Fall Bötel EuGH Slg. 1992, I-3589

Frau B war teilzeitbeschäftigtes Betriebsratsmitglied bei der Arbeiterwohlfahrt der Stadt Berlin und nahm an einer Schulungsveranstaltung gemäß § 37 BetrVG teil. Nach den §§ 37, 40 BetrVG ist der Arbeitgeber verpflichtet, den Betriebsratsmitgliedern für ihre vertraglich geschuldete Arbeitszeit Lohnersatz zu leisten. Frau B macht geltend, dass sie für ihre Betriebsratstätigkeit über die individuelle Arbeitszeit hinaus Anspruch auf Lohnersatz für die Gesamtdauer der Veranstaltung hat. Das LAG Berlin legte dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob bei Beachtung von Art. 157 AEUV sich die Vergütung der teilzeitbeschäftigten Betriebsratsmitglieder für die Teilnahme an Schulungsveranstaltungen nur auf die Dauer der individuell vereinbarten Teilzeit oder auf die gesamte Dauer der Veranstaltung beziehen muss.

Zunächst stellt der EuGH fest, dass es sich bei den Lohnersatzzahlungen an Betriebsratsmitglieder nach § 37 Abs. 3 BetrVG um Vergütungen handelt, die dem Entgeltbegriff des Art. 157 AEUV unterfallen. Der EuGH führt aus, dass teilzeitbeschäftigte Betriebsratsmitglieder eine niedrigere Vergütung erhalten als ihre vollzeitbeschäftigten Kollegen, obwohl sie unterschiedslos an der gleichen Zahl von Schulungsstunden teilnehmen. Dies sei geeignet, die Gruppe der teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmer, bei der der Frauenanteil unstreitig überwiegt, davon abzuhalten, eine Tätigkeit als Betriebsratsmitglied auszuüben oder die für die Ausübung dieser Tätigkeit erforderlichen Kenntnisse zu erwerben. Aus diesem Grunde komme es zu einer Verletzung von Art. 157 AEUV sowie Richtlinie 75/117/EWG (nunmehr RL 2006/54/EG).

1. Zunächst ist festzustellen, ob die Vergütung – in Form von bezahlter Arbeitsfreistellung oder der Bezahlung von Überstunden – für Schulungsveranstaltungen, die für die Betriebsratstätigkeit erforderliche Kenntnisse vermitteln, unter den Begriff des „Entgelts“ im Sinne des Art. 119 EWG-Vertrag (nunmehr Art. 157 AEUV) und der Richtlinie 75/117/EWG (nunmehr Art. 4 RL 2006/54/EG) fällt. (Rn. 11)

2. Auch wenn sich eine Vergütung als solche nicht aus dem Arbeitsvertrag ergibt, so wird sie vom Arbeitgeber doch aufgrund von Rechtsvorschriften und aufgrund eines Arbeitsverhältnisses gezahlt. Die Betriebsratsmitglieder haben nämlich notwendigerweise die Eigenschaft eines Arbeitnehmers des Betriebs und sind damit betraut, für die Interessen des Personals einzutreten; sie fördern damit das Bestehen harmonischer Arbeitsbeziehungen innerhalb des Betriebs und liegen in dessen allgemeinem Interesse. (Rn. 14)

3. Darüber hinaus soll die Vergütung, die aufgrund einer Regelung wie der im Ausgangsverfahren streitigen gezahlt wird, den Betriebsratsmitgliedern ein Einkommen sichern, selbst wenn sie während der Dauer von Schulungsveranstaltungen keine in ihrem Arbeitsvertrag vorgesehene Tätigkeit ausüben. (Rn. 15)

4. Zweitens ist festzustellen, ob teilzeitbeschäftigte Betriebsratsmitglieder in Anwendung der nationalen Regelung bezüglich der Vergütung bei der Teilnahme an Schulungsveranstaltungen anders behandelt werden als vollzeitbeschäftigte Betriebsratsmitglieder. (Rn. 16)

5. Beide Gruppen von Betriebsratsmitgliedern wenden für die Teilnahme an diesen Schulungsveranstaltungen die gleiche Stundenzahl auf. Wenn jedoch die Dauer der während der betrieblichen Vollarbeitszeit veranstalteten Schulungen über die individuelle Arbeitszeit der teilzeitbeschäftigten Betriebsratsmitglieder hinausgeht, erhalten diese vom Arbeitgeber eine niedrigere Vergütung als die vollzeitbeschäftigten Mitglieder und werden folglich unterschiedlich behandelt. (Rn. 17)

6. Schließlich ist festzustellen, dass dieser Unterschied in der Behandlung der teilzeitbeschäftigten Betriebsratsmitglieder – sollte sich herausstellen, dass unter den Betriebsratsmitgliedern ein erheblich geringerer Prozentsatz Frauen vollzeitbeschäftigt ist als Männer – im Widerspruch zu Art. 119 EWG-Vertrag (nunmehr Art. 157 AEUV) steht. (Rn. 18)

7. Ein solcher Widerspruch liegt dann vor, wenn diese niedrigere Vergütung – unter Berücksichtigung der für weibliche Arbeitnehmer bestehenden Schwierigkeiten, als Vollzeitbeschäftigte zu arbeiten – nicht durch Umstände zu erklären ist, die eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts ausschließen. (Rn. 18)

 
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