Praktische Fallbeispiele
Der EuGH hatte sich daher in mehreren Entscheidungen damit auseinanderzusetzen, inwieweit die in nationalen Rechtsvorschriften vorgeschriebenen Mindestlöhne oder Mindesturlaubsregelungen einschließlich der Verpflichtung zur Zahlung von Beiträgen an Urlaubsund Schlechtwetterkassen nicht nur bei grenznah tätigen Unternehmen, sondern auch bei EU-weit tätigen Unternehmen mit der Dienstleistungsbzw. Niederlassungsfreiheit vereinbar ist, wenn sie in ihrem Niederlassungsstaat vergleichbaren Verpflichtungen unterworfen sind.
Fall Guiot EuGH Slg. 1996, I-1905
Ein in Luxemburg ansässiges Bauunternehmen Guiot weigerte sich, für vier Bauarbeiter, die vorübergehend auf einer Baustelle in Belgien eingesetzt waren, Schlechtwetterund Treuemarken für belgische Schlechtwettergeldkassen und für belgische
Betriebstreuekassen zu zahlen. Es handelte sich hierbei um zwei spezielle Sozialversicherungseinrichtungen der belgischen Bauwirtschaft. Dabei war von den zu zahlenden Beiträgen ein – wenn auch nur geringer – Anteil zur Deckung der Verwaltungskosten bestimmt. Guiot war bereits zuvor entsprechenden Verpflichtungen nach luxemburgischen Recht für alle betroffenen Arbeiter nachgekommen. Wegen der Nichtzahlung wurde gegen den Inhaber des luxemburgischen Unternehmens vor einem belgischen Strafgericht Klage erhoben. Dieses legte dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob die Dienstleistungsfreiheit verletzt sei.
Nach Feststellung des EuGH waren die Beschäftigten gegen dieselben Risiken bereits nach entsprechenden Regelungen des luxemburgischen Arbeitsund Sozialrechts abgesichert. In beiden Ländern bestanden Regelungen, die zum einen die Bauarbeiter gegen das Risiko einer Arbeitseinstellung und damit eines Lohnverlustes wegen Schlechtwetters schützen, und zum anderen ihre Treue zu dem betreffenden Beschäftigungssektor belohnen sollten. Da Guiot hierfür auch die erforderlichen Beiträge entrichtet hatte, unterlag es einer doppelten Beitragspflicht. Hierin liegt nach Auffassung des EuGH eine unzulässige Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit selbst für den Fall, dass die Beitragspflicht in Belgien unterschiedslos für einheimische Dienstleistende als auch für Dienstleistende anderer Mitgliedsstaaten galt.
1. Die Dienstleistungsfreiheit verlangt nicht nur die Beseitigung jeder Diskriminierung des in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Dienstleistenden aufgrund seiner Staatsangehörigkeit, sondern auch die Aufhebung aller Beschränkungen – selbst wenn sie unterschiedslos für einheimische Dienstleistende wie für Dienstleistende anderer Mitgliedstaaten gelten -, wenn sie geeignet sind, die Tätigkeit des Dienstleistenden, der in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist und dort rechtmäßig ähnliche Dienstleistungen erbringt, zu unterbinden, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen. (Rn. 10)
2. Außerdem darf, auch wenn eine Harmonisierung in diesem Bereich fehlt, der freie Dienstleistungsverkehr als fundamentaler Grundsatz des Vertrages nur durch Regelungen beschränkt werden, die durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sind und die für alle im Hoheitsgebiet des Bestimmungsstaats tätigen Personen oder Unternehmen gelten, und zwar nur insoweit, als dem Allgemeininteresse nicht bereits durch die Vorschriften Rechnung getragen wird, denen der Dienstleistende in dem Mitgliedstaat unterliegt, in dem er ansässig ist. (Rn. 11)
3. Somit ist erstens zu prüfen, ob die Anforderungen des belgischen Rechts einschränkende Auswirkungen auf den freien Dienstleistungsverkehr haben, und zweitens, ob gegebenenfalls in dem betreffenden Tätigkeitsbereich zwingende Gründe des Allgemeininteresses derartige Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs rechtfertigen. Ist dies der Fall, so ist außerdem zu prüfen, ob dem Allgemeininteresse nicht bereits durch die Vorschriften des Staates, in dem der Dienstleistende ansässig ist, Rechnung getragen wird und ob das gleiche Ergebnis nicht durch weniger einschränkende Vorschriften erreicht werden kann. (Rn. 13)
4. Zunächst ist festzustellen, dass eine nationale Regelung, die den Arbeitgeber, der als Dienstleistender im Sinne des Vertrages tätig wird, verpflichtet, zusätzlich zu den Beiträgen, die er bereits an den Sicherheitsfonds des Staates, in dem er ansässig ist, abgeführt hat, Arbeitgeberbeiträge an den Sicherheitsfonds des Aufnahmemitgliedstaats zu entrichten, dem Arbeitgeber eine zusätzliche wirtschaftliche Belastung auferlegt, so dass er sich unter Wettbewerbsgesichtspunkten nicht in der gleichen Lage befindet wie die im Aufnahmestaat ansässigen Arbeitgeber. (Rn. 14)
5. Daher kann eine solche Regelung, selbst wenn sie unterschiedslos für einheimische Dienstleistende wie für Dienstleistende anderer Mitgliedstaaten gilt, eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs im Sinne von Art. 59 (nunmehr Art. 56 AEUV) darstellen. Allerdings ist einzuräumen, dass das Allgemeininteresse am sozialen Schutz der Arbeitnehmer des Bausektors wegen der besonderen Bedingungen dieses Sektors ein zwingender Grund sein kann, der eine solche Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs rechtfertigt. (Rn. 15, 16)
6. Dies wäre jedoch dann nicht der Fall, wenn die betreffenden Arbeitnehmer aufgrund der Arbeitgeberbeiträge, die der Arbeitgeber bereits im Mitgliedstaat seiner Niederlassung entrichtet hat, den gleichen oder einen im wesentlichen vergleichbaren Schutz genießen würden. Daher ist zu prüfen, ob die Anforderungen der Regelung des Niederlassungsstaats die gleichen sind wie die der Regelung des Staates, in dem die Dienstleistung erbracht wird, hier des Königreichs Belgien, oder jedenfalls mit ihnen vergleichbar sind. (Rn. 17, 18)
7. Daher die Dienstleistungsfreiheit es einem Mitgliedsstaat, ein Unternehmen, das in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist und vorübergehend Arbeiten im erstgenannten Staat ausführt, zu verpflichten, Arbeitgeberbeiträge für "Treuemarken" und "Schlechtwettermarken" für die Arbeitnehmer zu entrichten, die mit der Durchführung dieser Arbeiten betraut waren, wenn dieses Unternehmen bereits vergleichbare Beiträge in dem Staat, in dem es ansässig ist, zahlen muss. (Rn. 22)