Fall Coleman EuGH Slg. 2008, I-5603
Frau C arbeitete ab Januar 2001 als Anwaltssekretärin für einen Rechtsanwalt in London. Im Jahr 2002 gebar sie einen Sohn, der an apnoischen Anfällen und an angeborener Laryngomalazie und Bronchomalazie leidet. Der Zustand ihres Sohnes erfordert eine spezialisierte und besondere Pflege. Die für ihn erforderliche Pflege wird im Wesentlichen von C geleistet. Als diese aus dem Mutterschaftsurlaub zurückkam, weigerte sich ihr ehemaliger Arbeitgeber, sie an ihren früheren Arbeitsplatz zurückkehren zu lassen. Er lehnte es auch ab, ihr die gleichen flexiblen Arbeitszeiten und die gleichen Arbeitsbedingungen zu gewähren wie ihren Kollegen. Grund hierfür sei der Umstand, dass C häufiger wegen Betreuung ihres behinderten Kindes bei der Arbeit fehlte. Darüber hinaus wurde C als faul bezeichnet, wenn sie frei nehmen wollte, um ihr Kind zu betreuen, während anderen Eltern nicht behinderter Kinder diese Möglichkeit gewährt wurde. Am 4. März 2005 stimmte C einer freiwilligen Entlassung („voluntary redundancy“) zu, wodurch der Vertrag mit ihrem ehemaligen Arbeitgeber beendet wurde. Am 30. August 2005 reichte sie beim Employment Tribunal London South eine Klage ein, mit der sie vorbringt, wegen der Tatsache, dass sie Hauptbetreuerin eines behinderten Kindes sei, Opfer einer erzwungenen sozialwidrigen Kündigung („unfair constructive dismissal“) gewesen zu sein und eine weniger günstige Behandlung als die anderen Arbeitnehmer erfahren zu haben. Durch diese Behandlung sei sie gezwungen gewesen, ihr Arbeitsverhältnis mit ihrem ehemaligen Arbeitgeber zu beenden. Obwohl der maßgebende Sachverhalt noch nicht vollständig ausermittelt war, legte das Employment Tribunal London South dem EuGH wegen eines Teils der Klage die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob sich C auf die nationalen Regelungen zur Umsetzung der Gleichbehandlungs-Rahmenrichtlinie 2000/78 stützten kann, um geltend zu machen, dass sie wegen einer Benachteiligung im Zusammenhang mit der Behinderung ihres Sohnes diskriminiert worden sei.
Der EuGH führt aus, dass das Diskriminierungsverbot in Richtlinie 2000/78 nicht auf Personen beschränkt sei, die selbst behindert sind. Erfährt ein Arbeitnehmer, der selbst nicht behindert ist, durch einen Arbeitgeber eine im Vergleich zu anderen Arbeitnehmern weniger günstige Behandlung und weist er nach, dass diese Benachteiligung wegen der Behinderung eines Kindes erfolgt, für das er im Wesentlichen die Pflegeleistungen erbringt, so liege eine unmittelbare Diskriminierung nach Art. 2 Abs. 2 a Richtlinie 2000/78 vor.
1. Nach Art. 1 der Richtlinie 2000/78 ist deren Zweck die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf. Art. 2 Abs. 1 dieser Richtlinie definiert den Gleichbehandlungsgrundsatz dahin, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines der in Art. 1 genannten Gründe, somit einschließlich der Behinderung, geben darf. (Rn. 34, 35)
2. Gemäß Art. 2 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person u. a. wegen einer Behinderung in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde. Gemäß Art. 3 Abs. 1 Buchst. c gilt die Richtlinie 2000/78 für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen, in Bezug auf die Beschäftigungsund Arbeitsbedingungen, einschließlich der Entlassungsbedingungen und des Arbeitsentgelts. (Rn. 36, 37)
3. Somit ergibt sich aus diesen Bestimmungen der Richtlinie 2000/78 nicht, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz, den sie gewährleisten soll, auf Personen beschränkt ist, die selbst eine Behinderung im Sinne der Richtlinie haben. Ihr Zweck ist vielmehr, in Beschäftigung und Beruf jede Form der Diskriminierung aus Gründen einer Behinderung zu bekämpfen. Der für diesen Bereich in der Richtlinie 2000/78 verankerte Gleichbehandlungsgrundsatz gilt nicht für eine bestimmte Kategorie von Personen, sondern in Bezug auf die in ihrem Art. 1 genannten Gründe. Diese Auslegung wird durch den Wortlaut von Art. 13 EG (nunmehr Art. 19 AEUV) untermauert, der die Rechtsgrundlage der Richtlinie 2000/78 ist und in dem der Gemeinschaft die Zuständigkeit übertragen wird, geeignete Vorkehrungen zu treffen, um Diskriminierungen u. a. aus Gründen einer Behinderung zu bekämpfen. (Rn. 38)
4. Es würden diese Ziele und die praktische Wirksamkeit der Richtlinie gefährdet, wenn ein Arbeitnehmer in der Situation der Klägerin sich nicht auf das Verbot der unmittelbaren Diskriminierung in Art. 2 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie berufen könnte, wenn nachgewiesen wurde, dass er wegen der Behinderung seines Kindes in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfahren hat, als ein anderer Arbeitnehmer erfährt, erfahren hat oder erfahren würde, und zwar auch dann, wenn der Arbeitnehmer selbst nicht behindert ist. (Rn. 48)
5. Nach Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 ist es Sache von Frau C Tatsachen glaubhaft zu machen, die das Vorliegen einer nach dieser Richtlinie verbotenen unmittelbaren Diskriminierung wegen einer Behinderung vermuten lassen. Nach dieser Bestimmung der Richtlinie 2000/78 und dem 31. Erwägungsgrund ist eine Änderung der Regeln für die Beweislast geboten, wenn ein glaubhafter Anschein einer Diskriminierung besteht. Sollte Frau C Tatsachen glaubhaft machen, die das Vorliegen einer unmittelbaren Diskriminierung vermuten ließen, würde die tatsächliche Umsetzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes somit verlangen, dass die Beweislast bei den Beklagten liegt, die beweisen müssten, dass dieser Grundsatz nicht verletzt worden ist. (Rn. 53, 54)
6. In diesem Zusammenhang könnte der beklagte Arbeitgeber das Vorliegen eines solchen Verstoßes bestreiten, indem er mit allen rechtlich vorgesehenen Mitteln beweist, dass die Behandlung des Arbeitnehmers durch objektive Faktoren gerechtfertigt ist, die mit einer Diskriminierung wegen einer Behinderung und der Beziehung dieses Arbeitnehmers zu einem Menschen mit Behinderung nichts zu tun haben. (Rn. 55)