder Ort etwas zu tun haben, z.B.: Friedhofsbesucher, Pastor, Bestattungsunternehmer, Steinmetz, Busfahrer einer Linie, die zum Friedhof fährt, Totengräber, Blumengeschäft, Kellnerin in einem Restaurant, in dem der Leichenschmaus stattfindet, Leute auf dem Bahnhof. Hierzu gehören aber auch Interviews als Teile eines längeren Features, zum Beispiel mit Überlebenden von Auschwitz oder über das Verarbeiten des Zweiten Weltkriegs.
3. Die Sendung „Leute“ des SWR oder eine (fiktive) Sendung „Nachbarn“, in der Alltagspersonen vorgestellt werden; die TV-Sendung
„Gernstl unterwegs“ des BR kommen dem nahe. Es kann also entweder darum gehen, das „Besondere“ an einer Person oder deren Beruf über die Person darzustellen. Entsprechend wird der Anteil der Fragen zur Person geringer oder höher sein.
Solche Interviews finden nicht im Studio sondern am Arbeitsplatz oder in der Wohnung der befragten Person oder in deren Lieblingscafé statt. Daher ist es sinnvoll, in allen drei Formen auch reportierende Elemente einzubeziehen, um den Arbeitsplatz oder die Tätigkeit während des Interviews zu schildern. Dazu ist es in den meisten Fällen sinnvoll, vor dem Interview den Befragten bei seiner Tätigkeit zu beobachten.
Das Vorgespräch kann knapp sein. Es kommt vor allem darauf an, Vertrauen zu schaffen, einen guten Rapport. Das erreichen Sie nicht durch geschlossene, sondern nur durch offene Fragen und bestätigendes Kopfnicken. Reden Sie nicht zu viel, denn Redegewandtheit kann auch einschüchtern. Sie werden es häufig mit Personen zu tun haben, die noch nie interviewt wurden, sich daher fragen, warum sie denn „in's Radio oder Fernsehen kommen“. (Dabei wäre die bessere Frage, warum sie so selten vorkommen!) Vertrauen zu schaffen gelingt Ihnen auch, wenn Sie etwas von sich erzählen: Nicht nur nehmen, sondern auch geben.
Die vier Fragen oder Grundpfeiler, um die herum Sie Ihr Interview zur Person aufbauen können, lauten:
• Was tut die Person?
• Warum tut sie das?
• Welche Schwierigkeiten hat sie dabei?
• Wie überwindet sie diese Schwierigkeiten?
Mit diese vier Fragen könnten Sie auch ohne große Vorbereitungen ein halbwegs interessantes Interview führen. Weitere typische Punkte, die angesprochen werden können, sind:
• Von wem hängt Person B ab?
• Wer hängt von Person B ab?
• Welche Fehler kann B machen, und welche Folgen hat / hätte das?
• Welche Eigenschaften sind für diese Tätigkeit am wichtigsten?
• Was erzählt sie von der Arbeit, wenn sie abends nach Hause kommt?
• Sie haben Schichtarbeit: Worauf müssen sie verzichten?
• Was täte die Person lieber?
• Zukunftspläne?
�Fragen Sie nicht den Bühnenmaler „Was sind Ihre Aufgaben“, sondern:
„Wie ist dieses Bühnenbild entstanden?“
�Fragen Sie schon gar nicht, ob dies der „Traumberuf“ der befragten Person sei. Die Antwort ist ohnehin „Nein“, denn wer kennt schon – und hat dann gar – seinen Traumberuf?
�Bewährt hat es sich, das Interview zu gliedern. Das kann mit Hilfe von Formulierungen wie „Wir haben jetzt über ... gesprochen, wie ist es denn nun mit ...” geschehen. Sie strukturieren auch mit Fragen wie
„Bleiben wir noch bei dieser Zeit. Was war ...?”oder „Wir sind jetzt in welchem Jahr?”.
--Fragen Sie sich: Warum interviewe ich diese Person?
--Welchen Aspekt aus dem Leben einer Person will ich herausgreifen? Warum diesen? Beispiel aus einem Interview mit Innenminister Wolfgang Schäuble aufgrund seiner Vorschläge zur Datenerfassung: „Wovor haben Sie Angst?“
--Verfolgen Sie Entscheidungen, die eine Person getroffen hat.
--Erfragen Sie möglichst keine Fakten – die sollte Sie aus der Recherche und/dem Vorgespräch kennen – sondern stellen Sie Fragen zu Fakten.
--Sehen Sie sich andere Interviews an, die diese Person gegeben hat. Sehen Sie sich Interviews an, die Personen in der gleichen Position oder im gleichen Beruf gegeben haben.
Formulierungen wie „Wir haben jetzt über ... gesprochen, wie ist es denn nun mit ...” geschehen. Sie strukturieren auch mit Fragen wie „Bleiben wir noch bei dieser Zeit. Was war ...?”oder „Wir sind jetzt in welchem Jahr?” Aus einem Interview mit der Leiterin einer Bahnhofsmission, die danach gefragt wird, wer in die Mission kommt, worauf sie zuerst etwas über die Reisenden erzählt: „Das sind die Reisenden. Wer kommt noch zu Ihnen?“
Es hat sich bewährt, das Interview zu gliedern. Das kann mit Hilfe von Formulierungen wie „Wir haben jetzt über ... gesprochen, wie ist es denn nun mit ...” geschehen. Sie strukturieren auch mit Fragen wie „Bleiben wir noch bei dieser Zeit. Was war ...?”oder „Wir sind jetzt in welchem Jahr?”.
Ein möglicher Aufbau eines solchen Interviews ist, Fragen nach dem
„Tun“ zu stellen. Das bringt den Befragten zum Erzählen. Stellen Sie dann Fragen nach der Bewertung der Arbeit, erfragen Sie dann Beispiele für Konflikte oder Erlebnisse in der Arbeit und schließlich (wenn überhaupt) Fragen nach dem Privatleben, z.B. wie die Familie die Tätigkeit beurteilt.
Seien Sie jedoch vorsichtig mit Fragen nach der Ausbildung: Es könnten zu lange und wenig informative Antworten kommen. Es ergeht Ihnen dann nicht besser, als wenn Sie Schauspieler nach ihren bisherigen Rollen fragen. Ebenso haben sich Fragen nach der Freizeit oder Hobbys nur selten als fruchtbar herausgestellt. Was wissen wir schon mehr, wenn die befragte Person uns sagt, sie spiele Tennis oder Fußball oder ginge gerne Tanzen? Es sei denn, wir hängen noch ein „Wieso ausgerechnet das?“ an.
Bei den Trainings fiel uns auf, dass die Interviewer noch immer zu sehr vor der Person stehen bleiben und Furcht haben, ihnen scheinbar unangenehme Fragen zu stellen. Diese falsche Scheu lässt sich überwinden, wenn die Interviewerin Schlussfolgerungen aus den Äußerungen des Befragten zieht, beispielsweise „Sie haben mir ... und ... gesagt. Wenn das so ist – macht Ihnen Ihr Job überhaupt Spaß?“ Wenn derartige Fragen nicht aggressiv, sondern mit weicher Stimme formuliert werden, überfällt die Interviewerin den Befragten nicht von außen mit ihren Wertungen, sondern nur immanent mit den Schlussfolgerungen aus dem Material, das ihr der Befragte geliefert hat. (Vgl. hierzu auch den Punkt „Intimität“ im Kap. 25.)
Ferner ist uns aufgefallen, dass die Sprache in den Interviews noch viel zu wenig anschaulich und alltäglich ist: Es häufen sich Wörter wie „konkretes Beispiel“, „Bereich“ oder Formulierungen wie „parteipolitisch“. Da hilft nur, neben den Beispielen auch eine Sprache zu wählen, die den Hörer bzw. Zuschauer sehen lässt, was eine Person im Amt tut. Uns interessiert nicht, dass sich der Pressesprecher des Magistrats der Stadt Kassel mit dem Oberbürgermeister absprechen muss, sondern wie ein Gespräch dieser Art vor sich geht und in welcher Weise sie im Gespräch sich darüber abstimmen konnten, was der Pressesprecher später den Journalisten zu erzählen hat. Wir wollen ja auch nicht wissen, was ein Amt tut, sondern was die Person in dem Amt tut. Deshalb sollten wir uns nicht scheuen, Fragen zu stellen, die so anschaulich sind wie: „Wer schreibt Ihnen Briefe?“ „Was steht da drin?“ und „Was antworten Sie?“ oder: „Sie wurden nun von einem Jüngeren interviewt, der diese Zeit gar nicht kennt. Was empfinden Sie dabei?“ Eine einfache Hilfe, anschaulich zu formulieren, ist, sich während des Zuhörens zu fragen: Kann ich es sehen?
Anschaulich sind auch szenische Einstiege, z.B. „Was sieht eine Kundin, wenn sie in Ihren Laden kommt?“ In einem Interview mit der Leiterin des „Museums für Sepulkralkultur” in Kassel bat eine Journalistin die Leiterin, sich vor eine Holzschnittserie „Totentanz” zu stellen und fragte dann: ”Frau S., wir stehen jetzt vor einem Ihrer Lieblingsobjekte, einer Serie von Holzschnitten, die sich mit dem Tod beschäftigen. Warum ist diese wichtig für Ihr Museum?” Dieser Einstieg ist dreifach gelungen: er ist anschaulich, er bringt die Befragte dazu, zu schildern, und er zeigt an einem Beispiel die Aufgaben des Museums.
Schließlich ist es wichtig, sich vor dem Interview über seine eigenen Einstellungen und Vorurteile zu dem Beruf und der zu befragenden Person klar zu werden. Pointiert schreibt Horst-Eberhard Richter (2009): „Verstehen ist nur möglich, wenn man sich annähert. Doch in Wirklichkeit ist die Nähe schon da. Arthur Schopenhauer hat dafür einmal eine Erklärung gegeben: Wer in das Tiefinnerste seiner ärgsten Widersachers eindränge, würde darin zu seiner Überraschung sich selbst entdecken. Das ist der heikle Punkt. Man kann nur verstehen, indem man sich einfühlt und dabei etwas Eigenes entdeckt, was der Andere widerspiegelt. Wichtig ist aber nun, dass man selbst unter Kontrolle hat und bewahrt, was von dem anderen Besitz ergriffen hat. Dann kann man verstehen, ohne es zu billigen“.
