Fall Kommission/Deutschland EuGH Slg. 2001, I-8163
Mit ihrer Klage beanstandet die Kommission die früheren § 1 Abs. 1 und § 1 b des Gesetzes zur Regelung der gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung vom 7. August 1972 (AÜG). Sowohl § 1 Abs. 1 Satz 2 AÜG als auch § 1 b Satz 2 AÜG verlangten die Geltung der deutschen Tarifverträge des Baugewerbes für alle Unternehmen, die sich an einer Arbeitsgemeinschaft beteiligen wollten oder Arbeitskräfte zu einem anderen Unternehmen abordnen wollten. Nur die Unternehmen, die in Deutschland ansässig sind und dort Arbeiter beschäftigen, konnten von diesem Tarifvertrag erfasst werden. Die nicht in der Bundesrepublik Deutschland ansässigen Unternehmen waren nicht in der Lage, Arbeitnehmer von ihrem Sitz oder von Niederlassungen in anderen Mitgliedsstaaten aus, zu einer in Deutschland gebildeten Arbeitsgemeinschaft oder zu den deutschen Bauunternehmen abzuordnen. Nach der deutschen Regelung war somit Voraussetzung für die Beteiligung an einer Arbeitsgemeinschaft zwecks Herstellung eines Werkes und für die Abordnung von Personal an Bauunternehmen eine Bindung an die deutschen Tarifverträge. Aufgrund ihres räumlichen Anwendungsbereiches galten diese Tarifverträge nicht für Unternehmen, die keine Niederlassung in Deutschland haben. Insoweit waren ausländische Arbeitgeber verpflichtet, in Deutschland eine Niederlassung zu unter halten. Die Regelung war daher für Unternehmen anderer Mitgliedsstaaten als der Bundesrepublik Deutschland belastender als für deutsche Unternehmen. Die Kommission rügt daher die Verletzung der Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 AEUV.
Der EuGH stellt fest, dass das Erfordernis einer festen Niederlassung im Tätigkeitsstaat im Ergebnis mit der Dienstleistungsfreiheit nicht vereinbar sei.
1. Da die Überlassung von Arbeitnehmern eine Dienstleistung im Sinne des EG-Vertrages ist, behindert es den freien Dienstleistungsverkehr, dass die streitigen Rechtsvorschriften eine Niederlassung im Mitgliedstaat der Dienstleistung vorschreiben. (Rn. 18)
2. Das Erfordernis einer festen Niederlassung verletzt die Dienstleistungsfreiheit und damit eine der Grundfreiheiten auf, da es Art. 59 EG-Vertrag (nunmehr Art. 56 AEUV), der gerade die Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit solcher Personen beseitigen soll, die nicht in dem Staat niedergelassen sind, in dem die Dienstleistung erbracht werden soll, jede praktische Wirksamkeit nimmt. Ein solches Erfordernis ist daher nur zulässig, wenn nachgewiesen wird, dass es für die Erreichung des verfolgten Zieles unerlässlich ist. (Rn. 19)
3. Der soziale Schutz der Arbeitnehmer des Baugewerbes gehört zwar zu den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses, die eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs rechtfertigen können. Ferner können zwingende Gründe des Allgemeininteresses, die die materiellen Vorschriften einer Regelung rechtfertigen, auch die zur Sicherstellung ihrer Beachtung erforderlichen Kontrollmaßnahmen rechtfertigen. (Rn. 20)
4. Allerdings können Erwägungen rein administrativer Art eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs nicht rechtfertigen. So darf der Mitgliedstaat der Dienstleistung einem Unternehmen nicht die Führung von Unterlagen, die für diesen Staat spezifisch sind, vorschreiben, wenn das Unternehmen bereits in dem Staat, in dem es ansässig ist, für dieselben Arbeitnehmer und dieselben Beschäftigungszeiten Verpflichtungen unterliegt, die im Hinblick auf ihren Zweck, den Schutz der Interessen der Arbeitnehmer, mit den in der Regelung des ersten Mitgliedstaats enthaltenen vergleichbar sind. (Rn. 21)
5. Das Erfordernis einer Niederlassung im Mitgliedstaat der Dienstleistung, wie sie sich aus den streitigen Rechtsvorschriften ergibt, geht über das hinaus, was zum Erreichen des Zieles des sozialen Schutzes der Arbeitnehmer des Baugewerbes erforderlich ist. Es ist nämlich nicht nachgewiesen, dass dieses Erfordernis, das unterschiedslos jedes Unternehmen erfüllen muss, das einer Arbeitsgemeinschaft oder anderen Bauunternehmen Arbeitnehmer überlassen möchte, an sich notwendig ist, um das Ziel des sozialen Schutzes der Arbeitnehmer des Baugewerbes zu erreichen. (Rn. 22, 23)