Praktische Fallbeispiele
In Anbetracht der erheblichen sozialen Folgen kann es nicht verwundern, dass der EuGH sich regelmäßig mit Fragen der Einbeziehung sozialversicherungsrechtlicher Ansprüche (Defrenne, Nolte u. Gómez) in den Anwendungsbereich von Art. 157 AEUV zu befassen hatte. Dabei war zudem auch zwischen betrieblichen Altersversorgungsleistungen und gesetzlichen Altersversorgungsansprüchen zu unterscheiden (Barber).
Fall Defrenne EuGH Slg. 1971, 445
Die belgische Staatsangehörige Defrenne wurde von der „Société anonyme de navigation aérienne Sabena“ am 1. Dezember 1951 als Bordstewardess eingestellt. Am
15. Februar 1968, dem Tag an dem sie 40 Jahre alt wurde, endete ihr Arbeitsverhältnis entsprechend einer Vereinbarung im Arbeitsvertrag, wonach das weibliche Bordpersonal nicht älter als 40 Jahre sein durfte. Wegen dieser Regelung setzt sich D beim Arbeitsgericht zur Wehr. Hinsichtlich der Höhe ihres Rentenanspruchs klagt D vor dem Belgischen Sozialgericht. D rügt gegenüber der belgischen Rentenversicherung, dass Zeiten – die sie im Rahmen der Erziehung ihrer Kinder außerhalb des Arbeitslebens verbracht hat – nicht ausreichend bei der Rentenberechnung berücksichtigt werden. Der zuständige Conseil d`Etat legte dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob die Altersrente, die im Rahmen der durch die Beiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern sowie durch staatliche Zuschüsse finanzierte Sozialversicherung gewährt wird, eine Vergütung aufgrund eines Dienstverhältnisses und damit ein Entgelt im Sinne von Art. 157 Abs. 1 AEUV darstelle.
Der EuGH sieht in Leistungen des Arbeitgebers zur staatlichen Sozialversicherung kein Entgelt im Sinne von Art. 157 AEUV. Demnach können Ansprüche auf Leistungen, solange sie unmittelbar durch Gesetz geregelt werden und zwingend für eine nur allgemein umschriebene Gruppe von Arbeitnehmern gelten, nicht unter den gemeinschaftsrechtlichen Entgeltbegriff subsumiert werden. Eine Ausnahme bestehe allerdings dann, wenn die Zahlung von Sozialversicherungsleistungen sich unmittelbar auf eine arbeitsvertragliche Vereinbarung zurückführen lässt. Für die Qualifikation einer Vergütung als Entgelt im Sinne von Art. 157 AEUV ist damit entscheidend, dass sie ihren Ursprung in einer vertraglichen, auf dem konkreten Arbeitsverhältnis beruhenden Vereinbarung zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber finden und keine finanzielle Unterstützung durch staatliche Stellen erfährt.
1. Nach Art. 119 Abs. 1 EWG-Vertrag (nunmehr Art. 157 AEUV) sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit zu gewährleisten. In Abs. 2 dieser Vorschrift wird der Begriff des Entgelts auf alle gegenwärtigen oder künftigen in bar oder in Sachleistungen gezahlten Vergütungen ausgedehnt, vorausgesetzt dass sie der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer wenigstens mittelbar aufgrund des Dienstverhältnisses zahlt. (Rn. 5/6)
2. Jedoch können unmittelbar durch Gesetz geregelte, keinerlei vertragliche Vereinbarungen innerhalb des Unternehmens oder in dem betroffenen Gewerbezweig zulassende Sozialversicherungssysteme oder -leistungen, insbesondere Altersrenten, die zwingend für allgemein umschriebene Gruppen von Arbeitnehmern gelten, nicht in den Entgeltbegriff einbezogen werden, wie er in Art. 119 EWG-Vertrag (nunmehr Art. 157 AEUV) begrenzt ist. Denn diese Regelungen sichern den Arbeitnehmern Ansprüche aus gesetzlichen Systemen, an deren Finanzierung Arbeitnehmer, Arbeitgeber und gegebenenfalls die öffentliche Hand in einem Maße beteiligt sind, das weniger vom Dienstverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer als von sozialpolitischen Erwägungen abhängt. (Rn. 7/12)
3. Der Arbeitgeberanteil an der Finanzierung solcher Systeme stellt daher keine unmittelbare oder mittelbare Zahlung an den Arbeitnehmer dar. Letzterer wird die gesetzlich vorgeschriebenen Leistungen nicht aufgrund des Arbeitgeberbeitrags, sondern allein deshalb erhalten, weil er die gesetzlichen Voraussetzungen des Leistungsanspruchs erfüllt. Dies alles gilt auch für die Sonderregelungen, die im Rahmen des allgemeinen gesetzlichen Sozialversicherungssystems speziell für bestimmte Gruppen von Arbeitnehmern gelten. Es ist daher festzustellen, dass Diskriminierungen, die sich etwa aus der Anwendung eines solchen Systems ergeben, nicht unter Art. 119 des Vertrages (nunmehr Art. 157 AEUV) fallen. (Rn. 7/12)
4. Nach alledem stellt im Sinne von Art. 119 Abs. 2 EWG-Vertrag (nunmehr Art. 157 AEUV) eine im Rahmen eines gesetzlichen Sozialversicherungssystems gewährte Altersrente keine Vergütung dar, die der Arbeitgeber aufgrund des Dienstverhältnisses dem Arbeitnehmer zahlt. (Rn. 13)