Praktische Fallbeispiele
Die nachfolgenden Fallbeispiele behandeln daher die Frage einer Diskriminierung von Arbeitnehmern bzw. ihren Familienangehörigen bei der Geltendmachung von sozialen Vergünstigungen. Dabei wird auch eine Entscheidung zu der rechtspolitisch besonders umstrittenen Fragen des Anspruchs auf Sozialhilfe bei nur kurzer beruflicher Tätigkeit in einem Mitgliedsstaat dargestellt.
Fall Michel S. EuGH Slg. 1973, 457
M und sein Vater besitzen die italienische Staatsangehörigkeit. Der Vater von M arbeitet in Belgien. Aufgrund seiner stark verminderten geistigen Fähigkeit hat M bislang nie gearbeitet. Seine Beschäftigungschancen sind auch gering. Der Vater von M beantragt für diesen bei den belgischen Behörden die staatliche Förderung der Beschäftigungseignung seines Sohnes. Auf solche Förderungen haben nach der belgischen Rechtslage nur belgische Behinderte einen Rechtsanspruch, so dass der Antrag abgewiesen wurde. Auf die daraufhin erhobene Klage legte das Tribunal du Travail Brüssel dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob das belgische Gesetz über die soziale Wiedereingliederung von Behinderten auch für Kinder von Arbeitnehmern aus anderen Mitgliedsstaaten zur Anwendung kommt, wenn diese in Belgien tätig sind.
Nach Auffassung des EuGH gebietet der Grundsatz der Gleichbehandlung nach Art. 45 Abs. 2 AEUV sowie die Freizügigkeits-VO, dass die berufliche Förderung eines behinderten, nicht inländischen Angehörigen eines europäischen Arbeitnehmers nicht schlechter gestellt werden darf als die Förderung eines inländischen Behinderten.
1. Nach Art. 7 der Freizügigkeits-VO Nr. 1612/68 (nunmehr Art. 7 Abs. 1 VO (EU) 491/2011) darf ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, aufgrund seiner Staatsangehörigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten hinsichtlich der Beschäftigungsund Arbeitsbedingungen, insbesondere im Hinblick auf Entlohnung, Kündigung und, falls er arbeitslos geworden ist, im Hinblick auf berufliche Wiedereingliederung oder Wiedereinstellung, nicht anders behandelt werden als die inländischen Arbeitnehmer. (Rn. 6/10)
2. Nach den Absätzen 2 und 3 des gleichen Artikels genießt ein solcher Arbeitnehmer im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten die gleichen sozialen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer und kann mit dem gleichen Recht und unter den gleichen Bedingungen wie die inländischen Arbeitnehmer Berufsschulen und Umschulungszentren in Anspruch nehmen. (Rn. 6/10)
3. Laut Art. 12 der Freizügigkeits-Verordnung Nr. 1612/68 (nunmehr Art. 10 VO (EU) Nr. 492/2011) können die Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlingsund Berufsausbildung teilnehmen. (Rn. 12/15)
4. Nach alledem ist Art. 12 der Freizügigkeits-Verordnung Nr. 1612/68 (nunmehr Art. 10 VO (EU) Nr. 492/2011) so zu verstehen, dass er Maßnahmen einschließt, die in innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgesehen sind, mit denen es den Behinderten ermöglicht wird, ihre Eignung für eine Beschäftigung herzustellen oder zu verbessern, und die somit die Berufsberatung,
-ausbildung und –Umschulung dieser Behinderten zum Gegenstand haben.
(Rn. 16)