Fall Schumacker EuGH Slg. 1995, I-225

Herr S ist belgischer Staatsangehöriger und wohnt mit seiner Familie in Belgien. Nachdem er zunächst dort beschäftigt gewesen war, arbeitete er 1988 und 1989 in einem Beschäftigungsverhältnis in Köln. Auch in dieser Zeit behielt er seinen Wohnsitz in Belgien. Er erzielte mehr als 90 % seines gesamten Einkommens durch die Erwerbstätigkeit in Köln. Nach dem zwischen Belgien und Deutschland geschlossenen Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) stand Deutschland als Beschäftigungsstaat das Recht der Einkommensbesteuerung zu. Das deutsche EStG sieht eine unterschiedliche Besteuerung der Lohnund Gehaltsempfänger je nach ihrem Wohnsitz vor. Personen mit Wohnsitz im Inland sind unbeschränkt einkommenssteuerpflichtig, während Personen mit Wohnsitz im Ausland (Gebietsfremde) nur hinsichtlich ihrer in Deutschland erzielten Einkünfte beschränkt einkommenssteuerpflichtig sind. Dagegen können Gebietsfremde – also beschränkt einkommenssteuerpflichtige Personen – eine Reihe von Steuervergünstigungen nicht in Anspruch nehmen, so z. B. das Ehegattensplitting, die Geltendmachung von personenund familienbezogenen Abzugsbeträgen sowie über einen Pauschalbetrag hinausgehende Vorsorgeaufwendungen. Zudem ist der Lohnsteuerjahresausgleich ausgeschlossen. Der Bundesfinanzhof legte dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob die einkommenssteuerrechtlichen Vorschriften, die Steuervergünstigungen für unbeschränkt Steuerpflichtige vorsehen, mit Gemeinschaftsrecht vereinbar seien.

Wie in den meisten steuerrechtlichen Entscheidungen betont der EuGH zunächst, dass die direkten Steuern nicht in den Zuständigkeitsbereich des EU-Gesetzgebers fallen. Allerdings besteht für die Mitgliedsstaaten die Verpflichtung, ihre Zuständigkeiten in steuerlichen Angelegenheiten unter Wahrung des Gemeinschaftsrechts auszuüben. Die Mitgliedsstaaten haben daher auch im Bereich des Steuerrechts das EU-Recht zu beachten. Das am Kriterium des Wohnsitzes ausgerichtete unterschiedliche Besteuerungsrecht stelle nach Auffassung des EuGH im vorliegenden Fall eine mittelbare Diskriminierung von S dar und verletze sein Recht auf Freizügigkeit. Diese Ungleichbehandlung sei auch nicht durch das sog. „Kohärenzprinzip“ gerechtfertigt. Danach ist es ausschließlich Angelegenheit des Heimatstaates und nicht des Staates, in dem der Steuerpflichtige arbeitet, die persönlichen Verhältnisse des Steuerschuldners (Familienstand, persönliche Lage usw.) zu berücksichtigen. Andernfalls würden die begünstigenden Umstände doppelt berücksichtigt werden. Eine Ausnahme von dem Kohärenzprinzip kommt allerdings dann zur Anwendung, wenn der Gebietsfremde wie im vorliegenden Fall im Wohnsitzstaat über keine nennenswerten Einkünfte verfügt und im Wesentlichen seine Tätigkeit im Beschäftigungsstaat ausübt.

1. Es ist festzustellen, dass zwar der Bereich der direkten Steuern beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts nicht in die Zuständigkeit der Gemeinschaft fällt, die Mitgliedstaaten die ihnen verbliebenen Befugnisse jedoch unter Wahrung des Gemeinschaftsrechts ausüben müssen. (Rn. 21)

2. Die Freizügigkeit innerhalb der Gemeinschaft umfasst nach Art. 48 Abs. 2 (nunmehr Art. 45 AEUV) des Vertrages die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten, namentlich in Bezug auf die Entlohnung. Verboten sind danach nicht nur offensichtliche Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle versteckten Formen der Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu dem gleichen Ergebnis führen. (Rn. 22)

3. Die hier einschlägigen steuerrechtlichen Vorschriften gelten zwar unabhängig von der Staatsangehörigkeit des betreffenden Steuerpflichtigen. Es besteht aber die Gefahr, dass sich derartige nationale Rechtsvorschriften, die eine Unterscheidung aufgrund des Kriteriums des Wohnsitzes treffen, indem sie Gebietsfremden bestimmte Steuervergünstigungen verweigern, hauptsächlich zum Nachteil der Angehörigen anderer Mitgliedstaaten auswirken, da Gebietsfremde meist Ausländer sind. (Rn. 27, 28)

4. Unter diesen Umständen können Steuervergünstigungen, die den Gebietsansässigen eines Mitgliedstaats vorbehalten werden, eine mittelbare Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit darstellen. (Rn. 29)

5. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass eine Diskriminierung nur darin bestehen kann, dass unterschiedliche Vorschriften auf vergleichbare Situationen angewandt werden oder dass dieselbe Vorschrift auf unterschiedliche Situationen angewandt wird. Im Hinblick auf die direkten Steuern befinden sich Gebietsansässige und Gebietsfremde in der Regel nicht in einer vergleichbaren Situation. (Rn. 30, 31)

6. Etwas anderes gilt jedoch, wenn der Gebietsfremde wie im Ausgangsverfahren in seinem Wohnsitzstaat keine nennenswerten Einkünfte hat und sein zu versteuerndes Einkommen im Wesentlichen aus einer Tätigkeit bezieht, die er im Beschäftigungsstaat ausübt, so dass der Wohnsitzstaat nicht in der Lage ist, ihm die Vergünstigungen zu gewähren, die sich aus der Berücksichtigung seiner persönlichen Lage und seines Familienstands ergeben. (Rn. 36)

 
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