Auch das kurze Interview zur Person erfordert, seine eigenen Gefühle zurückzustellen, zumal dann, wenn sie denen der befragten Person entgegengesetzt sind. Wer sich kontrolliert, kann auch besser zuhören und wird auch eher bereit sein, so offen zu fragen, dass der/die Befragte auch die Meinungen oder Leitbilder (vgl. Kapitel 25) des Interviewers widerlegen kann. Ist der Interviewer sich seiner Vorurteile bewusst, kann er sie produktiv verwenden, indem er hieraus Fragen formuliert, sie damit zugleich auch „fraglich” macht.
Nach unseren Erfahrungen sollten solche Interviews besser nicht live geführt werden. Dafür gibt es mehrere Gründe. Es lässt sich so besser Vertrauen schaffen und halten; Sie haben mehr Zeit und Ruhe. Sie können sich auch Pausen leisten, was sonst im Hörfunk live nicht möglich ist. Ferner: Das Interview kann „mäandern“, weil Sie die Möglichkeit haben, Fragen nochmals zu stellen, weitere Beispiele abzufragen oder Schilderungen zu wiederholen. Aus den zehn aufgezeichneten Minuten können Sie dann im Schnitt gut sechs bis acht „schöne“ Minuten machen.
Für diese Ratschläge nun einige Beispiele. Das erste Interview (40) hat einen guten bildhaften Einstieg (1).
Interview 40
Interview-Werkstatt, Hannover, 3. 12. 2008 Anja H. – Lydia N., JVA in K. (Name geändert)
Anmoderation: Schönen guten Abend zu unserer Sendereihe
„Frauen im Beruf“. Heute ist bei uns Lydia N. zu Gast. Sie ist 31 Jahre alt und arbeitet in der Justizvollzugsanstalt in K. Frau N., wenn ich morgens zur Arbeit komme, dann gehe ich am Pförtner vorbei, grüße freundlich und gehe dann durch die Flure des Funkhauses bis in mein Büro. Wenn Sie zur Arbeit gehen, denke ich mir, ist das ein bisschen anders. Beschreiben Sie mal den Weg vom Gefängnistor bis zu Ihrem Arbeitsplatz. 1
B: Naja, so viel anders ist es jetzt nicht. Ich komm auch durchs Tor und grüße auch freundlich, natürlich und laufe dann auf die Station oder je nach dem, wo ich eingesetzt bin, äh, zu meinem Posten, äh, und übernehme da von den Kollegen den Dienst, weil wir haben immer etwas zu übergeben. Dadurch, dass rund um die Uhr besetzt ist.
I: Aber haben Sie nicht ganz viele Türen aufund zuzuschließen? 2
B: Mhm, ja, okay, das vergisst man irgendwie so mit dem Laufe der Zeit ne, also logisch, wir müssen alles aufund zuschließen.
I: Wissen Sie, wie viele Türen das sind? 3
B: Also durch vier Türen werde ich schon durch gedrückt, da geht alles nur mit 'nem Summer. Da hab ich gar keinen Einfluss drauf. Und, ähm, noch mal drei, vier Türen müsste ich dann schließen.
I: Also ist es doch nicht ganz so einfach zu Ihrem Arbeitsplatz zu gelangen. 4
B: Nicht ganz so einfach.
I: Sie sind seit acht Jahren im Gefängnis, arbeiten dort. Ähm, wann haben Sie sich entschlossen diesen Beruf zu wählen? 5
B: Das war ‚ne ganz spontane Entscheidung eigentlich ne. Also ich hatte Einzelhandelskauffrau gelernt und wollte auf gar keinen Fall in diesem Beruf bleiben, weil mir das gar nicht zugesagt hat. Und dann habe ich mich umgeschaut, was ich machen könnte. Und, äh, hatte 'ne Bekannte, die halt schon in der JVA in K. tätig war und, ähm, die hatten zu der Zeit halt auch gesucht. Und da dacht ich, Mensch, Justiz, JVA, das hört sich doch ganz interessant an, Beamtenstatus auch noch. Sicher für 'ne Frau, wenn man mal ein Kind bekommen möchte, ähm, hab ich 'nen sicheren Arbeitsplatz, kann danach wieder an meinen Arbeitsplatz zurückkehren, ohne dass ich mir Gedanken zu machen brauche für die Zukunft halt. Ja und dann hab ich mich beworben und dachte, schauen wir mal, ob das alles so klappt und ja, hat geklappt und jetzt bin ich dort seit acht Jahren.
I: Sie sagen, die Sicherheit als Beamtin hat eine Rolle gespielt. Nun hätten Sie als Beamtin auch in eine Verwaltung gehen können zum Beispiel. Was hat Sie genau an dieser Aufgabe in einem Gefängnis gereizt? 6
B: Äh, dass man halt eigentlich gar nicht wusste, was man, was einen dort erwartet.
I: Also einfach neugierig? 7
B: Genau, Neugierde. Genau, Neugierde, ist halt was ganz anderes. Viele gehen zur Polizei, Polizei wollen ja auch ganz viele Leute und, äh, kennt man ja, sieht man auf der Straße ständig, äh, Bürojob ist nicht so meine Stärke gewesen, würde mich auch überhaupt nicht glücklich machen und dacht ich ja, JVA ist halt was ganz anderes, ne.
I: Mit was für Vorstellungen sind Sie denn dahin gegangen? 8
B: Mhm, Vorstellungen hatt' ich so gar keine, weil ich mir überhaupt keine Vorstellungen machen konnte davon, ne. Also als ich das erste Mal dann in diese Räumlichkeiten gekommen bin, war ich total beeindruckt halt, ne. Also erstmal hat es ganz merkwürdig gerochen. Das ist ja alles irgendwie ein riesen Komplex und alles verschlossen ist, ne, und nicht ständig gelüftet wird, wie man das eigentlich so hat. Überall ist ja sonst alles offen.
I: Wonach riecht es? 9
B: Es riecht einfach muffig, ne, man, mit der Zeit riecht man es eigentlich nicht mehr, aber so das erste Mal und halt diese ganzen Leute, die ja eigentlich auch da 'rum laufen, die ganzen Inhaftierten, ähm, wo man sich denkt, ja, das sind alles Kriminelle eigentlich, die haben alle ne Straftat begangen, sind hier und da laufen 50 Leute um einen rum. Und, äh, das fand ich schon alles sehr beeindruckend irgendwie.
I: Auch beängstigend? 10
B: Äh, zum Anfang musste ich mich erst daran gewöhnen, muss ich ganz ehrlich sagen. Also ich war sehr vorsichtig mit allem und hab immer probiert alles im Auge zu behalten, aber das geht natürlich nicht bei so vielen Menschen. Und, ähm, mittlerweile nimmt man das halt nicht mehr so wahr, ne, man kennt es ja und, äh, geht halt auch jetzt ganz anders ran.
I: Wie gehen Sie da jetzt ran? 11
B: Wesentlich selbstbewusster, weil ich halt durch diesen Beruf bestimmt auch selbstbewusster geworden bin und auch ein bisschen schlagfertiger so in den Antworten, wenn die Männer dann da so Sprüche machen gegenüber den Frauen. Wird man ja schon so ein bisschen schlagfertig.
(...)
I: Sie haben vorhin gesagt, Sie fanden es am Anfang schon beängstigend. Gibt es oder ist es schon mal zu gefährlichen Situationen gekommen?
B: Mhm, ich persönlich hatte nur eine Situation, als ich in der Ausbildung war, wo ich halt Herzrasen hatte, innerlich, aber mir halt gedacht habe, jetzt nur nicht Schwäche zeigen, weil halt viele Inhaftierte auch drum rum standen und, ähm, mir halt einer so fünf cm vorm Gesicht stand und, eh, ich mit dem dann so ein Streitgespräch hatte, mehr oder weniger, weil er was wollte. Ich hab gesagt, das gibt es nicht und, ähm, ja, er kam immer näher ran und dann dachte ich mir innerlich, nee, auf gar keinen Fall nachgeben. Das zeigt Schwäche, schön hart bleiben. Hätte aber auch gut nach hinten losgehen können und ich hätte mir irgendwie ‚ne Ohrfeige oder irgendwas einfangen können. Ist zum Glück nicht passiert, der hat's dann eingesehen und ist gegangen.
I: Wie werden Sie denn in Ihrer Ausbildung auf solche gefährlichen Situationen vorbereitet?
B: Wir haben speziell eine Ausbildung in Jiu-Jitsu, was wir im Vierteljahr immer einmal machen auf jeden Fall, äh, immer wieder auffrischen. In der Ausbildung selber machen wir es halt öfter. Und, ähm, dann auch mit Situationstraining, wo nachgebildet wird, wie so ein Haftraum eingerichtet ist und dann, was passieren könnte zum Beispiel. Mhm, worauf man achten sollte, was man vielleicht vergisst, wenn man in so 'nen Raum reingeht.
I: Was ist das für eine Situation, die da entstehen kann, in so einem Raum?
B: Oh, das kann ganz viel sein. Also es kann sein, dass dann irgendwie einer nur was mitteilen möchte, ohne irgendwelche Hintergedanken, man möchte ihm einfach nur mitteilen, dem Inhaftierten, dass er verlegt wird oder, ne, ähm, dann in den Raum geht und eigentlich, ja, eigentlich gar nichts im Hinterkopf hat. Dann wieder rausgeht und gar nichts gesehen hat und in Wirklichkeit lagen überall irgendwo versteckt irgendwelche Waffen oder, ja, selbst gebaute Waffen halt, die er jederzeit hätte einsetzen können gegen uns. Und, dass man halt so blind da reingeht. Und, dass man halt aufmerksamer ist, worauf man so achtet, dass man sich immer umsieht. Auch, wenn man jetzt, äh, den Gefangenen als freundlich kennt, trotzdem immer ein offenes Auge haben und jede Kleinigkeit beachten.
I: Also man muss auch schon ein gesundes Misstrauen mitbringen?
