Fall Bonsignore EuGH Slg. 1975, 297

Der italienische Staatsangehörige B kam mit 18 Jahren in die Bundesrepublik, um eine Stelle als Chemiefacharbeiter anzutreten. 1971 erwarb er ohne Waffenschein eine Pistole, mit der er beim Hantieren versehentlich seinen jüngeren Bruder tötete. Ein deutsches Strafgericht verurteilte ihn wegen unerlaubten Besitzes einer Schusswaffe und erkannte ihn wegen fahrlässiger Tötung für schuldig, sah aber nach § 60 StGB von einer Strafe ab, da die Folgen der Tat für B so schwer waren, dass die Verhängung einer Strafe offensichtlich verfehlt wäre. Im Anschluss an die ses Urteil verfügte der Oberstadtdirektor der Stadt Köln die Ausweisung von B aus der Bundesrepublik. Die Ausweisung sei aus generalpräventiven Gründen zur Abschreckung erforderlich. Nachdem B Anfechtungsklage gegen die Ausweisungsverfügung erhoben hat, legte das Verwaltungsgericht Köln dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob die Abschreckungswirkung, welche die Ausweisung eines im unerlaubten Waffenbesitzes angetroffenen Ausländers im Hinblick auf die zunehmende Gewalttätigkeit in Ballungsgebieten zu den Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gehöre, die eine Einschränkung des Freizügigkeitsprinzips rechtfertigt.

Nach Auffassung des EuGH ist ein Abweichen von den Regeln der Freizügigkeit unter dem Gesichtspunkt der öffentlichen Sicherheit, Ordnung und Gesundheit nur unter engen Voraussetzungen möglich. Voraussetzung hier sei ein persönliches Verhalten des Betroffenen, das zu einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, Ordnung und Gesundheit geführt hat. Ferner darf eine Einschränkung der Freizügigkeit nur unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfolgen. Allein general-präventive Gesichtspunkte – also die Abschreckung anderer Ausländer insbesondere in Ballungsgebieten vor der Begehung von Straftaten – sei hierfür nicht ausreichend.

1. Nach der Freizügigkeits-VO darf bei Maßnahmen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ausschließlich das persönliche Verhalten der in Betracht kommenden Einzelperson ausschlaggebend sein. Daher können strafrechtliche Verurteilungen allein ohne weiteres eine Ausweisungsmaßnahme nicht begründen. (Rn. 5)

2. Die gerechtfertigten Beschränkungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit (nunmehr Art. 45 Abs. 3 AEUV sowie Erwägungsgrund Nr. 2 zur Freizügigkeits-VO) sind mit dem fundamentalen Grundsatz der Freizügigkeit in der Gemeinschaft und mit der Beseitigung jeglicher Diskriminierung zwischen eigenen Staatsangehörigen und den Staatsangehörigen der anderen Mitgliedsstaaten in Einklang zu bringen. Daher dürfen bei Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit vom Einzelfall losgelöste Erwägungen nicht entscheidend ins Gewicht fallen. Es darf ausschließlich das persönliche Verhalten der Betroffenen ausschlaggebend sein. Da Abweichungen von den Regeln über die Freizügigkeit eng auszulegende Ausnahmevorschriften sind, darf eine Ausweisungsmaßnahme nur auf Gefährdungen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit abstellen, die von der betroffenen Einzelperson ausgehen könnten. (Rn. 5, 6)

3. Die Freizügigkeitsregelungen stehen daher der Ausweisung eines Staatsangehörigen eines Mitgliedsstaates entgegen, wenn diese zum Zwecke der Abschreckung anderer Ausländer verfügt wird, d. h. wenn sie auf „generalpräventive“ Gesichtspunkte gestützt wird. (Rn. 7)

 
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