Fall Bettray EuGH Slg. 1989, 1621
Der deutsche Staatsangehörige B hält sich in den Niederlanden zu therapeutischen Zwecken in einer Wohngemeinschaft für Drogenabhängige auf. Im Rahmen der Therapie wird B ein Arbeitsplatz nach dem „Wet Sociale Werkvoorziening“ (Gesetz über die soziale Arbeitsbeschaffung, im Folgenden WSW) – vergleichbar mit den deutschen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nach dem SGB II/III – angeboten. Die Arbeit dient aber vorrangig der Rehabilitation von Drogenabhängigen. Der Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis wurde von der zuständigen Polizeibehörde abgelehnt. Die niederländische Polizeibehörde möchte den Aufenthalt von B beenden, da er nicht Arbeitnehmer sei und sich daher nicht auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit berufen könne. Gegen die Ablehnung erhebt B Klage beim niederländischen Raad van State. Dieser legte dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob Personen, die im Rahmen des „Wet Sociale Werkvoorziening“ eine Tätigkeit ausüben, als Arbeitnehmer im Sinne von Art. 45 AEUV anzusehen seien.
Nach Auffassung des EuGH sind die Leistungen von B nicht als tatsächliche und echte wirtschaftliche Tätigkeit einzustufen. Im Vordergrund steht die Rehabilitation und berufliche Eingliederung, so dass es sich nicht um eine Arbeitnehmertätigkeit im Sinne des EU-Freizügigkeitsrechts handelt.
1. Der Begriff des Arbeitnehmers im Sinne des Art. 48 EWG-Vertrag (Art. 45 AEUV) hat eine gemeinschaftsrechtliche Bedeutung und ist, da er den Anwendungsbereich einer der Grundfreiheiten der Gemeinschaft festlegt, weit auszulegen. Dieser Begriff ist anhand objektiver Kriterien zu definieren, die das Arbeitsverhältnis im Hinblick auf die Rechte und Pflichten der betroffenen Personen kennzeichnen. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält. (Rn. 11, 12)
2. Weiter ist festzustellen, dass aus dem Grundsatz der Freizügigkeit der Arbeitnehmer sowie aus der Stellung der insoweit geltenden Bestimmungen innerhalb des Systems des Vertrages folgt, dass diese Bestimmungen nur die Freizügigkeit von Personen gewährleisten, die im Wirtschaftsleben tätig sind oder sein wollen, und daher nur für die Ausübung tatsächlicher und echter Tätigkeiten gelten. (Rn. 13)
3. Die aufgrund der „WSW“ beschäftigten Personen erbringen im Rahmen eines Abhängigkeitsverhältnisses Leistungen, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhalten. Das wesentliche Merkmal eines Arbeitsverhältnisses ist somit gegeben. (Rn. 14)
4. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Produktivität der aufgrund dieser Regelung beschäftigten Personen gering ist und ihre Entlohnung deshalb weitgehend aus öffentlichen Mitteln bestritten wird. Denn für die Frage, ob jemand als Arbeitnehmer anzusehen ist, spielt es keine Rolle, wie hoch seine Produktivität ist oder woher die Mittel für seine Entlohnung stammen. (Rn. 15)
5. Dagegen ist festzustellen, dass die im Rahmen der WSW ausgeübten Tätigkeiten nicht als tatsächliche und echte wirtschaftliche Tätigkeiten angesehen werden können, da sie nur ein Mittel der Rehabilitation oder der Wiedereingliederung der Arbeitnehmer in das Arbeitsleben darstellen. (Rn. 17)
6. Die Beschäftigung im Rahmen der WSW ist Personen vorbehalten, die in Folge von Umständen, die in ihrer Person begründet liegen, nicht in der Lage sind, einer Beschäftigung unter normalen Bedingungen nachzugehen. Diese Beschäftigung im Rahmen der sozialen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen endet dann, wenn das Arbeitsamt der Gemeinde mitteilt, dass der Betroffene kurzfristig wieder einen normalen Arbeitsplatz finden kann. (Rn. 18)
7. Die betroffenen Personen werden nicht nach ihrer Befähigung zur Ausübung einer bestimmten Tätigkeit ausgesucht, sondern umgekehrt werden die Tätigkeiten auf die Fähigkeiten der Betroffenen zugeschnitten, die diese Tätigkeiten verrichten sollen, um ihre Arbeitsfähigkeit zu erhalten, wiederherzustellen oder zu fördern. (Rn. 19)
8. Somit ist Art. 48 Abs. 1 EWG-Vertrag (nunmehr Art. 45 AEUV) dahin auszulegen, dass ein Staatsangehöriger eines Mitgliedsstaates, der in einem anderen Mitgliedsstaat im Rahmen einer Regelung wie der WSW, wonach die ausgeübte Tätigkeit nur der Rehabilitation oder der Wiedereingliederung der Betroffenen in das Arbeitsverhältnis dienen, beschäftigt ist, nicht allein deswegen als Arbeitnehmer in Sinne des Gemeinschaftsrechts anerkannt werden kann. (Rn. 20)