B: Also ich denke schon. Man sollte auf keinen Fall vergessen, wo man arbeitet, das passiert natürlich schnell, wenn man länger dabei ist und dieser Alltag einkehrt, ähm, sollte man immer noch im Hinterkopf behalten, dass das halt, äh, immer noch Verbrecher sind. Die sind nicht unschuldig dort und, äh, immer aufmerksam sein.
I: Mh. Ich habe hier ein Zitat gefunden beim niedersächsischen, eh, Institut des, eh, Justizvollzugs. Da heißt es „Ziel des Vollzuges ist es, die Gefangenen zu befähigen künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen.“ Wie können Sie dazu beitragen, dass die Gefangenen das tatsächlich lernen?
B: Das ist sogar ein Gesetzestext. Ähm, ich persönlich weiß nicht, ob ich da wirklich was zu beitragen kann.
I: Sind Sie dazu nicht verpflichtet in Ihrem Beruf auch?
B: Also ich persönlich müsste lügen, wenn ich sage, ich mache es
und ich, äh, füge etwas dazu bei, weil ich einfach der Meinung bin, 12 wenn ich mit 40, 50 auf der Station alleine bin oder auch mit zwei Kollegen ist es gar nicht möglich sich um jeden zu kümmern. Das geht einfach gar nicht.
I: Aber um einzelne vielleicht?
B: Ja, wenn die Leute die Gespräche suchen, dann gehen die meistens zum Pastor oder zum Sozialberater oder so was, ab und zu, klar, kommen die auch auf die Stationsbediensteten zu, aber wir haben einfach gar nicht die Zeit, um uns mit denen groß zu unterhalten, weil wir halt den ganzen Tagesablauf ja regeln müssen. Und da kann ich mich nicht mit allen hinsetzen und da große Gespräche führen. Dadurch, dass halt immer mehr Personal eingespart wird, wird das immer schwieriger, ne.
I: Das heißt, Sie bewachen einfach nur. B: Eigentlich schon.
I: Wie genau machen Sie das, was machen Sie genau da? 13
B: Ja, ich überprüfe abends halt zum Beispiel die Vollzähligkeit, dass alle da sind, indem ich sie einschließe, jeden in seinen Haftraum und, äh, entweder kenn ich sie oder ich nehm' mir ne Liste mit, mit den Namen, dass ich dann weiß, es sind wirklich alle da, weil ich das ja auch melden muss. Und, ähm, weiß halt auch ganz genau, wenn die zum Rechtsanwalt gehen, wenn die Besuch haben, wenn die auf Arbeit sind, ja, äh, wo sich meine Inhaftierten aufhalten. Wenn ich das nicht weiß, äh, dann hätte ich ein Problem. Also das sollte ich schon immer wissen.
I: Haben Sie das Gefühl, dass Sie mit Ihrer Arbeit, Ihrem Beruf, ähm, eine wichtige Aufgabe erfüllen, auch für die Gesellschaft?
B: Ja, also ich denke schon, dass das wichtig ist. Es muss ja immer Leute geben, die das machen, weil es immer, leider, kriminelle Leute gibt, die dann halt inhaftiert werden.
I: Wenn Sie abends, oder, Sie haben Schichtdienst, es werden verschiedene Tageszeiten sein, wenn Sie das Gefängnis verlassen, wir sind vorhin rein gegangen ins Gefängnis, jetzt gehen wir wieder
raus. Ist es so, dass Sie ein Gefühl der Freiheit verspüren, wenn sie 14
die Tore hinter Ihnen wieder schließen?
B: Mhm, also Freiheit kann ich jetzt nicht sagen, weil ich fühl mich da jetzt nicht irgendwie eingeengt oder eingesperrt, ne, es ist halt so. Ähm, teilweise ist der Tagesablauf sehr angespannt, weil halt
23. Das kurze Interview zur Sache und zur Person 245
viel Stress ist, ne. Oder auch, äh, wenn so Notfälle sind, dass halt Krankenwagen kommen muss und so, dann muss das alles laufen, mit Fesselungsmaßnahmen und so, weil der muss ja dann ins Krankenhaus gefahren werden. Das muss halt alles passen, damit er auf dem Weg dorthin nicht verschwindet, ne. Und, ähm, das ist dann manchmal so, dass es dann so, wenn man rausgeht, fällt dann alles ab. Das ist so, ne, man ist erleichtert, der Tag ist überstanden, ist alles gut gelaufen und man hat jetzt Feierabend und man kann ins Privatleben übergehen.
I: Frau N., herzlichen Dank.
Anmerkungen
1: Guter Einstieg ohne Reflexionsdruck auf die B. Ganz offen. Wenn das erhoffte Motiv nicht erwähnt wird, kann I ja geschlossen nachfragen; siehe Anm.
2: Geschlossene Nachfrage.
3: Animiert zum Weitererzählen.
4: Interpretation motiviert hier leider nicht zum Weitererzählen. I hätte entweder gefragt, wo Sie sich dann befindet oder die nächste Frage (5) gestellt.
5: Geschickt, mit dem „wann“ die B wieder nach der kurzen Antwort zum Erzählen zu motivieren.
6: I fordert wieder eine Schilderung ab, die jedoch knapper ausfällt als erwartet. 7: Gute Interpretation!
8: Jetzt wieder offen gefragt.
9: Gut – I nimmt das Angebot „Geruch“ sofort auf und dringt damit zu den Emotionen vor!
10: „Beängstigend“ ist eine gelungene Übersetzung von „beeindruckend“.
11: Auch hier nimmt I die Wortwahl der B auf:„rangehen“. Und weil das so gut klappt, benutzt I dieses Vorgehen auch bei ihren nächsten Fragen: „Sprüche“,
„anders“, „Raum“.
12: Mit dem gewonnen Vertrauen, kann I jetzt auch einige Vorhaltungen machen, die so zu Beginn des Interviews vermutlich nicht zum Ziel geführt hätten.
13:Gute Nachfrage. Da die Provokation „bewachen nur“ nicht funktioniert, schickt die I die B wieder in den Erzählmodus.
14: Mit der ersten Frage betraten wir das Gefängnis und – formal gut gelungen – mit der letzten verlassen wir es wieder.
Im nächsten Beispiel geht es ebenfalls darum, wie man Fragen zur Person so stellt, dass die Person sich angesprochen fühlt. Das ist besonders dann wichtig, wenn es sich um Alltagspersonen handelt, also solche, die gemeinhin nicht interviewt werden. Wie bringe ich sie zum Sprechen? Wir erläutern dies an dem Beispiel der RTL-Sendung „Menschen 2000“. Es geht um ein Interview mit zwei Frauen mittleren Alters, die durch ihr tat-
kräftiges Eingreifen verhindert hatten, dass ein junger Türke von sechs Skinheads am helllichten Tage in Essen brutal zusammengeschlagen wurde. Wir haben dies Beispiel mehrfach in Seminaren vorgeführt und dabei zunächst die Teilnehmer/innen gefragt, welche Fragen sie denn an die beiden Frauen gestellt hätten. Deren Vorschläge sind die Perspektive der Empfänger, dürften also weitgehend dem entsprechen, was die Empfänger erfahren wollen. Hier zunächst einige der häufig vorgeschlagenen Fragen, in ungeordneter Reihenfolge:
• Was ist in Ihnen vorgegangen, als Sie gesehen haben, wie man auf den Jungen eingeschlagen hat?
• Haben Sie keine Angst gehabt? Vorher, während dessen, nachher?
• Was empfinden Sie gegenüber denen, die nicht geholfen haben?
• Haben Sie auch an Ihre Sicherheit gedacht?
• Wie sind Sie aufmerksam geworden und was haben Sie dann gemacht?
• Warum haben Sie nicht die Polizei gerufen?
• War das eine spontane Reaktion oder haben Sie überlegt?
• Warum meinen Sie, dass die Skins auf den Türken eingeschlagen haben?
• Hätten Sie auch einem Skin geholfen, der von Türken verprügelt wird?
• Würden Sie das wieder tun?
• Haben Sie schon ähnliche Erfahrungen gemacht? (Schon mal so etwas gesehen?)
Leider werden nur sehr wenige dieser Fragen der Empfänger im Interview
(41) gestellt.
Interview 41
RTL Menschen 2000, 17. 12. 2000
Günther Jauch – Ilona Tegtmeier (B1), Eva-Maria Haruna (B2)
Anmoderation: Das Jahr 2000 war in Deutschland leider auch ein Jahr, in dem Menschen in unserm Land beleidigt, misshandelt oder sogar auch ermordet wurden, und zwar aus reinem Fremdenhass. Gegen die Rechtsradikalen hat Bundeskanzler Schröder dann den „Aufstand der Anständigen“ eingefordert, und für einen ist der Appell zu spät gekommen.
Text Einspieler: „Drei Rechtsradikale treten in der Nacht zu Pfingstsonntag Alberto Adriano tot. Der Mosambikaner hinterlässt Frau und drei kleine Kinder. Sein Leben endet nachts um zwei Uhr im Dessauer Stadtpark. Deutschland zeigt Gesicht: Hunderttausende demonstrieren gegen Fremdenhass. Aber auch das gibt es: Essen, Haltestelle Fliegenbusch, am helllichten Tag: Sechs Skins jagen einen Türken, stoßen den 15jährigen hier am Taxistand zu Boden, schlagen und treten ihn brutal zusammen. Keiner hilft dem Jungen, bis zwei Hausfrauen einschreiten und damit ein zweites Dessau verhindern.“
I: (pathetisch) Und hier sind Ilona Tegtmeier und Eva-Maria Haruna!
B2: Hallo
I: Guten Abend.
B1: N'abend.
I: Guten Abend. Sie haben also den Jungen da wirklich vor Schlimmerem bewahrt. Haben Sie den selbst keine Angst gehabt gegen sechs Skinheads?
B1 und B2: In dem Moment…
B1: nicht.
B2. ne.
I: Warum nicht?
B2: Wir haben selbst Kinder, und der Junge hat
geschrieen…
B1: Ja, mussten wir eingreifen.
I: Haben Sie selbst auch ein bisschen was abgekommen? B1: Ja so,
B2: in dem Gerangel halt, weil wir ja auch den Jungen geschützt hatten, aber…
B1: am Arm
I: Das ist ja am helllichten Tag passiert. Waren denn da keine andern Leute da?
