Fall Vatsouras/Koupatantze EuGH Slg. 2009, I-4585

Der griechische Staatsbürger V kam im März 2006 nach Deutschland. Am 10. Juli 2006 beantragte der beim Arbeitsamt Leistungen nach dem SGB II. Das Arbeitsamt bewilligte Leistungen bis zum 30. November 2006. Das von V im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit erzielte Einkommen wurde von der Leistung abgezogen, so dass diese sich auf monatlich 169,00 € belief. Ende Januar 2007 endete die berufliche Tätigkeit von V. Mit Bescheid vom 18. April 2007 hob das Arbeitsamt die Leistungen mit Wirkung vom 30. April 2007 auf. Es begründete dies damit, dass die Erwerbstätigeneigenschaft nach Art. 7 Abs. 3 c Richtlinie 2004/38 (UnionsbürgerRichtlinie) im Falle der Nichterwerbstätigkeit bzw. Arbeitslosigkeit nur für sechs Monate aufrechtzuerhalten sei. Damit entfalle die Leistungsberechtigung nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II.

Der griechische Staatsbürger K reiste im Oktober 2006 nach Deutschland ein und nahm am 1. November 2006 eine Arbeitsstelle an. Sein Arbeitsverhältnis endete am 21. Dezember 2006 nach Kündigung durch den Arbeitgeber wegen Auftragsmangel. Am 22. Dezember 2006 beantragte K beim Arbeitsamt Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II. Mit Bescheid vom 15. Januar 2007 wurden ihm Leistungen bis 28. April 2007 gewährt. Eine weitergehende Gewährung wurde abgelehnt. Dabei beruft sich das Arbeitsamt auf Art. 7 Abs. 3 c sowie auch auf Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 (Unionsbürger-Richtlinie), wonach ein Aufnahmemitgliedsstaat nicht verpflichtet ist, Arbeitssuchenden während eines längeren Zeitraums – hier länger als sechs Monate – der Arbeitssuche Sozialhilfe zu gewähren.

V und K klagen wegen der Nichtgewährung von Sozialhilfe vor dem Sozialgericht Nürnberg. Dieses hat in beiden Fällen eine nur kurze und nicht existenzsichernde geringfügige Beschäftigung festgestellt und dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt, ob Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 und § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II, die Sozialhilfeleistungen ausschließen, mit dem Recht der Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 39 EG (nunmehr Art. 45 AEUV) und dem Diskriminierungsverbot wegen Staatsangehörigkeit nach Art. 12 EG (nunmehr Art. 18 AEUV) vereinbar seien.

Der EuGH führt aus, dass es legitim sei, wenn ein Mitgliedsstaat Sozialhilfe erst gewährt, nachdem das Bestehen einer tatsächlichen Verbindung des Arbeitssuchenden mit dem Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedsstaates festgestellt wurde. Das Bestehen einer solchen Verbindung kann sich unter anderem aus der Feststellung ergeben, dass der Betroffene während eines angemessenen Zeitraums tatsächlich eine Beschäftigung in dem Aufnahmemitgliedsstaat gesucht hat. Im Ergebnis sei es Sache der zuständigen nationalen Behörden und Gerichte, eine solche Verbindung mit dem Arbeitsmarkt festzustellen.

1. Weder die begrenzte Höhe der Vergütung noch die Herkunft der Mittel für diese Vergütung kann irgendeine Auswirkung auf die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Gemeinschaftsrechts haben. Dass die Bezahlung einer unselbständigen Tätigkeit unter dem Existenzminimum liegt, hindert nicht, die Person, die diese Tätigkeit ausübt, als Arbeitnehmer im Sinne des Art. 39 EG (nunmehr Art. 45 AEUV) anzusehen, selbst wenn der Betroffene die Vergütung durch andere Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts wie eine aus öffentlichen Mitteln des Wohnortmitgliedstaats gezahlte finanzielle Unterstützung zu ergänzen sucht. (Rn. 27, 28)

