Spannungsverhältnis zwischen nationalem Arbeitnehmerschutz und der Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 AEUV
Somit wird gerade bei der Arbeitnehmerentsendung das Spannungsverhältnis zwischen dem Schutz der entsandten Arbeitnehmer und der Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 AEUV deutlich. Das Recht von EU-Arbeitgebern zum grenzüberschreitenden Arbeitnehmereinsatz mittels Entsendung fällt in den Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 AEUV. Daher müssen die Regelungen zum Schutz von Arbeitnehmern bei der Entsendung auch das Spannungsverhältnis zur Dienstleistungsfreiheit berücksichtigen.
Dagegen sind Konflikte mit der Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 AEUV eher selten, da für die dort tätigen Arbeitnehmer das Recht der Niederlassung, also des Tätigkeitsstaates, zur Anwendung kommt. Im Vordergrund steht daher in Entsendungsfällen die Vereinbarkeit mit der Dienstleistungsfreiheit, da dieses Recht als produktionsbzw. leistungsbezogene Grundfreiheit weniger starken Einschränkungen unterliegt als die Niederlassungsfreiheit. So muss sich ein Unternehmer, der sich in einem anderen Mitgliedsstaat niederlässt, grundsätzlich in die dortige Rechtsund Sozialordnung eingliedern, während demjenigen Unternehmen, das nur vorübergehend Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedsstaat erbringt, nicht die Befolgung sämtlicher Vorschriften des nationalen Rechts auferlegt werden kann. Allerdings wird die Niederlassungsfreiheit dann relevant, wenn sich Arbeitgeber bzw. Dienstleister aus dem EU-Ausland darauf berufen, bestimmte Arbeitnehmerschutzpflichten bereits in ihrem Heimatund damit Niederlassungsstaat erfüllt zu haben.
EU-Richtlinie 96/71/EG (Entsende-Richtlinie) zum Schutz entsandter Arbeitnehmer und der Dienstleistungsfreiheit
Schutzvorschriften zugunsten von entsandten Arbeitnehmern enthält die EU-Richtlinie 96/71/EG. Entsprechend den Erwägungsgründen Nr. 1, 2 und 5 bezweckt die Richtlinie allerdings nicht nur den Arbeitnehmerschutz, sondern dient – wie bereits ausgeführt – auch der Förderung der Dienstleistungsfreiheit. Durch die Richtlinie soll den entsendenden Unternehmen ein verlässliches Mindestmaß vorgegeben werden, was bei Dienstleistungen im EU-Ausland an Arbeitsbedingungen zu beachten ist. So wird die Beseitigung von Hemmnissen und Förderung der Dienstleistungsfreiheit in den Erwägungsgründen Nr. 1–5 zur EU-Richtlinie 96/71/ EG genannt. Die Entsende-Richtlinie bewegt sich somit in dem dargestellten Spannungsfeld zwischen dem Mindestschutz von Arbeitnehmern einerseits und der Verwirklichung des freien Dienstleistungsverkehrs andererseits.
Nach § 3 Abs. 1 der Entsende-Richtlinie haben die Mitgliedsstaaten dafür zu sorgen, dass unabhängig von dem auf das jeweilige Arbeitsverhältnis anwendbaren Recht dem entsandten Arbeitnehmer bestimmte Mindestarbeitsund Beschäftigungsbedingungen durch Rechtsund Verwaltungsvorschriften bzw. durch für allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge garantiert und in den Buchstaben a) bis
g) genauer bezeichnet werden. Die in Art. 3 Abs. 1 Satz 1 der Entsende-Richtlinie durch die Mitgliedsstaaten zu garantierenden Arbeitsund Beschäftigungsbedingungen betreffen insbesondere einen bezahlten Jahresurlaub und Mindestlohnsätze. Wegen der Bereichsausnahme des Art. 153 Abs. 5 AEUV kann die Union selbst keinen unionsweiten Mindestlohn vorschreiben. Vielmehr sind die Mitgliedsstaaten selbst verpflichtet, Mindestarbeitsund Mindestbeschäftigungsbedingungen im Entsendefall zu verabschieden.
Den Vorgaben des Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 96/71/EG können die Mitgliedsstaaten entweder durch Schaffung von Rechtsoder Verwaltungsvorschriften oder durch für allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge oder Schiedssprüche nachkommen. So ist der allgemeine Mindestlohn von 8,50 € nach § 1 Abs. 2 MiLoG eine solche Rechtsvorschrift nach Art. 3 Abs. 1 erster Spiegelstrich der Richtlinie 96/71/ EG. Bei tariflichen Arbeitsbedingungen ergibt sich aber eine Einschränkung dadurch, dass diese nach Art. 3 Abs. 1 zweiter Spiegelstrich der Entsende-Richtlinie nur die allein im Anhang genannten Tätigkeiten betreffen, also alle Bauarbeiten, die der Errichtung, der Instandsetzung, der Instandhaltung, dem Umbau oder dem Abriss von Bauwerken dienen. Die Beachtung tariflicher Arbeitsbedingungen außerhalb der Bauwirtschaft, wird von der Entsende-Richtlinie nicht gefordert.
Bei der Umsetzung der Richtlinie steht den Mitgliedsstaaten ein Ermessen zu, bei dem sie allerdings die EU-Grundfreiheiten beachten müssen. Die Richtlinie selbst verpflichtet die Mitgliedsstaaten aber vorrangig nur zur Garantie von Mindestlohnsätzen und einem bezahlten Mindestjahresurlaub, nicht aber dazu, die Beachtung eines darüber hinaus gehenden tarifvertraglichen Lohnbzw. Vergütungssystems sicherzustellen. Nach den Erwägungsgründen 13 und 14 soll ein
„harter Kern“ klar definierter Schutzbestimmungen zu Gunsten der Arbeitnehmer garantiert werden. Gleichwohl können die Mitgliedsstaaten über die Richtlinie hinausgehende zusätzliche Pflichten vorsehen – wie sich aus Erwägungsgrund 12 ergibt –, müssen dabei aber die Prinzipien des Gemeinschaftsrechts beachten.
Insoweit hat sich bei dem EU-Gesetzgeber zu der Frage, ob die Arbeitsbedingungen des Herkunftsstaates oder die des Arbeitsortes entscheidend sind, ein Kompromiss durchgesetzt. Danach muss der Arbeitgeber des Entsendestaates einen „harten Kern“ an Arbeitsbedingungen im Sinne von § 3 EU-Richtlinie 96/71/EG gewährleisten, dessen Einhaltung der Tätigkeitsstaat mit angemessenen Mitteln unter Beachtung der EU-Grundfreiheiten sicherstellen kann.