B2: Sehr viele. B1: Viele.
I: Das war an diesem Taxistand, den wir eben gesehen haben?
B2: Ja. Da waren noch mindestens vier bis fünf… (B2 steht
„halb“ auf und setzt sich wieder hin, B1 anschauend)
I: Da war'n ja auch Taxifahrer. B1: Ja.
I: Und dahinter war'n Supermarkt?
B2: Ja.
B1: Ja.
I: Das heißt, es haben viele Leute gesehen.
B2: Ja.
I: Warum haben die, warum haben die nix gemacht? B2: Wissen wir auch nicht.
B1: Keine Ahnung.
I: Was hat der Junge davongetragen, trotzdem, obwohl Sie ihn da gerettet haben?
B2: Ja, der hatte an der Nase geblutet, die war auch sehr, ja,angeschwollen, ja.
B1: Ja.
I: Also er war schon verletzt… B1 u. 2: Ja.
I: (setzt sich um, begleitet von heftigem Füßescharren) und, äh, musste dann auch mehrere Tage im Krankenhaus behandelt werden. Was ist dann gewesen, als die Skinheads dann geflohen sind, weil Sie sich da über ihn gebeugt haben und und ihn praktisch geschützt haben. Was haben dann die andern Leute drum herum gesagt und gemacht?
B2: Nacht als die alle weg waren, die Skinheads und so, dann haben sie gute Ratschläge geben, und da war auch eine Frau, die sagte dann, warum der türkische Junge keine Pistole dabei hätte, und so wat alles, ja.
I: Also im Nachhinein dann …
23. Das kurze Interview zur Sache und zur Person
B: Im Nachhinein, ja.
I: auf einmal alles, alles besser, äh, gewusst. Würden Sie das noch mal machen?
B2: Wahrscheinlich ja.
B1: Glauben schon. Weiß man nich.
I: Und haben Sie mal mit anderen drüber gesprochen, welche Hemmungen die haben, dann auch einzugreifen? Wie, wie funktioniert es, dass es dann geht?
B1: Keine Ahnung.
I: Finden Sie das traurig, dass sie da praktisch als einzige übrig geblieben sind?
B2: Ja.
B1: Ja. Vor allem weil da vier Taxis mindestens standen,
und da waren wirklich gestandene Männer, saßen da drin.
Zum Schluss kam wohl einer raus, aber da war sowieso schon alles vorbei.
I: War das Desinteresse aus Ihrer Sicht, oder eigene Angst?
B2: Ja nu, wenn wir als Frauen eingreifen können, dann können auch Männer eingreifen.
I: Und war... was ham nachher, sagen wir mal, bei Ihnen zu Hause die Familien gesagt, haben die sich Sorgen gemacht, dass Sie im Grunde da ja auch Ihre eigene Gesundheit riskiert haben?
B2: Ich muss sagen, die war'n … nur stolz. B1: Killerladies.
B2: Ja.
I: Killerladies? Also die Geschichte hat ja auch insofern zumindest ein ein halbes Happy End, als die Täter mittlerweile gefasst sind, es gibt ein Urteil, zwischen zehn Monaten und, äh, 2 ½ Jahren, äh, ham sie immerhin aufgebrummt, äh, bekommen, und die gute Nachricht für Sie, auch noch zum Schluss, die Stadt Essen hat Sie für die Rettungsmedaille des Landes Nordrhein-Westfalen vorgeschlagen, und ich denke, wenn sie die nicht kriegen, dann, äh, verliere ich auch den Glauben an die Politik in diesem Land. Herzlichen
Dank, dass Sie geholfen haben, und die Zivilcourage gezeigt haben. Danke schön.
B: Danke schön.
Anmerkungen
1: Erstens ist die Frage geschlossen – das ist kein guter Start mit AmateurBefragten. Die sollten wenigstens zu Beginn eines Interviews die Gelegenheit erhalten, ins Erzählen zu kommen. Und dazu eignet sich überhaupt nicht die Frage nach der Angst, einem zunächst abstrakten Begriff. Viel besser wäre es gewesen, der Interviewer hätte nach dem genauen Handlungsablauf gefragt, nämlich
„Was haben Sie gemacht?“ oder noch besser: er hätte den Einspieler an der Stelle angehalten, an der die Straßenbahnhaltestelle Fliegenbusch zu sehen ist und dann gefragt, wo die beiden waren, was sie geredet und wie sie dann eingriffen haben. Er sollte sie also in die Szene stellen, ein Stück vorgeben und dann weiter erzählen lassen, genauso wie er es später (7) völlig richtig macht. Die Antworten sind kurz und knapp, weil auch das setting dieser Live-Sendung die beiden außerordentlich beeindruckt haben dürfte (so Frau Haruna später in einem NachrechercheTelefonat mit J. F.).
2: Im Prinzip richtig, jetzt mit einer W-Frage fort zu fahren. Leider hört der Interviewer bei der Antwort nicht richtig zu, sonst hätte er nämlich den AppellCharakter („Frag' mich danach – dazu kann ich was sagen!“) in der Formulierung „da mussten wir eingreifen“ aufgegriffen und endlich nach der Aktion gefragt.
3: Stattdessen geht es wieder mit einer geschlossenen Frage weiter, die immerhin, weil der Interviewer das nicht abstrakte Wort „abbekommen“ verwendet, zu einer längeren Antwort führt, wieder mit einem Hinweis auf die Aktion „geschützt hatten“. 4: Besser wäre hier offen zu fragen: „Wer war denn noch da?“ Der Interviewer wählt dann leider eine Reihe von geschlossenen Fragen bzw. Behauptungen, die beide Befragte dann nur noch mit Ja beantworten, wobei körpersprachlich deutlich wird, dass sie sich zunehmend unwohler fühlen.
5: Der Schnitzer aller Schnitzer, die beiden mit der Grundfrage der Sozialpsychologie zu konfrontieren, warum Menschen sich verhalten wie sie sich verhalten. Wunderbar die Antwort, zu der ein Wissenschaftler, ergebnisgleich, vermutlich länger gebraucht hätte.
6: Diese Antwort weckt den Interviewer wohl endlich auf und er stellt jetzt ein paar richtige Fragen, die aber nicht mehr in einer speziellen Ordnung stehen. Es ist zunächst eine offene Notfrage, um wieder in den Erzählmodus zu kommen, und dann eben die szenische Frage,
7: die Frau Haruna endlich aufblühen lässt. Leider ist der Höhenflug mit der nächsten geschlossenen Frage beendet, weil der Interviewer nicht von seinem Ziel ablassen mag, mit den beiden über „Zivilcourage“ reden zu wollen. Die Schildeung der Rettung hätte sicher mehr dazu beigetragen, den Mut der beiden Frauen zu begreifen, als der nächste Versuch zu seinem Thema zurückzukehren.
8: Doppelfrage – die erste wäre ja in offener Variante noch in Ordnung, aber natürlich wird auf die zweite geantwortet.
9: Hier macht der Interviewer etwas Kluges. Er fragt nach der Emotion. Und obwohl die Frage geschlossen ist, antwortet Frau Haruna, weil ihr die feigen Männer ein Anliegen sind, wie schon oben unter (4) – zwar keine politische Äußerung, aber eine literarische: „Gestandene Männer saßen in ihren Taxen!“ Und einmal in Fahrt, ignoriert Frau Haruna auch die nächste Alternativ (Oder)-Frage. 10: Der Schlussakkord, das gewünschte und verabredete letzte Wort („Killerladies“), zum Lachen. Zum Weinen, dass wir auch nach dem Interview nicht wissen, was die beiden Schwestern (!) tatsächlich getan haben!
Abschließend: Das Interview wäre völlig anders verlaufen, wenn der Interviewer den Einspieler nochmals bis zu der Stelle auf der großen Leinwand hätte fahren lassen, an der die Haltestelle der Straßenbahn und die gegenüber liegende Straße mit dem Supermarkt und Taxistand zu sehen war. Es hätte ihm einen szenischen Einstieg ermöglicht UND die Befragten wieder in die ursprüngliche Situation versetzt mit der Frage „Was haben Sie gesehen, als Sie aus der Straßenbahn stiegen?“
Obgleich Jauch in dieser und anderen Sendungen bewiesen hat, ein einfühlsamer Interviewer zu sein, gelingt dies hier nicht. Warum nicht? Die wichtigste Antwort hierauf erhielten wir durch ein Telefongespräch mit einer der beiden Befragten, das wir im Jahr 2002 geführt haben. Jauch hatte mit beiden Frauen ein längeres Vorgespräch geführt, in dem sie ihm den Handlungsablauf geschildert hatten. Somit war seine Neugier befriedigt, denn er kannte die Geschichte. Das wäre nicht bedeutsam, wenn er dennoch so professionell gehandelt hätte, eine „zweite“ Neugier zu entwickeln – also erneut aus der Perspektive der Empfänger gefragt hätte. Das aber war eindeutig nicht der Fall, wie vor allem die zahlreichen geschlossenen Fragen belegen. Wenn wir neugierig sind, so stellen wir, fast immer ohne darüber nachzudenken, offene Fragen – eben weil wir die Antwort nicht kennen.
Das nächste Beispiel (Interview 42) ist ein Interview zur Person im Mini-Format. Das Interview wird aus einer skeptischen, aber darin ehrlichen und neugierigen Einstellung geführt, einer Haltung, die vermutlich auch die meisten Empfänger gegenüber der Heilsarmee haben – weshalb die Interviewerin die Empfänger gut vertritt. (Durch ihre einfühlsame Stimme wird die Skepsis etwas zurückgenommen.) Handwerklich geschickt ist, wie sie die allgemeinen Aussagen zur Heilsarmee („Krieg“, „Teufel“) an die Person koppelt.
