Fall Diatta EuGH Slg. 1985, 567
Frau D ist senegalesische Staatsangehörige, die zusammen mit ihrem französischen Ehemann in Berlin-Kreuzberg wohnt. Der Ehemann arbeitet als angestellter Lehrer für Französisch und Geschichte an einer Privatschule. D beabsichtigt die Scheidung von ihrem Ehemann und lebt nunmehr in einer eigenen Mietwohnung in Berlin von ihm getrennt. Sie befürchtet, dass ihr Aufenthalt nicht verlängert wird, da sie mit ihrem Ehemann nicht mehr zusammenlebe. Als ihre Aufenthaltserlaubnis ablief, beantragte D beim zuständigen Polizeipräsidenten in Berlin die Verlängerung, die mit der Begründung abgelehnt wurde, D sei nicht mehr Familienangehörige eines EG-Angehörigen und habe keine gemeinsame Wohnung mit ihrem Ehemann. Im Rahmen des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens legte das Bundesverwaltungsgericht dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob die Freizügigkeits-VO so auszulegen sei, dass Ehegatten von Staatsangehörigen der Mitgliedsstaaten auch dann ein Aufenthaltsrecht genießen, wenn sie von diesen getrennt aber in demselben Ort wohnen.
Der EuGH stellt zunächst fest, dass Familienangehörige aus Art. 45 AEUV kein eigenes, unmittelbar aus dem Vertrag folgendes Recht auf Freizügigkeit geltend machen können. Gleichwohl können Familienangehörige ihre Rechte von der Rechtsstellung des die Freizügigkeit in Anspruch nehmenden Arbeitnehmers (sog. Wanderarbeitnehmer) ableiten. Die Einzelheiten hierzu sind u. a. in Art. 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 (Freizügigkeits-VO) sowie in Art. 7 Abs. 2, Art. 9 und Art. 16 der Richtlinie 2004/38/EG (Freizügigkeits-RL) geregelt. In diesem Zusammenhang führt der EuGH sodann aus, dass der Schutz von Familienangehörigen durch das eheliche Band so lange als nicht aufgelöst angesehen werden kann, solange dies nicht durch die zuständige Stelle ausgesprochen worden ist. Das ist bei Ehegatten nicht der Fall, die lediglich voneinander getrennt leben, selbst wenn sie die Absicht haben, sich später scheiden zu lassen.
1. Das in den Art. 48 ff. EWG-Vertrag (nunmehr Art. 45 AEUV) vorgesehene Grundrecht der Freizügigkeit gilt auch – als abgeleitetes Recht – für die Familien der Wanderarbeitnehmer. Daher darf das Freizügigkeitsrecht nicht davon abhängig gemacht werden, wie die Eheleute ihre eheliche Lebensgemeinschaft auszugestalten wünschten, indem von ihnen ein Zusammenleben in häuslicher Gemeinschaft verlangt werde. Die Vorstellungen über die Art und Weise der Gestaltung der ehelichen Beziehungen seien keineswegs in allen Mitgliedstaaten und bei allen Personen gleich. (Rn. 13)
2. Diese Freizügigkeits-Verordnung ist eine von mehreren Regelungen, durch die die Verwirklichung der Ziele des Art. 48 EWG-Vertrag (nunmehr Art. 45 AEUV) erleichtert werden soll. Sie muss daher einen Arbeitnehmer unter anderem in die Lage versetzen, sich im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, um dort eine Beschäftigung auszuüben. (Rn. 15)
3. Zu diesem Zweck sieht Art. 10 der Freizügigkeits-Verordnung vor, dass auch bestimmte Familienangehörige des Wanderarbeitnehmers in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, in dem der Arbeitnehmer ansässig ist, einreisen und dort Wohnung bei ihm nehmen dürfen. Angesichts des Zusammenhangs und der Zielsetzung dieser Bestimmung darf diese nicht eng ausgelegt werden. (Rn. 16)
4. Soweit Art. 9 und 10 der Freizügigkeits-Verordnung bestimmt, dass der Familienangehörige des Wanderarbeitnehmers bei dem Arbeitnehmer Wohnung nehmen darf, bedeutet dies nicht, dass der betreffende Familienangehörige dort ständig wohnen muss, sondern nur, dass die Wohnung, über die der Arbeitnehmer verfügt, normalen Anforderungen für die Aufnahme seiner Familie entsprechen muss. Es kann somit nicht anerkannt werden, dass darin das Erfordernis einer einzigen ständigen Familienwohnung mit enthalten ist. (Rn. 18)
5. Hinzuzufügen ist, dass das eheliche Band nicht als aufgelöst angesehen werden kann, solange dies nicht durch die zuständige Stelle ausgesprochen worden ist. Das ist bei Ehegatten nicht der Fall, die lediglich voneinander getrennt leben, selbst wenn sie die Absicht haben, sich später scheiden zu lassen. (Rn. 20)