Fall Krüger EuGH Slg. 1999, I-5127

Nach der Geburt ihres Kindes arbeitet K – während des Erziehungsurlaubes – bei ihrem Arbeitgeber nur im Rahmen eines geringfügigen Beschäftigungsverhältnisses nach § 8 SGB IV. Nachdem bei ihrem Arbeitgeber geltenden Tarifvertrag steht eine Weihnachtsgratifikation nur Vollzeitkräften zu. Das Arbeitsgericht München legte dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob auch tarifvertragliche Sonderzahlungen in den Anwendungsbereich von Art. 157 AEUV fallen.

Der EuGH stellt fest, dass das Diskriminierungsverbot nach Art. 157 AEUV auch auf Tarifverträge Anwendung findet und stellt eine unzulässige mittelbare Diskriminierung fest.

1. Eine Zuwendung, die der Arbeitnehmer nach Maßgabe eines Gesetzes oder eines Tarifvertrags am Jahresende vom Arbeitgeber erhält, wird aufgrund des Dienstverhältnisses gewährt und stellt damit ein Entgelt im Sinne von Art. 119 des EWG-Vertrages (nunmehr Art. 157 AEUV) dar. (Rn. 17)

2. Art. 119 des Vertrages (nunmehr Art. 157 AEUV) stellt den Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit auf; er erfasst jedoch nicht den Fall, dass eine Gruppe von Arbeitnehmern im Vergleich zu einer anderen Gruppe von Arbeitnehmern des gleichen Geschlechts diskriminiert wird. (Rn. 18)

3. Damit stellt der Ausschluss geringfügig Beschäftigter im Sinne von § 8 SGB IV vom Geltungsbereich des BAT keine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts dar. Daher ist zu prüfen, ob eine solche Maßnahme eine mit Art. 119 des Vertrages (nunmehr Art. 157 AEUV) unvereinbare mittelbare Diskriminierung darstellen kann. (Rn. 21)

4. Art. 119 des Vertrages (nunmehr Art. 157 AEUV) steht einer nationalen Vorschrift oder einer tarifvertraglichen Bestimmung entgegen, die zwar unabhängig vom Geschlecht der Arbeitnehmer angewandt wird, im Ergebnis jedoch einen erheblich höheren Prozentsatz der Frauen als der Männer benachteiligt, es sei denn, dass sie aus objektiven Gründen, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben, gerechtfertigt ist. (Rn. 22)

5. Mit dem im SGB IV vorgesehenen Ausschluss geringfügig Beschäftigter von der Sozialversicherung soll einer sozialen Nachfrage nach geringfügigen Beschäftigungen entsprochen werden, wie dies die deutsche Regierung im Rahmen ihrer Sozialund Beschäftigungspolitik für erforderlich gehalten hat. Geringfügig Beschäftigte sind daher nach § 3 Buchstabe n BAT vom Geltungsbereich des BAT ausgenommen und erhalten damit nicht die im BAT vorgesehene Jahressonderzuwendung. (Rn. 23, 24)

6. Der Ausschluss vom Geltungsbereich des BAT kann jedoch nicht den Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit ändern, wie er in Art. 119 des Vertrages (nunmehr Art. 157 AEUV) verankert ist. Der Ausschluss geringfügig Beschäftigter von einem Tarifvertrag, in dem die Gewährung einer Jahressonderzuwendung vorgesehen ist, stellt eine Ungleichbehandlung im Vergleich zu den vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmern dar. Sollte das nationale Gericht, das für die Beurteilung des Sachverhalts allein zuständig ist, feststellen, dass dieser Ausschluss, auch wenn er unabhängig vom Geschlecht der Arbeitnehmer erfolgt, im Ergebnis prozentual erheblich mehr Frauen als Männer trifft, so wird es daraus zu folgern haben, dass der betreffende Tarifvertrag eine mittelbare Diskriminierung im Sinne von Art. 119 des Vertrages (nunmehr Art. 157 AEUV) enthält. (Rn. 25, 26)

7. Der Beklagte macht allerdings geltend, das sozialund beschäftigungspolitische Ziel der Regelung, das objektiv nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun habe, rechtfertige im vorliegenden Fall den Ausschluss geringfügiger Beschäftigungen vom Geltungsbereich des Tarifvertrags. (Rn. 27)

8. Nach dem Gemeinschaftsrecht sind die Mitgliedstaaten für die Sozialpolitik zuständig. Es ist ihre Sache, die Maßnahmen zu wählen, die zur Verwirklichung ihrer sozialund beschäftigungspolitischen Ziele geeignet sind. Bei der Ausübung dieser Zuständigkeit verfügen die Mitgliedstaaten über einen weiten Entscheidungsspielraum. Im vorliegenden Fall handelt es sich aber weder um eine Maßnahme, die der nationale Gesetzgeber im Rahmen seines Ermessens getroffen hat, noch um einen tragenden Grundsatz des deutschen Systems der sozialen Sicherheit. (Rn. 28, 29)

9. Der tarifvertragliche Ausschluss unselbständig Erwerbstätiger, die eine Beschäftigung von regelmäßig weniger als fünfzehn Stunden in der Woche ausüben, bei der das Arbeitsentgelt regelmäßig einen bestimmten Bruchteil der monatlichen Bezugsgröße nicht übersteigt und die deshalb sozialversicherungsfrei ist, von einer Jahressonderzuwendung, der zwar unabhängig vom Geschlecht der Arbeitnehmer erfolgt, jedoch im Ergebnis prozentual erheblich mehr Frauen als Männer trifft, stellt eine mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts dar. (Rn. 30)

 
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