252 Interviews zur Person
Es beginnt mit einer Frage, die – so könnte man unterstellen – den Eindruck aufnimmt, den die Befragte auf die Interviewerin gemacht hat: der Frage nach der Wirkung der Befragten (1). Für diese Interpretation spricht auch die zweite Frage, in der die Interviewerin der Befragten einen Vorschlag macht, wie sie (auf sie?) besser wirken könne, wobei sie auch das
„ansprechend“ aus der vorangegangenen Antwort übersetzt (2). Gut formuliert ist dann die nächste, offene Frage (3). Die Antwort enthält die Position der Heilsarmee, doch in einer persönlich gefärbten Weise, sie ist aber nicht klar (4). Die Interviewerin stellt daher eine ganze Reihe von Nachfragen, indem sie jeweils einzelne Formulierungen in den Antworten aufnimmt; die Fragen (5, 6, 7) sind kurz und zeigen Neugierde und der Befragten ein Interesse an ihrer Person – mündend in die richtige Frage nach dem Beispiel (8).
Interview 42
ZFP Interview-Werkstatt, Wiesbaden, Oktober 1997 Astrid T. – Monika Wallschläger, Die Heilsarmee
I: Monika Wallschläger, 23 Jahre jung, Sie sind bei der Heilsar mee. Sie tragen eine Uniform, sie sieht relativ streng aus – wie 1 möchten Sie in der Öffentlichkeit wirken?
B: Ich möchte als jemand wirken, den man sprechen kann. Den man ansprechen kann nach meinetwegen einem Weg oder einer Station oder einem nächsten Arzt oder nächsten Apotheke, und ich möchte gerne auch ansprechbar sein für Leute eben die Fragen haben über ihre Zukunft, über ihr eigenes Leben.
I: Kann man das nicht unter Umständen auch erreichen, können Sie das nicht eher erreichen wenn Sie, ich sage es mal provokativ, ansprechendere, nettere Kleider tragen?
B: Das kann schon sein, und vielleicht werden die nächsten Uniformen vielleicht den Frauen erlauben, meinetwegen lange Hosen zu tragen, und sonstige Unterschiede. Aber für mich und für die Leute ist die Uniform ein Erkennungszeichen, dass ich eben von der Heilsarmee bin. Und je nachdem, was sie mit der Heilsarmee verbinden, wird ihre Reaktion darauf sein.
I: Ihre Zeitschrift, die Zeitschrift der Heilsarmee heißt „Der 3 Kriegsruf“ – mit wem sind Sie im Krieg?
B: Mh, mit dem Teufel und alles was damit zusammenhängt. Ähm, 4 Paulus hat gesagt, und das können Sie in der Bibel nachlesen, dass
wir als Christen so eine Art Soldaten sind, die eben manche Dinge machen können und manche Dinge nicht, weil eben die Front da ist und dann schränkt sich das Leben ein. Und die Leute, die der Heilsarmee den Namen gegeben haben, die haben das eben auf ihre Fahnen geschrieben. Sie wollen Soldaten Gottes sein, wir wollen für Gott im Krieg stehen, nicht mit Menschen, sondern mit all dem, was an schlechten Einflüssen und an schlechten Gewohnheiten in dieser Welt eben ist.
I: Ist es denn dann nicht eher geboten, von Frieden zu sprechen? 5 Jesus spricht ja auch von Frieden und nicht von Krieg.
B: Er spricht von Frieden mit Gott, er spricht von Frieden untereinander, aber spricht nie vom Frieden mit dem Teufel, und solang der Teufel nicht Friedensvertrag mit Gott schließt, solang schließ
ich auch keinen Nichtangriffspakt mit ihm.
I: Wer ist für Sie der Teufel hier im Leben?
B: Ganz einfach das, was gegen Gott ist. Das sind ganz viele unterschiedliche Dinge, das sind viele verschiedene Einflüsse, aber der Teufel ist, einfach gesagt, der Gegenspieler Gottes und wenn etwas nicht für Gott ist, dann ist es gegen Gott.
I: Wo treffen Sie denn den Teufel in Ihrem täglichen Leben? 7
B: Einmal kämpft er also ganz persönlich um mich, eben indem mein Leben von Einflüssen und vielleicht von Strömungen geprägt wird oder versucht wird, geprägt zu sein, die eben gegen Gott sind, gegen Dinge, die Gottes Gebote verstoßen oder ganz einfach mein Leben eben nicht einsatzbereit für Gott sein lassen.
I: Können Sie mal ein Beispiel sagen?
B: Ganz einfach, wenn ich morgens zu faul bin als Langschläfer aufzustehen, dann muss ich damit kämpfen. Es ist für mich anstrengend, früh aufzustehen. Manchmal gewinne ich, und ich komme wirklich früh aus dem Bett, aber manchmal weiß ich, dass meine Faulheit eben gesiegt hat, und ich glaube, das kann der Teufel sehr gut ausnutzen, um mir dann negative Gedanken oder Schuldgefühle oder so was einzuflößen. (…)
Das folgende Beispiel (Interview 43) ist ein Interview zur Person im MiniFormat, und passt von der Länge her somit auch in eine morgendliche Magazin-Sendung wie „NDR Info“ von 6 bis 9 Uhr. Der Interviewer bewundert einerseits den B, will das Interview aber anderseits nicht zu einer blurb-Nummer werden lassen. Also greift er zu Fragen, die formell Zweifel ausdrücken sollen, gleichwohl dem B die Gelegenheit gibt sein „HeldSein“ auszubreiten. Und da I sehr genau zuhört und mit dem Wortmaterial des B seine Fragen anreichert, gelingt ein unterhaltsames Interview.
Interview 43
NDR Info 6 Uhr Das Informationsprogramm, 10. 12. 2014 Stefan Schlag – Stefan Hell, Nobelpreisträger Chemie
Anmoderation: Großer Tag für Stefan Hell: Der Göttinger Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut nimmt am Mittwochnachmittag im schwedischen Stockholm den Nobelpreis für Chemie entgegen zusammen mit zwei US-Amerikanern. Die Forscher werden für die Erfindung superauflösender Mikroskope ausgezeichnet. Hell gilt als hartnäckig, als einer, der seine Idee immer verfolgt hat.
I: Herr Hell, wie aufgeregt sind Sie denn jetzt so kurz vor der Preisverleihung?
B: Ja, es ist natürlich schon eine spannende Geschichte, die auf mich zukommen wird, den Nobelpreis aus den Händen des schwedischen Königs zu erhalten. Ich bin in freudiger Erwartung, aber nicht aufgeregt. Ich bin nicht angespannt, aber ich freue mich richtig.
I: Nicht angespannt, nicht aufgeregt? Wie kann das sein, dass man da so cool bleibt?
B: Ich weiß es nicht, aber ich fand viele Dinge, die sich vorher abgespielt haben, zum Teil emotionell viel packender, viel ergreifender. Nicht, dass es nicht ergreifend sein wird. Aber wie sehr mich das emotionell berührt, das kann ich Ihnen erst im Nachhinein sagen. Momentan bin ich nicht aufgeregt. Ich freue mich einfach nur. Es ist ein Gefühl der Vorfreude.
I: Und wenn Sie sagen, vorher war das auch schon packender, haben Sie da ein Beispiel?
B: Ja, ich fand schon um ganz ehrlich zu sein als sich herausgestellt hat, dass das Verfahren, das ich erfunden habe, gut funktionieren würde, das war schon ein Gefühl. Ich kann mich noch gut erinnern, da bin ich dann abends durch die Stadt gegangen in Göttingen und habe gedacht: "Wow, das ist wahrscheinlich Wissenschaftsgeschichte."
I: Können Sie das einmal beschreiben für Laien, was genau der Kern Ihrer Leistung ist?
B: Ja, und zwar: Ich habe herausgefunden, dass man die Lichtmikroskopie viel schärfer machen kann. Das heißt, dass ich viel feinere Details sehen kann, als das, was man für möglich gehalten hat vor 120, 130 Jahren. Als dann klar geworden ist, immer mehr klar geworden ist, dass es funktioniert, und ein paar Jahre später hat sich dann auch herausgestellt, dass das Prinzip, dass ich da erfunden hatte, viel universeller ist. Dass man diese Mikroskopie-Form in vielen Varianten ausspinnen kann sozusagen, und dadurch viel auf breitere Basis stellen kann, auf mehr Anwendungsmöglichkeiten zuschneidern kann, das war schon ein ganz besonderes Gefühl. Da ist mir klar geworden, ich bin auf was sehr Wichtiges gestoßen, das die Wissenschaft und letztendlich dann auch in letzter Konsequenz unter Umständen unser Leben verändern kann. Vielleicht auch nachhaltigen Einfluss auf Erkenntnisse, die man gewinnt, zum Beispiel über Zellen und über Krankheiten.
I: Sie sind jetzt 51, haben den Nobelpreis bekommen. Was soll das Forscherleben noch bringen? Was kann da noch kommen?
B: Es ist in der Tat so, dass manche Leute glauben, dass der Nobelpreis das Ziel eines Wissenschaftlers per se sei. Das sehe ich nicht so. Der Nobelpreis ist eine Anerkennung für eine Leistung, aber mir geht's ja um die Sache. Ich möchte, dass man am Ende des Tages mit der besten Präzision zum Beispiel sehen kann, was sich in einer Zelle abspielt. Also, wie Moleküle interagieren, wie wenn Sie so wollen Leben sich auf der molekularen Skala abspielt. Ich glaube, das wird wahnsinnig wichtig sein, dass man das tut, um Krankheiten auf fundamentale Art und Weise zu bekämpfen, nicht bloß Symptome zu kurieren. Oder wenn man neue Medikamente finden will, muss man erst mal erkennen, was sich da genau abspielt. Ich glaube, je besser diese Mikroskope werden, desto mehr wird man entdecken und desto weiter wird man kommen auch in der Bekämpfung oder Prävention von Krankheiten. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wenn Sie etwas haben, irgendeine Sache, selbst ein Spielzeug oder so, dann müssen Sie erst mal verstehen, wie es funktioniert, bevor Sie es reparieren können. Und was mein Mikroskop ermöglicht, ist, dass man zunehmend besser versteht, wie es funktioniert. Und wenn man besser versteht, wie es funktioniert, dann weiß man auch, was passiert ist, wenn's kaputt gegangen ist und wie man es dann am Ende repariert.
