Fall Kempf EuGH Slg. 1986, 1741
Der deutsche Staatsangehörige K ist in den Niederlanden an einer Musikschule in Teilzeit beschäftigt. Da dieser Verdienst zum Bestreiten seines Lebensunterhaltes nicht ausreicht, gewährte ihm der niederländische Staat Unterstützung nach dem
„Gesetz zur Regelung staatlicher Leistungen für Arbeitslose“. K stellt einen Antrag auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis, die ihm versagt wird, da er Sozialleistungen in den Niederlanden in Anspruch genommen habe und daher seinen eigenen Lebensunterhalt nicht durch eigene Tätigkeit erwirtschaften könne. Nach Auffassung der zuständigen Behörde sei K daher kein durch das EU-Recht begünstigter Bürger. Nachdem K vor dem zuständigen niederländischen Raad van State wegen der Nichtverlängerung der Aufenthaltsgenehmigung geklagt hatte, legte das Gericht dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob die Inanspruchnahme von finanzieller Unterstützung aus öffentlichen Mitteln der Freizügigkeit eines Arbeitnehmers entgegengehalten werden könne.
Nach Auffassung des EuGH kommt es für den Schutz der Freizügigkeit nicht darauf an, ob die ergänzenden Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhaltes aus dem Vermögen oder der Arbeit eines Familienmitgliedes der Betroffenen herrühren oder auf einer aus öffentlichen Mitteln des Wohnort-Mitgliedsstaates bezahlten finanziellen Unterstützung beruhen. Unter Verweis auf die Entscheidung Levin verweist der EuGH darauf, dass allein entscheidend sei, ob es sich um eine echte und tatsächliche Arbeitnehmertätigkeit handele.
1. Unter die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer fällt auch ein Angehöriger eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats eine Tätigkeit im Lohnund Gehaltsverhältnis ausübt, mit der er weniger verdient, als im letztgenannten Staat als Existenzminimum angesehen wird. Dabei kommt es nicht darauf an, ob er die Einkünfte aus seiner Tätigkeit im Lohnoder Gehaltsverhältnis durch andere Einkünfte bis zu diesem Minimum ergänzt oder sich mit Existenzgrundlagen begnügt. Voraussetzung ist jedoch, dass er tatsächlich eine echte Tätigkeit im Lohnoder Gehaltsverhältnis ausübt. (Rn. 9)
2. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gehört zu den Grundlagen der Gemeinschaft. Die Vorschriften, in denen diese Grundfreiheit verankert ist, und vor allem die Begriffe „Arbeitnehmer“ und „Tätigkeit im Lohnoder Gehaltsverhältnis“, durch die der Geltungsbereich dieser Vorschriften festgelegt wird, sind daher weit, die Ausnahmen und Abweichungen vom Grundsatz der Freizügigkeit der Arbeitnehmer dagegen eng auszulegen. (Rn. 13)
3. Infolgedessen sind die diesbezüglichen Bestimmungen dahin zu verstehen, dass jemand, der eine tatsächliche und echte Teilzeitbeschäftigung ausübt, vom Geltungsbereich dieser Bestimmungen nicht allein deswegen ausgeschlossen werden kann, weil er die unter dem Existenzminimum liegenden Einkünfte aus dieser Tätigkeit durch andere zulässige Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts zu ergänzen sucht. (Rn. 14)
4. In diesem Zusammenhang kommt es nicht darauf an, ob die ergänzenden Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts aus dem Vermögen oder der Arbeit eines Familienmitglieds des Betroffenen herrühren oder ob sie – wie im vorliegenden Fall – auf einer aus öffentlichen Mitteln des Wohnortmitgliedstaats gezahlten finanziellen Unterstützung beruhen, sofern feststeht, dass es sich um eine echte und tatsächliche Arbeitnehmertätigkeit handelt. (Rn. 14)
5. Dieses Ergebnis wird dadurch bestätigt, dass die Begriffe „Arbeitnehmer“ und „Tätigkeit im Lohnund Gehaltsverhältnis“ im Sinne des Gemeinschaftsrechts nicht durch Verweisung auf die Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten definiert werden können, sondern vielmehr eine gemeinschaftsrechtliche Bedeutung haben. Diese Bedeutung wäre gefährdet, wenn die Geltendmachung der durch die Freizügigkeit der Arbeitnehmer begründeten Ansprüche ausgeschlossen wäre, sobald der Betroffene in den Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedsstaates vorgesehene Leistungen aus öffentlichen Mitteln beansprucht. (Rn. 15)