Fall Johnston EuGH Slg. 1986, 1651

Frau J. trat im März 1974 als teilzeitbeschäftigte Hilfspolizistin in die RUC (Royal Ulster Constabulary) ein. Im November 1974 wurde sie mit einem Dreijahresvertrag in die RUC-full-time-Reserve eingestellt, nach dessen Ablauf ein zweiter Dreijahresvertrag abgeschlossen wurde, der im November 1980 auslief. Bis zum November 1980 tat die Klägerin in einer RUC-Station in Nordirland Dienst. Sie versah die allgemeinen dienstlichen Aufgaben der uniformierten Polizei, wie den Wachdienst in der Polizeistation, die Teilnahme am Streifendienst, die Führung des Streifenfahrzeugs und die Teilnahme an der Durchsuchung von Personen in der Polizeistation. Bei der Wahrnehmung dieser Aufgaben war sie unbewaffnet, wurde aber während des Dienstes außerhalb des Stationsgebäudes in der Regel von einem bewaffneten männlichen Angehörigen der RUC-full-time-Reserve begleitet.

Im November 1980 lehnte es der Beklagte ab, der Klägerin einen weiteren Vollzeitvertrag anzubieten. Sie war danach als Teilzeitbeschäftigte in der RUCR (Reservepolizei) tätig, wo sie gegenwärtig als Telefonistin Dienst tut. Als solche bezieht sie ein geringeres Gehalt als während ihrer Beschäftigung in der RUC-fulltime-Reserve. Die Polizisten in England und Wales sind im Allgemeinen abgesehen von Sondereinsätzen nicht bewaffnet. Polizistinnen sind nicht allgemein von der Ausbildung in der Handhabung und im Gebrauch von Schusswaffen oder von dienstlichen Aufgaben, die das Tragen von Waffen erfordern, ausgeschlossen. In Nordirland verfolgt jedoch das Vereinigte Königreich wegen des dort seit vielen Jahren herrschenden Terrorismus eine andere Linie. Die zahlreichen Anschläge auf Polizisten in Nordirland lassen es nicht zu, dass die Polizeikräfte ihre Aufgaben wie im übrigen Vereinigten Königreich unbewaffnet wahrnehmen.

Männliche Polizisten sind während des allgemeinen Dienstes bewaffnet. Dagegen sind weibliche Polizisten, darunter auch die in der RUCR diensttuenden Frauen, nicht mit Schusswaffen ausgerüstet und erhalten auch keine Ausbildung in der Handhabung und im Gebrauch von Schusswaffen. Der Beklagte begründet seine Haltung, aufgrund deren Polizistinnen vom Tragen von Schusswaffen ausgeschlossen sind, damit, dass sich die Gefahr von Anschlägen auf Polizistinnen mit ihrer Bewaffnung erhöhen würde. Außerdem könnten bewaffnete Polizistinnen nur weniger wirksam für bestimmte Aufgaben eingesetzt werden, für die Frauen besonders geeignet seien, und zwar namentlich für Aufgaben im sozialen Bereich und im Kontakt mit Familien und Kindern. Schließlich bestehe die Gefahr, dass die Bewaffnung von Polizistinnen für den allgemeinen Dienst von der Öffentlichkeit in noch stärkerem Maße als die Bewaffnung von Männern als Abkehr vom Ideal einer unbewaffneten Polizei angesehen werde.

Frau J rügt neben der in Nordirland geltenden Sex Discrimination Order eine Verletzung der Richtlinie 76/207/EWG (nunmehr Richtlinie 2006/54/EG). Sie klagt vor dem Industrial Tribunal, das dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vorlegt, ob ein Mitgliedsstaat unter dem Aspekt der öffentlichen Sicherheit und Ordnung Frauen von bestimmten Tätigkeiten ausschließen darf.

Der EuGH sieht in einer solchen Ausgrenzung von Frauen eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes nach der Richtlinie 76/207/EWG (nunmehr Richtlinie 2006/54/EG). Im Fall Sirdar hat der EuGH aber eine Einschränkung unter dem Aspekt der öffentlichen Sicherheit angenommen.

1. Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts, die aus Gründen des Schutzes der öffentlichen Sicherheit vorgenommen werden, sind im Lichte der in der Richtlinie 76/207/EWG (nunmehr Art. 14 Abs. 2 Richtlinie 2006/54/EG) vorgesehenen Ausnahmen vom Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen zu prüfen. (Rn. 28)

2. Es gibt keinen allgemeinen Vorbehalt zugunsten von Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Sicherheit gegenüber der Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen, der es den Mitgliedsstaaten erlaubt, im Falle einer schwerwiegenden Störung der innerstaatlichen öffentlichen Ordnung von Verpflichtungen des Vertrages abzuweichen. (Rn. 27)

3. Die vom Vereinigten Königreich gegenüber Frauen in der RUC-full-timeReserve verfolgte Linie beruht auf der Erwägung, dass Frauen im Fall ihrer Ausrüstung mit Schusswaffen in höherem Maße der Gefahr von Anschlägen ausgesetzt seien und ihre Waffen den Angreifern in die Hände fallen könnten, dass in der Öffentlichkeit die Bewaffnung von Frauen schlecht aufgenommen würde, weil sie zu sehr im Widerspruch zum Ideal einer unbewaffneten Polizei stünde, und dass bewaffnete Frauen für polizeiliche Aufgaben im sozialen Bereich im Kontakt mit Familien und Kindern, wo ihre Tätigkeit besonders wertvoll sei, weniger wirksam eingesetzt werden könnten. Auf diese Weise hat der Beklagte die von ihm verfolgte Linie mit den besonderen Bedingungen begründet, unter denen die Tätigkeit der Polizei aufgrund der in Nordirland bestehenden Lage unter Berücksichtigung der Erfordernisse des Schutzes der öffentlichen Sicherheit in einer Situation schwerer innerer Unruhen ausgeübt werden muss. (Rn. 35)

4. Bei schweren inneren Unruhen können die Bedingungen der Ausübung bestimmter polizeilicher Tätigkeiten so beschaffen sein, dass das Geschlecht eine unabdingbare Voraussetzung für ihre Ausübung darstellt. In solchen Fällen kann ein Mitgliedstaat diese Aufgaben und die auf sie vorbereitende berufliche Ausbildung Männern vorbehalten. (Rn. 37)

5. Bei der Bestimmung des Geltungsbereichs von Ausnahmen von einem Individualrecht, wie dem in der Richtlinie verankerten Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen, ist ferner der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten, der zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehört, auf denen die Rechtsordnung der Gemeinschaft beruht. Nach diesem Grundsatz dürfen Ausnahmen nicht über das zur Erreichung des verfolgten Ziels angemessene und erforderliche Maß hinausgehen. Der Grundsatz der Gleichbehandlung muss soweit wie möglich mit den Erfordernissen der öffentlichen Sicherheit in Einklang gebracht werden, die für die Bedingungen der Ausübung der in Rede stehenden Tätigkeit bestimmend sind. (Rn. 38)

6. Es ist nicht ersichtlich, dass Frauen bei der Ausübung ihres Dienstes bei der Polizei in einer Lage wie der in Nordirland herrschenden anderen Risiken und Gefahren ausgesetzt sind als Männer bei der Ausübung desselben Dienstes. Frauen wegen eines allgemeinen, nicht frauenspezifischen Risikos aus Gründen des Schutzes der öffentlichen Sicherheit von einer solchen beruflichen Tätigkeit völlig auszuschließen, geht über das zum Schutz erforderliche Maß hinaus. (Rn. 45)

 
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