I: Sie sind Vater dreier kleiner Kinder. Wenn die jetzt an der Seite eines Nobelpreisträgers aufwachsen, wollen Sie die auch für die Chemie begeistern, für die Naturwissenschaft oder passiert so etwas ganz automatisch?
B: Ich weiß es nicht. Also, ich würde mich freuen, wenn sie sich für Naturwissenschaften begeistern. Ob für Physik oder Chemie oder Biologie oder was auch immer, das ist vollkommen dahingestellt, weil ich glaube, dass Naturwissenschaften wirklich sehr wichtig sind. Sie werden zunehmend wichtiger werden. Auch die Anwendungen der Naturwissenschaften, ohne Frage. Aber natürlich bleibt jedem Kind selbst überlassen, dass es das tut, wozu es sich hingezogen fühlt. Das Wichtigste ist natürlich, dass man das macht, was einem Spaß macht. Ich habe Physik gemacht, weil mir das Spaß gemacht hat und deswegen war ich da auch sehr gut, weil da sehr viel Herzblut dabei war. Ich habe nicht auf den Nobelpreis hingearbeitet, sondern habe darauf hingearbeitet, dass eine Idee, die ich hatte, am Ende umzusetzen ist, weil ich das cool fand. Ich fand es toll, dass man das machen kann. Ich fand spannend, herauszufinden, ob es geht. Und dann wenn es geht wie gut es geht, ob man da mehr draus machen kann, ob da ein fundamentales Prinzip dahinter steckt oder nicht. Es hat sich bei mir herausgestellt, dass es so war. Es steckte ein fundamentales Prinzip dahinter und da ist noch viel mehr zu machen. Das ist innerlich natürlich sehr befriedigend. Aber mein Kind muss natürlich selbst spüren, was es will. Wenn es etwas anderes machen will, freue ich mich, wenn es etwas anderes macht. Wenn es Spaß hat und das wünsche ich ihm, dann wird es das auch gut machen.
Anmerkungen
1: Die Entscheidung des Interviewers, nicht mit einer Wissenschafts-Frage, sondern mit einer offenen, emotionalisierenden zu beginnen, ist aus zwei Gründen perfekt: Der Befragte kann alltagssprachlich antworten – was die Sprachebene, auf der sich das Interview bewegen soll, etabliert. Und der Hörer wird so in das Interview reingezogen.
2: Bei so vielen emotionalen Ausdrücken in der Antwort, muss der Interviewer nochmal fragen, erstens, weil er ahnt, dass die meisten Hörer diese Coolness wohl überrascht, und weil er zweitens weiß, dass hinter einer ersten Antwort meist noch eine zweite lauert. Noch schöner wäre es, wenn I statt „man“ „Sie“ gesagt hätte. 3: Hat geklappt – der I verwendet hier richtigerweise wieder ein Schlüsselwort, das der B verwendet (sprachliche Synchronisation Kinästhetiker). B gibt eine Erläuterung („emotionell viel packender“), ein Angebot für eine weitere Nachfrage, das der Interviewer annimmt („haben Sie da ein Beispiel?“). Damit signalisiert I dem B, dass es ihn wirklich interessiert und auch, weiter im Erzählmodus zu bleiben.
4: Nach der Vorbereitung kann jetzt auch die inhaltliche Frage gestellt werden. Und da der B lobend (Übersetzung von „erfunden“ in „Leistung“) im Erzählmodus gehalten wird, ist die Antwort auch für Laien gut zu verstehen.
5: Die milde Provokation, der kleine Stachel, führt dazu, dass B noch vehementer die Bedeutung seiner Forschung für die Gesellschaft beschreibt. Im Prinzip sind wir ja gegen zwei Fragen. Aber hier führt die Dopplung (denn das sind die beiden Fragen ja fast) zu höherem Druck.
6: Diese Frage (Information plus Frage) nimmt – anders als im Interview bisher – nicht einen Gedanken aus der Antwort auf, was das Interview so organisch wirken lässt. Da hat wohl das „Spielzeug“ beim I zu einer „Kinder“-Assoziation geführt, falls die Frage nicht als Schlussfrage geplant war, wegen der Emotion. Und die Antwort ist ja auch hörenswert.
Das Interview (44) zeigt hingegen nahezu alle Schwierigkeiten, die bei einem Interview zur Person auftreten können. Es ist ein längeres Interview zur Person von Doris Dörrie. Sie ist als Gast im Studio und wird zwischen den Beiträgen der Sendung „Sonntagsmagazin“ für jeweils fünf bis sechs Minuten interviewt. Der hier ausgewählte Teil liegt in der Mitte der Sendung. Der Ausschnitt beginnt mit dem letzten Teil des vorangegangenen Themas: einem Fotoband, der vorgestellt wird.
Interview 44
ARD (SWF) Sonntagsmagazin, Januar 1995 Bernadette Schoog – Doris Dörrie
I: ... kann man das so sehen? (Hält den Fotoband in die Kamera) Zu schwer, das Buch? Dokumentiert in diesem wunderbaren neuen Band muss man wirklich sagen, schöne Bilder drin, schöne Photos drin, es sind 365 Seiten mit 454 Fotos für 98 Mark. Neu bei Schirmer und Mosel und ganz besonders schön finde ich eigentlich diese Rückseite hier, wo Andy Warhol aus der Kanalisation heraus
steigt. Doris Dörrie: Was ist Ihnen wichtig oder woraus beziehen Sie mehr aus Fotos, also aus Fotogeschichten, oder dem ge-
schriebenen Wort, den Erzählungen, den Romanen? 1
B: Aus beidem, aus beidem; also das könnte ich gar nicht so sagen. Aber noch mehr beziehe ich aus dem Leben. Also ich finde einen der gefährlichsten oder der erschreckendsten Sätze von Regisseuren ist „Ich habe das Leben im Kino kennen gelernt“. Das finde ich ganz bestürzend, wenn jemand so etwas sagt. Also ich schwärme schon für das Leben, was nicht sofort widergespiegelt ist in Beschreibung, sondern das wirklich stattfindet. Also ein bisschen andersrum. 2
I: Sie sind jetzt bald 40, blicken auf sechs Bücher und acht Spiel- 3 filme zurück, waren, wie wir schon gesagt haben, der hoffnungs volle neue Autorenfilmer, die Autorenfilmerin, sind auch nieder geprügelt worden, haben also Hochs und Tiefs erlebt. Ziehen Sie
so eine Art von Zwischenbilanz oder haben Sie überhaupt so ein Bewusstsein, Hälfte des Lebens, was war, was kommt?
B: Nö, das hab ich nicht. Ich blicke eigentlich auch nicht zurück, nicht im Zorn und nicht anders. Äh, es geht weiter und ich bin auch gar nicht so schlimm geprügelt worden, wie jeder Fußballspieler zum Beispiel. Mein Mann hat mir beigebracht, die Sportseite zu lesen, wenn mich zum Beispiel schlechte Kritiken ärgern, und da muss ich sagen, jeder Fußballspieler wird schlechter behandelt, als ich ab und zu vielleicht mal behandelt wurde durch Kritiker.
I: Ein Grund mehr, im Filmmetier zu bleiben, nicht zum Sport überzuwechseln.
B: Sowieso.
I: Man sagt Ihnen nach, dass Sie am Set, beim Drehen, immer eine sehr friedvolle, sehr harmonieträchtige Stimmung, Situation, brauchen und auch selber produzieren. Man liest auf der anderen Seite
über Sie, Sie seien sehr angriffslustig, Sie seien äh, äh, sehr, na wie
soll ich sagen, sehr quirlig. Ist das ein falsches Bild oder brauchen Sie beides?
B: Nö, das stimmt beides. Also um etwas durchzusetzen, werde ich wohl auch sehr angriffslustig, ja. Aber beim Drehen brauch' ich wirklich Frieden, denn ich kann nicht arbeiten, wenn Kriegsatmosphäre herrscht. Und ich glaube auch, dass das die Kreativität hemmt. Und da ich nun mal in der glücklichen Situation dann bin, dass ich fünfzig Leute da habe, die alle ihre eigenen kreativen Phantasien haben, wär' ich schön blöd, wenn ich durch 'ne feindselige Atmosphäre das zerstören würde.
I: Wie reagiert denn Doris Dörrie auf Sachen, die außerhalb des Films passieren, also Stichwort Zivilcourage, gibt's da irgendwie Sachen, für die Sie sich stark machen, wo Sie sagen, da muss ich jetzt einschreiten, da brauch ich keine Harmonie mehr, da muss ich
was tun?
B: Doch, also, äh, da bin ich bestimmt sehr angriffslustig. Besonders was Rassismus angeht, im täglichen Leben, äh, da schmeiß' ich mich dann manchmal auch so in die Bresche, dass es bisschen blöd ist, weil ich dann anfange, auch wirklich physisch zu agieren.
I: Also Sie haben schon Leute tätlich angegriffen?
B: Jaaa, doch, das habe ich allerdings dann aufgehört, als ich ein Kind bekam, weil es dann einfach zu gefährlich wurde.
I: Ja verändert sich insgesamt die Sichtweise mit einem Kind, die Sichtweise auf die Welt?
B: Ja, was mich in dem Punkt erschreckt hat, war, dass man natürlich, wenn man ein Kind hat, sehr viel schneller erpressbar wird. Und auch feiger wird. Denn man prügelt sich nicht mehr zum Beispiel darum, dass jemand anderes nicht belästigt wird, sondern man überlegt, was mach' ich jetzt, wenn ich mich jetzt so äh in die Bresche schmeiße, kriegt vielleicht auch mein Kind was ab, also das hat mich doch sehr zum Nachdenken gebracht, dass man vorsichtiger wird in dem Moment, wo man eine Familie hat.
I: Wenn Sie jetzt zum Beispiel im Fernsehen oder in der Zeitung sehen und lesen, dass zum Beispiel in Tschetschenien halt massen-
gemordet wird, muss man ja wirklich sagen, dass die KSZE, die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, jetzt OSZE, und vor allem deutsche Politiker sich ja sehr vornehm zurückhalten, dass als interne russische Angelegenheit bezeichnen, als Sache der Verhältnismäßigkeit, wie reagieren Sie da, werden Sie da wütend oder resignieren Sie, überlegen Sie sich Maßnahmen ihrerseits, was passiert da? (…)
Anmerkungen
1: Eine aus der Not der Überleitung geborene Frage. Wer käme sonst auf die Idee, die B danach zu fragen, ob sie etwas aus Fotogeschichten bezöge?
