Weite Auslegung des Arbeitnehmerbegriffs

Der Rechtsprechungsgrundsatz der möglichst großen Wirksamkeit des EU-Rechts hat im Arbeitsrecht unmittelbare Auswirkungen auf die Auslegung des Arbeitnehmer-Begriffs. Für eine Vielzahl von Richtlinien aber auch für die primärrechtlichen Regelungen in Art. 45 und 157 AEUV ist Voraussetzung, dass Arbeitnehmer betroffen sind bzw. dass ein Arbeitsverhältnis vorliegt. Im Interesse einer einheitlichen Rechtsauslegung werden beide Begriffe nicht – wie oben dargestellt – nach dem nationalen Recht der Mitgliedsstaaten sondern einheitlich unionsrechtlich ausgelegt. Nur so kann sichergestellt werden, dass nationale Rechtsordnungen nicht durch Sonderregelungen abhängig Beschäftigten der EU-rechtliche Arbeitnehmerschutz entzogen wird. Das wesentliche Merkmal eines Arbeitsverhältnisses besteht unionsrechtlich darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisungen Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Nach dieser unionsrechtlichen Vorgabe fallen auch abhängig Beschäftigte im Rahmen öffentlich-rechtlicher Sonderverhältnisse, also Beamte, Soldaten und Richter, unter den unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff. Ebenso dürften leitende Angestellte und auch kirchliche Arbeitnehmer unionsrechtlich als Arbeitnehmer angesehen werden. Daher ist fraglich, ob die in der deutschen Rechtsordnung vorhandenen Ausnahmevorschriften für leitende Angestellte bei entgegenstehenden EU-Richtlinien noch zulässig wären. Gleiches gilt für Arbeitnehmer im kirchlichen Dienst.

Auch dürfte es unionsrechtlich nicht darauf ankommen, ob nach den nationalen Regelungen der Mitgliedsstaaten ein Arbeitsvertrag überhaupt wirksam zustande gekommen ist. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass Regelungen über den Abschluss, die Wirksamkeit und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen – wie oben ausgeführt – in die Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten fallen. Ausreichend für die Arbeitnehmereigenschaft im oben genannten Sinne ist allein, dass jemand für eine andere Person im Rahmen eines Abhängigkeitsverhältnisses Tätigkeiten nach Weisung gegen Vergütung erbringt.

Im Einzelnen hat der EuGH den Arbeitnehmerbegriff unter anderem ange-

wandt auf

• Teilzeitarbeitnehmer – Levin, EuGH Slg. 1982, 1035

• Arbeitnehmer auf Abruf (Job on Call) – V.J.M. Raulin EuGH Slg. 1992, I-1027

• kurzfristig Beschäftigte (Tätigkeit weniger als einen Monat) – Vatsouras/Koupatantze EuGH Slg. 2009, I-4585

• Studienreferendare – Lawrie-Blum, EuGH Slg. 1986, 2121 (EU-Bürger haben unter Hinweis auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit Anspruch auf Übernahme als Studienreferendare)

• Arbeitnehmer bei internationalen Organisationen – Echternach EuGH Slg. 1989,

723

• Feuerwehrbeamte – Personalrat der Feuerwehr Hamburg, EuGH C-52/04, NZA 2005, 921 (Feuerwehrbeamte als Arbeitnehmer, für die das EU-Arbeitszeitrecht anwendbar ist)

• sonstige Beamte – Kommission/Frankreich, EuGH Slg. 1986, 1724; Neidel EuGH NJW 2012, 2420

• Alleingeschäftsführerin einer juristischen Person lettischen Rechts – Danosa, EuGH NZA 2011, 143 (Mutterschutz für Alleingeschäftsführerin einer lettischen Gesellschaft)

• Richter/innen/Teilzeitrichter/innen/sog. Recorder – O`Brien, EuGH C-393/10, NZA 2012, 313 (Richter/innen haben als Arbeitnehmer Anspruch auf Teilzeitarbeit nach der EU-Richtlinie 97/81/EG)

• sozialversicherungsrechtliche DO-Angestellte – Mai, EuGH C-519/09 (sozialversicherungsrechtliche Dienstordnungs-angestellte haben Anspruch auf Mindesturlaub nach der EU-Arbeitszeit-Richtlinie)

• Profisportler – Bosman, EuGH Slg. 1995, I-4921

• Mitglieder einer kirchlichen Sekte – Steymann, EuGH Slg. 1988, I-6159

• Prostituierte – Adoui, EuGH Slg. 1982, 1665

Abgelehnt wurde die Arbeitnehmereigenschaft vom EuGH für solche Personen, deren Arbeit nicht als tatsächliche und echte wirtschaftliche Tätigkeit angesehen werden kann, da sie nur ein Mittel der Rehabilitation oder Wiedereingliederung in das Arbeitsleben darstellen. Dies gilt insbesondere, wenn persönliche Umstände vorliegen, aufgrund derer die Betroffenen nicht in der Lage sind, einer Beschäftigung unter normalen Bedingungen nachzugehen und diese Beschäftigung im Rahmen der sozialen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die ein Arbeitsamt oder eine Gemeinde organisiert, erfolgt.

 
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