Fall Graf EuGH Slg. 2000, I-493

In dem Rechtsstreit zwischen dem deutschen Staatsangehörigen Volker Graf und der Filzmoser Maschinenbau GmbH mit Sitz in Wels (Österreich) ging es um die Weigerung des beklagten Arbeitgebers, dem Kläger Graf die von diesem gemäß

§ 23 des Angestelltengesetzes (AngG) beanspruchte Abfertigung (Kündigungsabfindung) zu zahlen, nachdem er selbst den Arbeitsvertrag mit der Beklagten gekündigt hatte, um in Deutschland eine Arbeit aufzunehmen. Nach § 23 Abs. 1 AngG gebührt dem Angestellten bei Auflösung des Dienstverhältnisses eine Abfindung. Diese beträgt das Zweifache des dem Angestellten für den letzten Monat des Dienstverhältnisses gebührenden Entgelts. Nach Abs. 7 besteht der Anspruch auf Abfertigung aber nicht, wenn der Angestellte selbst kündigt, wenn er ohne wichtigen Grund vorzeitig austritt und wenn ihn ein Verschulden an der vorzeitigen Entlassung trifft. Die Beklagte weigerte sich unter Berufung auf § 23 Abs. 7 AngG, dem Kläger die von diesem nach § 23 Abs. 1 AngG geforderte Abfertigung in Höhe von zwei Monatsentgelten zu zahlen. Der Kläger verklagte daraufhin seinen ehemaligen Arbeitgeber beim Landesgericht Wels auf Zahlung der Abfertigung. Er machte insbesondere geltend, dass § 23 Abs. 7 AngG gegen Art. 48 EG-Vertrag (nunmehr Art. 45 AEUV) verstoße. Er werde durch den Verlust des Abfindungsanspruchs an einer Arbeitsaufnahme in Deutschland gehindert. Das Landesgericht Wels wies die Klage ab und führte u. a. aus, dass § 23 Abs. 7 AngG keine durch Art. 48 EG-Vertrag verbotene Diskriminierung oder Beschränkung enthalte, denn diese Vorschrift schränke die grenzüberschreitende Mobilität nicht stärker ein als die Mobilität innerhalb Österreichs, und der Verlust einer Abfertigung in Höhe von zwei Monatsentgelten bewirke keine spürbare Beschränkung der Freizügigkeit. Der Kläger legte gegen das Urteil beim OLG Linz Berufung ein. Das Gericht hat das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt, ob Art. 48 EG-Vertrag (nunmehr Art. 45 AEUV) einer nationalen Regelung entgegenstehe, nach der ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, bei Beendigung seines Dienstverhältnisses nur deshalb keinen Abfertigungsanspruch hat, weil er dieses Dienstverhältnis durch Kündigung selbst aufgelöst hat, um in einem anderen Mitgliedstaat eine unselbständige Tätigkeit auszuüben.

Der EuGH ist der Auffassung, dass das Arbeitnehmerfreizügigkeitsrecht einer nationalen Regelung nicht entgegenstehe, nach der ein Arbeitnehmer, der das Arbeitsverhältnis selbst kündigt, um in einem anderen Mitgliedsstaat eine unselbständige Tätigkeit auszuüben, keinen Anspruch auf eine Abfindung hat. Die Regelung über den Verlust der Abfindung wirke nur indirekt und betreffe auch Arbeitnehmer, die innerhalb des Mitgliedsstaates den Arbeitsplatz wechseln.

1. Art. 48 Abs. 2 EG-Vertrag (nunmehr Art. 45 Abs. 2 AEUV) bestimmt ausdrücklich, dass die Freizügigkeit der Arbeitnehmer die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen umfasst. (Rn. 14)

2. Im Übrigen verbietet der in Art. 48 EG-Vertrag (nunmehr Art. 45 AEUV) verankerte Grundsatz der Gleichbehandlung nicht nur offene Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle verschleierten Formen von Diskriminierung, die bei Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu demselben Ergebnis führen. Eine Regelung wie die, um die es im Ausgangsverfahren geht, ist unabhängig von der Staatsangehörigkeit des betroffenen Arbeitnehmers anwendbar. (Rn. 14, 15)

3. Des Weiteren versagt sie den Abfertigungsanspruch jedem Arbeitnehmer, der den Arbeitsvertrag selbst beendet, um eine unselbständige Tätigkeit bei einem neuen Arbeitgeber aufzunehmen, unabhängig davon, ob dieser seinen Sitz in demselben Mitgliedstaat wie der vorige Arbeitgeber oder in einem anderen Mitgliedstaat hat. Deshalb lässt sich nicht sagen, dass die Regelung ausländische Arbeitnehmer in stärkerem Maße berührt als inländische und deshalb vor allem die ersteren zu benachteiligen droht. (Rn. 16)

4. Art. 48 EG-Vertrag (nunmehr Art. 45 AEUV) verbietet nicht nur jede unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit, sondern auch nationale Regelungen, die, auch wenn sie unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betroffenen Arbeitnehmer anwendbar sind, deren Freizügigkeit beeinträchtigen. (Rn. 18)

5. Auch unterschiedslos anwendbare Bestimmungen, die einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats daran hindern oder davon abhalten, sein Herkunftsland zu verlassen, um von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen, stellen daher Beeinträchtigungen dieser Freiheit dar. Dies ist jedoch nur dann der Fall, wenn sie den Zugang der Arbeitnehmer zum Arbeitsmarkt beeinflussen. (Rn. 23)

6. Die Regelung in § 23 Abs. 7 AngG ist nicht geeignet, den Arbeitnehmer daran zu hindern oder davon abzuhalten, sein Arbeitsverhältnis zu beenden, um eine unselbständige Tätigkeit bei einem anderen Arbeitgeber auszuüben, denn der Abfertigungsanspruch hängt nicht von der Entscheidung des Arbeitnehmers ab, ob er bei seinem derzeitigen Arbeitgeber bleibt oder nicht, sondern von einem zukünftigen hypothetischen Ereignis, nämlich einer späteren Beendigung des Arbeitsverhältnisses, die der Arbeitnehmer selbst weder herbeigeführt noch zu vertreten hat. (Rn. 24)

7. Ein derartiges Ereignis ist jedoch zu ungewiss und wirkt zu indirekt, als dass eine Regelung, die an die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitnehmer selbst nicht dieselbe Rechtsfolge knüpft wie an eine Beendigung durch den Arbeitgeber, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer beeinträchtigen könnte. (Rn. 25)

 
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