260 Interviews zur Person
2: Diese Formulierung hätte die Interviewerin aufnehmen können, indem sie nach Beispielen für das, was sie aus der Wirklichkeit gelernt hat, gefragt hätte. Danach hätte sie fragen können, wie die B das in einem Film umsetzt.
3: Schön, dass es mit der Autorenfilmerin noch geklappt hat. Aber die Frage ist nicht präzise, weil die Zwischenbilanz ausgereicht hätte; so wird sie durch den Satzteil mit „Bewusstsein“ verwirrt.
4: Statt das Problem der Kritiken weiter zu verfolgen, wird nun wieder ein neues Thema begonnen. Der vermeintliche Kontrast von Set und sonstigem Leben ist wenig glaubwürdig, denn die B dürfte sehr wahrscheinlich beides sein. Zudem ist es dem Interview zur Person nicht förderlich, „angriffslustig“ mit „quirlig“ fast gleich zu setzen. Im Übrigen „Man liest … über Sie“ – wo hat die I das gelesen?
5: Statt nun bei diesem Thema, der Kreativität beim Drehen, zu bleiben, wird wieder ein neues Thema eingeführt. Mit der hier merkwürdigen Formulierung „Doris Dörrie“ legt die I eine höhere Distanz zwischen sich und die Befragte. Völlig vage ist die Formulierung „Sachen“ (zwei Mal).
6: Das Angebot der B, mit dem Kind verändere sich die Sicht auf die Welt, nimmt die Interviewerin zu Recht auf. Aber dann verfolgt sie dieses wichtige Thema der Veränderungen, die es bei der B bewirkt hat, nicht weiter. Stattdessen kommt ein neues Thema.
7: Eine neue, viel zu lange, verquere Frage. „Überlegen Sie sich Maßnahmen“ – was für eine Formulierung in einem Interview zur Person!
Insgesamt: Es fehlt das Konzept, fast jede Frage ist ein neues Thema. Die I hat nicht versucht, die Person zu erfassen, zu ihr zu reisen. Aus dieser Unsicherheit kommen die langen Fragen und die Selbstdarstellung.
Und zum Abschluss dieses Kapitels noch ein gelungener Versuch (45) aus einem unserer Seminare in der ARD.ZDF Medienakademie, in dem wir kurze Interviews trainiert haben, die auch in einer Talkshow stattfinden könnten.
Interview 45
ARD.ZDF Medienakademie Interview-Werkstatt, 2. 12. 2008 Karin M. Christoph Kuckelkorn, Bestattungshaus Medard Kuckelkorn, am Telefon aus Köln
I: Mit dem Tod will eigentlich keiner etwas zu tun haben. Er bringt Menschen Trauer, Leid und Not. Keiner weiß, was nach dem Tod kommt. Trotzdem sagt Christoph Kuckelkorn „Bestatter ist mein Traumberuf.“ Und er hat noch einen Nebenjob; er organisiert den Rosenmontagsumzug in Köln. Herr Kuckelkorn, was hat denn Bestattung und Karneval miteinander zu tun?
B: Also beides ist hochemotional, bei der Bestattung versteht sich das von selbst und wer einmal im Köln im Karneval, der hat das, der hat es auch erfahren. Und in der Funktion, wenn man als Bestatter tätig ist oder als Organisator eines solchen großen Millionenevents, dann weiß man auch Organisation ist bei beiden, eh, das aller oberste Gebot und dreihundertprozentige Sicherheitsplanung genauso. Das heißt, man kann bei einer Beerdigung keine Wiederholung machen, wenn irgendwas nicht geklappt hat. Und beim Rosenmontagszug geht's eben auch nicht. Und deswegen sind diese beiden Sachen so unwahrscheinlich eng miteinander verbunden und verwandt und das ist natürlich für mich eher eine sehr sehr große Ergänzung, als, was viele meinen, eben so ein Gegenpol.
I: „Emotional“ haben Sie beide Ereignisse beschrieben.
B: Oh ja.
I: Wie sind Sie dabei, sind Sie auch emotional?
B: Tja, das ist eine gute Frage, ehm. Man ist emotional natürlich, also man ist natürlich, ich bin nicht der mittrauernde Mensch, aber, eh, oft genug ist es bei einer Trauerfeier so, dass wenn man das mitorganisiert, am Rande steht und die Emotionen der Menschen mitbekommt. Dann geht das auch nicht unbescheitert an einem vorbei. Das muss man auch mit leben dann ist dann auch in dem Moment sehr authentisch ohne, dass man sich dafür anstrengt. Das ist einfach auch so mitgefühlt, mitgefühlt, das ist vielleicht das richtige Wort. Und im Karneval, da ist das Feiern natürlich auch etwas, wo man mittendrin steht und wo ich natürlich spätestens am Rosenmontag, wenn es dann doch geklappt hat und wir von der Polizei nachher, eh, mitbekommen, dass dann, äh, möglichst wenig Verletzte und, eh, keiner, auf jeden Fall keine Todesfälle passiert sind. Dann ist das eine enorme Erleichterung und auch unter dem Zoch, weil das einfach manchmal so schön und ergreifend ist, da rennt auch schon mal ein Tränchen die Backe runter.
I: Könnte die Emotion auch diejenige sein, dass Sie sozusagen, dass Sie als Organisa, Organisator in der Pflicht stehen, egal, ob es
bei der Bestattung oder beim Karneval ist.
B: Ehm, in der Pflicht stehen. I: So die Frage „Klappt alles?“
B: Ja, nee, das ist natürlich immer die Frage, ähm, und, eh, der, mh, im Business mit mit Events und mit Live Events unterwegs ist, kennt die Angst auch, dass ist eine unheimliche Anspannung. Und die löst sich irgendwann, ganz klar. Das ist auch ein unwahrschein-
lich Anspruch. Und man selber ist ja auch noch Perfektionist dabei.
I: Beides sind sozusagen auch Events, die dargeboten werden, Sie sagen, es sind sehr emotionale Ereignisse. Kann man sagen, Bestat-
tung oder Karneval, beides ist Show?
B: Bestattung oder Karneval, beides ist Show. I: Es wird was dargeboten.
B: Ja, ähm, es wird natürlich was dargeboten, wohingegen es einen ganz großen Unterschied gibt im Bereich des Abschieds, der Trauerfeier, der Beerdigung, versuchen wir natürlich sehr authentisch zu sein. Wir versuchen, eh, eine Persönlichkeit, um die es da geht darzustellen und fühlbar zu machen und irgendwo, ähm, in, eh, für alle einen Event zu schaffen, der ihnen bei der Trauerarbeit hilft.
Das ist ein ganz ganz hoher Anspruch. Das ist natürlich bei einer 6 Karnevalsparty oder beim Rosenmontagszug komplett anders.
I: Jetzt haben Sie vorhin beschrieben, bei der Beerdigung, dieses 7 Emotionen, die gehen, noch immer nicht spurlos an Ihnen vorüber.
Erschöpft einen das nicht unheimlich?
K: Ja. Ach, ich weiß es nicht. Ich möchte das mir erhalten, also noch immer nicht. Ich will hoffen, dass das immer so bleibt, dass das nicht an einem vorübergeht. Wenn das an einem vorübergeht, dann hat man, glaube ich, ganz groß was verloren. Dann, eh, ist man nicht mehr Mensch, ähm, dann ist man kalt, dann kann man das auch nicht mehr gestalten. Also, ich glaub, ähm, das möchte ich mir sehr bewahren, dass ich diese Emotionen oder diese Offenheit immer noch habe und, eh, dieses Gespür dafür auch immer noch habe.
I: Aber Sie hatten doch bestimmt mal einen Moment, wo Sie gesagt haben „Jetzt hab ich genug von Särgen, jetzt hab ich genug
von trauernden Menschen, jetzt möchte ich mal so richtig was anderes machen.“ Was war denn das?
B: Ich hab das, glaub ich, gar nicht. Also es gibt Momente, da kommt man nach Hause und ist von einem Tag total gebügelt, hat vielleicht eine Beerdigung von einem kleinen Kind oder so was ausgerichtet und ist emotional am Ende. Dann, eh, also, dann brauch ich aber abends als allererstes oder als wichtigstes ein gutes Gespräch mit einer Partnerin oder so und ein leckeres Gläschen Wein dabei und den Tag Revue passieren lassen. Oder mal mit Mitarbeitern sprechen, das Ganze einfach so mal, mal, äh, mal, mal wieder oder durchspülen und sortieren. Das ist wichtig. Also ich muss nicht danach Party machen. Das ist, glaube ich, ganz falsch. Das erlebe ich in der Session, also in der Karnevalszeit, eh, ja, am laufenden Band. Da hat man morgens früh eine Beerdigung, dann mittags ein Organisationsmeeting für den Zoch, dann ist man nachmittags bei einer Familie, die irgendeinen schrecklichen Verlust hat und abends tanzt man auf der Bühne. Also das ist ja was,
was gehen wir mehrmals am Tag, am Tag hin und her. Ähm, ich 9 denke mir, das, eh, ist nicht so tragisch.
I: Ich versuch mir das gerade vorzustellen, ob ich das selber unter einen Hut bringen könnte. Eh, vom Trab, eh, vom Grab wieder auf den Karneval und wieder zurück. Vielleicht so ein Gespräch mit einer trauernden Familie, eh, wie schlagen Sie die Brücke?
B: Indem ich immer da bin, wo ich bin. Also das ist, glaube ich, mein, meine große, eh, mein großer Vorzug und gleichzeitig mein ärgster Fluch, das heißt, da wo ich bin, bin ich. Bin ich aber auch ganz und das andere ist dann vergessen. Dann steig ich in die nächste Situation und bin da auch wieder total drin und hab diese, vorige Situation und die nachfolgende Situation aber nicht im Blick. Das ist natürlich schon mal eine Sekretärin, eh, der Horror, weil die mich ja organisieren muss drum herum. Aber das kommt schon mal einfach so vor und das ist, glaube ich, nur so geht es dann. Dass man wirklich in eine Situation einsteigt und die anderen Situationen einfach dann auch ausblendet. Man ist dann ganz in
dem Moment. Übrigens, was man als Bestatter sowieso, eh, sehr stark hat, dass. Ich kenn also sehr viele Kollegen, die sehr intensiv leben, sehr bewusst leben und immer in den Situationen, in denen
sie sind.