2. Zudem führt hinsichtlich der Dauer der ausgeübten Tätigkeit der bloße Umstand, dass eine unselbständige Tätigkeit von kurzer Dauer ist, als solcher nicht dazu, dass diese Tätigkeit vom Anwendungsbereich des Art. 39 EG (nunmehr Art. 45 AEUV) ausgeschlossen ist. Folglich lässt sich unabhängig von der begrenzten Höhe der Vergütung und der kurzen Dauer der Berufstätigkeit nicht ausschließen, dass diese aufgrund einer Gesamtbewertung des betreffenden Arbeitsverhältnisses von den nationalen Stellen als tatsächlich und echt angesehen werden kann. (Rn. 29, 30)

3. Sollte das vorlegende Gericht hinsichtlich der von V und K ausgeübten Tätigkeiten zu einem solchen Ergebnis gelangen, wäre deren Erwerbstätigeneigenschaft während mindestens sechs Monaten aufrechterhalten geblieben. Solche Tatsachenwürdigungen fallen jedoch allein in den Verantwortungsbereich des innerstaatlichen Gerichts. Sollten V und K die Erwerbstätigeneigenschaft behalten haben, hätten sie während des genannten Sechsmonatszeitraums nach Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 Anspruch auf Leistungen wie die nach dem SGB II gehabt. (Rn. 31, 32)

4. Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 sieht eine Abweichung vom Gleichbehandlungsgrundsatz vor. Nach dieser Bestimmung ist der Aufnahmemitgliedstaat nicht verpflichtet, u. a. Arbeitsuchenden während des längeren Zeitraums, während dessen sie dort ein Aufenthaltsrecht haben, einen Anspruch auf Sozialhilfe zu gewähren. (Rn. 34, 35)

5. Die Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, die in einem anderen Mitgliedstaat eine Beschäftigung suchen, fallen in den Anwendungsbereich von Art. 39 EG (nunmehr Art. 45 AEUV) und haben daher Anspruch auf die in Abs. 2 dieser Bestimmung vorgesehene Gleichbehandlung. Außerdem ist es angesichts der Einführung der Unionsbürgerschaft und der Auslegung, die das Recht der Unionsbürger auf Gleichbehandlung in der Rechtsprechung erfahren hat, nicht mehr möglich, vom Anwendungsbereich des Art. 39 Abs. 2 EG (nunmehr Art. 45 Abs. 2 AEUV) eine finanzielle Leistung auszunehmen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats erleichtern soll. (Rn. 36, 37)

6. Es ist jedoch legitim, dass ein Mitgliedstaat eine solche Beihilfe erst gewährt, nachdem das Bestehen einer tatsächlichen Verbindung des Arbeitsuchenden mit dem Arbeitsmarkt dieses Staates festgestellt wurde. Das Bestehen einer solchen Verbindung kann sich u. a. aus der Feststellung ergeben, dass der Betroffene während eines angemessenen Zeitraums tatsächlich eine Beschäftigung in dem betreffenden Mitgliedstaat gesucht hat. (Rn. 38, 39)

7. Finanzielle Leistungen, die unabhängig von ihrer Einstufung nach nationalem Recht den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen, können allerdings nicht als „Sozialhilfeleistungen“ im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 angesehen werden. (Rn. 45)

8. Folglich können sich die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten, die auf Arbeitsuche in einem anderen Mitgliedstaat sind und tatsächliche Verbindungen mit dem Arbeitsmarkt dieses Staates hergestellt haben, auf Art. 39 Abs. 2 EG (nunmehr Art. 45 Abs. 2 AEUV) berufen, um eine finanzielle Leistung in Anspruch zu nehmen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern soll. (Rn. 40)

9. Es ist Sache der zuständigen nationalen Behörden und gegebenenfalls der innerstaatlichen Gerichte, nicht nur das Vorliegen einer tatsächlichen Verbindung mit dem Arbeitsmarkt festzustellen, sondern auch die grundlegenden Merkmale dieser Leistung zu prüfen, insbesondere ihren Zweck und die Voraussetzungen ihrer Gewährung. (Rn. 41)

10. Eine Voraussetzung wie die in § 7 Abs. 1 SGB II enthaltene, wonach der Betroffene erwerbsfähig sein muss, könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Leistung den Zugang zur Beschäftigung erleichtern soll. Auf jeden Fall ist die Ausnahme nach Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 im Einklang mit Art. 39 Abs. 2 EG (nunmehr Art. 45 Abs. 2 AEUV) auszulegen. (Rn. 43, 44)

 
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