Praktische Fallbeispiele

Sowohl in den Entscheidungen des EuGH als auch in der betrieblichen Praxis stellten sich im Zusammenhang mit dem Kriterium „Behinderung“ zunehmend Fragen einer möglichen Benachteiligung wegen Krankheitsbzw. Arbeitsunfähigkeitszeiten. Zudem war Streitgegenstand auch der Schutz von behinderten Familienangehörigen von Arbeitnehmern. Sodann soll eine Entscheidung zu einer möglichen Benachteiligung wegen Rasse bzw. ethnischer Herkunft und den damit zusammenhängenden Beweislastfragen erläutert werden. Schließlich werden zwei Entscheidungen im Zusammenhang mit Ungleichbehandlungen wegen sexueller Ausrichtung dargestellt, bei denen finanzielle Zusatzleistungen vom Bestehen einer gegengeschlechtlichen Ehe abhängig waren.

Fall Navas EuGH Slg. 2006, I-6467

Frau N arbeitete für das spanische Unternehmen Eurest, das sich auf Pflegedienste spezialisiert hatte. Seit Oktober 2003 war N krankgeschrieben. Nach einer Überprüfung durch die für die Behandlung von Arbeitnehmern zuständigen Stellen des spanischen öffentlichen Gesundheitsdienstes (vergleichbar mit dem deutsche MDK), war mit einer Wiederaufnahme ihrer Berufstätigkeit in absehbarer Zeit nicht zu rechnen. Nach über einem Jahr Krankheit kündigte der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis wegen der Erkrankung. Nach den einschlägigen spanischen arbeitsrechtlichen Regelungen der Art. 55 und 56 Estatuto de los Trabajadores wird zwischen einer rechtswidrigen und einer nichtigen Kündigung unterschieden. Bei einer nichtigen Kündigung kann der Arbeitnehmer die Fortsetzung der Tätigkeit verlangen, bei einer rechtswidrigen Kündigung besteht ein Abfindungsanspruch. Da N keine Entschädigung bzw. Abfindung akzeptierte und die Weiterbeschäftigung verlangte, ging es in dem Rechtsstreit allein darum, ob die Kündigung nach spanischem Arbeitsrecht nichtig sei.

Frau Navas ist der Auffassung, ihre Krankheit sei einer Behinderung gleichzustellen. Zwischen Krankheit und Behinderung bestehe ein ursächlicher Zusammenhang. Für die Definition des Begriffes „Behinderung“ sei die International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) der Weltgesundheitsorganisation heranzuziehen. Danach sei „Behinderung“ ein Oberbegriff, der Schädigungen, Beeinträchtigungen der Aktivität und Beeinträchtigungen der Teilhabe umfasse. Krankheit könne Schädigungen verursachen, die eine Behinderung des Einzelnen darstellten. Da Krankheit häufig zu einer irreversiblen Behinderung führen könne, müssten die Arbeitnehmer rechtzeitig auf der Grundlage des Verbotes der Diskriminierung wegen einer Behinderung geschützt werden. Die gegenteilige Auffassung könnte den vom Gesetzgeber angestrebten Schutz zunichtemachen, da so die Anwendung unkontrollierter diskriminierender Maßnahmen ermöglicht würde. In diesem Zusammenhang stellte der Juzgado de lo Social Madrid dem EuGH die Frage, ob eine Kündigung wegen Krankheit als Diskriminierung wegen Behinderung im Sinne der Richtlinie 2000/78/EG anzusehen sei.

Der EuGH führt aus, dass die Gleichbehandlungs-Richtlinie Diskriminierungen bestimmter Art in Beschäftigung und Beruf bekämpfen soll. In diesem Zusammenhang ist der Begriff „Behinderung“ so zu verstehen, dass er eine Einschränkung erfasst, die insbesondere auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen sei und die ein Hindernis für die Teilnahme des Betreffenden am Berufsleben bildet. Mit der Verwendung des Begriffs „Behinderung“ in Art. 1 der Richtlinie wurde bewusst ein Wort gewählt, das sich von dem der „Krankheit“ unterscheidet. Daher lassen sich die beiden Begriffe nicht schlicht und einfachen einander gleich setzen. Im Ergebnis führt der EuGH aus, dass eine Person, der ausschließlich wegen Krankheit gekündigt worden ist, nicht unter die Gleichbehand lungsrichtlinie fällt und Krankheit nicht als weiterer Diskriminierungsgrund im Sinne der Richtlinie 2000/78/EG angesehen werden kann.

1. Der Begriff „Behinderung“ ist in der Richtlinie 2000/78 selbst nicht definiert. Für die Bestimmung dieses Begriffes verweist die Richtlinie auch nicht auf das Recht der Mitgliedstaaten. (Rn. 39)

2. Aus den Erfordernissen der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts wie auch des Gleichheitsgrundsatzes ergibt sich jedoch, dass den Begriffen einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts, die für die Bestimmung ihres Sinnes und ihrer Tragweite nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, normalerweise in der gesamten Gemeinschaft eine autonome und einheitliche Auslegung zu geben ist, die unter Berücksichtigung des Zusammenhangs der Vorschrift und des mit der betreffenden Regelung verfolgten Zieles zu ermitteln ist. (Rn. 40)

3. Die Richtlinie 2000/78 soll Diskriminierungen bestimmter Art in Beschäftigung und Beruf bekämpfen. In diesem Zusammenhang ist der Begriff „Behinderung“ so zu verstehen, dass er eine Einschränkung erfasst, die insbesondere auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen ist und die ein Hindernis für die Teilhabe des Betreffenden am Berufsleben bildet. (Rn. 43)

4. Mit der Verwendung des Begriffes „Behinderung“ in Art. 1 dieser Richtlinie hat der Gesetzgeber jedoch bewusst ein Wort gewählt, das sich von dem der „Krankheit“ unterscheidet. Daher lassen sich die beiden Begriffe nicht schlicht und einfach einander gleichsetzen. (Rn. 44)

5. Die Richtlinie 2000/78 enthält keinen Hinweis darauf, dass Arbeitnehmer aufgrund des Verbotes der Diskriminierung wegen einer Behinderung in den Schutzbereich der Richtlinie fallen, sobald sich irgendeine Krankheit manifestiert. (Rn. 46)

6. Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass eine Person, der von ihrem Arbeitgeber ausschließlich wegen Krankheit gekündigt worden ist, nicht von dem durch die Richtlinie 2000/78 zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen einer Behinderung geschaffenen allgemeinen Rahmen erfasst wird. (Rn. 47)

 
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