I: Also ist es auch eine Art Auseinandersetzung mit dem Tod, dass man das Leben intensiver wahrnimmt?
B: 100 Prozent, 100 Prozent. Deswegen leb ich vielleicht auch intensiver oder manche Leute sagen „Mensch, wie kriegst du das hin, mit Familie und Beruf und Hobby und was du alles noch so machst.“ Aber das ist einfach, ich frag nicht lange und denk nicht drüber nach „Machst du das nächstes Jahr oder schiebst du es noch was.“ Ich weiß genau, nächstes Jahr gibt es vielleicht nicht. Und deswegen mach ich es jetzt. Also, wenn man abends in die, in den Schrank greift und zufällig ist die teuerste Flasche vorne, dann ist die eben auch dran.
I: Sprechen Sie häufig mit Trauernden über den Tod oder über das, was danach kommt?
Interviews zur Person
B: Ja, natürlich, das sind schon sehr intensive Gespräche und das ist auch das Salz in der Suppe meines Berufes. Dass man sich mit Menschen über solche Themen unterhalten kann und vor allen Dingen hinter ihren, ähm, Masken, die sie eigentlich im Alltag tragen, das heißt, jeder geht ja durchs Leben und baut sich seine Fassade so ein bisschen auf und, eh, wenn wir zu Menschen kommen, auch wenn das jetzt Prominente sind oder nicht Prominente, ganz egal, gucken wir hinter die Kulissen und kommen mit den Menschen auf einer ganz anderen Ebene zusammen und reden mit denen über Themen, mit denen die sich normalerweise gar nicht mit Menschen austauschen.
I: Das klingt jetzt so, als ob sie da immer besondere Erkenntnisse hätten. Ich würde mal sagen, Sie treffen Menschen in Extremsituationen und das muss nicht unbedingt immer angenehm sein.
B: Mhm, das ist auch nicht immer angenehme. Die Trauer durchlebt jeder Mensch total unterschiedlich. Das ist ganz individuell und, wenn man die Mechanismen der Trauer kennt und damit umzugehen weiß, so ein bisschen psychologische Grundlagen brauchen wir in unserem Beruf auch. Dann kann man damit gut umgehen, eh. Wenn man als Außenstehender das manchmal sieht, dann, dann kann man das gar nicht begreifen, wenn einer, z.B. plötzlich so ganz aggressiv reagiert. Das sind aber alles Bereiche, die aus der Trauerarbeit kommen und die Menschen muss man dann eben auch auffangen.
I: Sind Sie eigentlich damit groß geworden, mit dieser Auseinan dersetzung?
B: Ja, ich bin mit einem unheimlichen neugierigen Interesse an dem Beruf meiner Eltern groß geworden, kann man vielleicht sagen. Nun, man hat natürlich als kleiner Junge schon im Alter von sechs Jahren auf dem Friedhof die Kerzen in die Halle geschleppt oder dann später Autos gewaschen und, man hat da natürlich immer dran teilgenommen. Insofern, eh.
I: Könnte ja auch abschreckend gewesen sein.
B: Nee, dafür ist der Beruf einfach zu schön. Also ich, ich denke mir, dass man Menschen, also ich, man muss, man muss so ein gewisses Helfernaturell auch haben, klar. Man muss Menschen gerne helfen, möchten und müssen, im Prinzip. Dann ist man da auch richtig aufgehoben und dann ist das auch nicht ab, abschreckend.
I: Heißt das, helfen, heißt das durch Gespräche helfen oder ist das organisatorische Hilfe?
B: Das ist Hilfe ganzheitlich. Das ist in Gesprächen, das ist auch manchmal einfach nur als, als Mensch da zu sein für jemanden oder nur eine Hand zu halten. Es ist natürlich auch eine organisatorische und eine administrative Unterstützung, klar. Ich guck mir
z.B. auch, dass die Leute ihre Rentenanträge abgeben und das sind ja ganz banale Sachen. Und wir versuchen, und wir machen ganz handwerkliche Schritte, dass wir eben Verstorbene waschen und ankleiden und so was. Und, wenn Sie das so, eh, insgesamt sehen, dann ist das einfach eine Gesamtunterstützung, ganzheitlich, wo wir Menschen, die trauern eben, helfen diese Schritte, die normalerweise sie auch selber gehen könnten, wenn sie dann, die sind ja dazu alle in der Lage, theoretisch. Dadurch zu helfen und das zu organisieren und äh, dahin eben diese Abschied zu finden, der für sie wichtig ist.
I: Welche Schwierigkeiten müssen Sie überwinden in Ihrem Beruf?
B: Die enormste Schwierigkeit in meinem Beruf ist einfach Terminkoordination und, ähm, das Übereinbringen mit der Familie. Ich glaube, das sind die ganz großen Probleme, die man in unserem Beruf hat.
I: Tote anfassen?
B: Mhm, nee, das sind auch nur Menschen.
I: Ist das denn, wird man denn dafür so anerkannt. Ich denke mal so in frühere Jahr, eh, Jahrhunderte zurück. Ich denk, da waren das, waren die Leute, die Bestatter nicht unbedingt die, die gesellschaftlich ganz vorne gestanden haben.
B: Ja, das mag sein, aber es, ich glaub, es hat sich ein bisschen gewandelt. Ähm, erstmal gibt es an unserem Beruf ein unheimliches Interesse mit dem Hinwendung zu, eh, zu, Tabubruch oder zu, zu, zu Esoterik, zu allem Offenheit, was in vielen Bereichen eine Rolle spielt. Hat sich auch ein ganz anderes Bild von Abschied, Tot und Trauerfeier, ähm, in den Menschenköpfen festgesetzt. Gott sei Dank. Das wandelt sich. Und plötzlich ist der Bestatter in einer ganz anderen, eh, Position. Und es gibt immer auch unterschiedliche Menschen, das kann man auch nicht so verallgemeinern. Es gab auch früher immer schon Menschen, die Charisma hatten oder die Vordenker in ihrer Zeit waren, die mit Ideen auch als Bestatter nach vorn gegangen sind und die auch ziemliche Anerkennung hatten. Also wenn ich meinen Urgroßvater, Medard Kuckelkorn, sehe, der um die Jahrhundertwende das Unternehmen geführt hat. Das war ein unheimlich innovativer Mensch mit mehreren Patenten, hat den deutschen Herold mit gegründet, war da im Aufsichtsrat, also auch einer, der unheimlich weit gedacht als Bestatter schon. Und der war in Köln auch sehr anerkannt, also das kann man so nicht verallgemeinern.
I: Und in diesen Fußstapfen gehen Sie. B: Jo.
I: Haben Sie da, sehen Sie Ihren Sohn da auch schon in der Reihe?
B: Ich weiß es noch nicht. Also, ich hab ja sechs Kinder und irgendwer wird es hoffentlich machen. Ehm, wenn nicht, dann eben auch nicht. Man kann dazu keinen zwingen, weil das muss schon wirklich passen.
I: Vielen Dank Herr Kuckelkorn, das war ein sehr interessantes Gespräch und ich wünsch' Ihnen gute Besserung.
Anmerkungen
1: Die I hat sich für einen thematischen Einstieg entschieden, mit der Hypothese, dass sowohl Karneval als auch Bestattungen ritualisierte öffentliche Feiern und deshalb auch im Kern verwandt sind. Und es ist deshalb auch eine Frage zur Person, weil der B seine Ansichten dazu offenbaren soll.
2: Mit dem Wiederholen des Schlüsselwortes will I noch mehr heraus holen. Inhaltlich kommt nichts Neues dazu, aber so wie der B das nach folgende „Oh ja!“ ausspricht, kann I gewiss sein...
3: Die Verknüpfung ist offensichtlich ein Volltreffer – I kann jetzt mit den Emotionen weiter arbeiten und sie direkt mit dem B verknüpfen.
4: Möglicherweise ist es der I jetzt doch zuviel mit der Emotion und sie schiebt eine Frage zum Berufsbild dazwischen.
5: „Anspannung“ und „Perfektionist“ sind die beiden Angebote, die die B, entsprechend ihrer Hypothese zunächst noch beiseite läßt – sie will jetzt über die Shows reden.
6: Die Versuchung ist groß nach dem Unterschied zu fragen, aber da liegen ja noch ein paar andere Angebote auf Halde. Und gut, dass die I noch den Überblick hat.
7: Statt „einen“ noch näher ran mit „Sie“!
8:Jetzt schlägt I das Kapitel „Schwierigkeiten“ auf, nicht mit der Frage, ob es welche gab, sondern suggestiv, wann sie aufgetreten sind.
9: B ist reserviert, erzählt nur über äußere Vorgänge, I aber bleibt dabei – sie will mehr über die innere Verarbeitung wissen.
10: Das Dranbleiben hat sich gelohnt. Auch hier zeigt sich wieder: es gibt fast immer noch eine zweite Antwort.
11: Richtige Interpretation, die den B sich verstanden fühlen lässt und zu weiteren Ergänzungen führt.
12: Wechsel der Perspektive. Wieder zurück aus der Reflexion in den Arbeitsalltag des Bestatters.
13: Wieder weg von der Beschreibung zur Reflexion. Bei dem inzwischen aufgebauten Vertrauen zwischen B und I, kann I es riskieren, mit einer Vermutung ohne Frage weiter zu machen.
14: Nochmals Perspektivwechsel. Keine Stationen-Abfrage, sondern auch hier eine Ermunterung zur Reflexion.
15: Sehr gute Frage, aber „Schwierigkeiten“ hatte I schon mal thematisiert – sie will jetzt offenbar zur Arbeit selbst etwas wissen – besser wäre hier wäre: „Was an Ihrer Arbeit gefällt Ihnen überhaupt nicht?“, um dann mit dem eigenen Schrecken (“Tote anfassen“) fort zufahren.