Fall Mazzoleni/ISA EuGH Slg. 2001, I-2189

Das französische Bewachungsunternehmen Mazzoleni hatte 1996 und 1997 13 Arbeitnehmer zur Bewachung eines Einkaufszentrums im belgischen Arlon eingesetzt. Einige von ihnen waren in Belgien vollzeitbeschäftigt, andere wurden sowohl in Belgien als auch in Frankreich eingesetzt. Bei einer Kontrolle des grenznah tätigen Unternehmens wurde festgestellt, dass die Arbeitnehmer nicht nach dem in Belgien geltenden allgemeinverbindlichen Tarifvertrag entlohnt wurden, sondern nach dem etwas geringeren französischen Mindestlohn, wobei sie aber auch von den etwas geringeren französischen Steuersätzen profitierten. Wegen Nichtbeachtung der Verpflichtungen zur Zahlung der belgischen Mindestlöhne wurde gegen Mazzoleni ein Strafverfahren eröffnet, im Rahmen dessen dem EuGH die Rechtssache zur Prüfung der Vereinbarkeit der Mindestlohnsätze mit der Dienstleistungsfreiheit vorgelegt wurde.

Der EuGH bestätigt in dieser Entscheidung zunächst, dass die Anwendung von Mindestlöhnen auf gesetzlicher Grundlage ein zwingendes Allgemeininteresse darstellt, das eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit rechtfertigen könne. Allerdings sei die Anwendung von Mindestlohn-Vorschriften des Aufnahmestaates dann unverhältnismäßig, wenn das damit verfolgte Allgemeininteresse bereits durch Vorschriften des Herkunftslandes erfüllt werde. Das Ziel des Aufnahmemitgliedsstaates, das gleiche soziale Schutzniveau sicherzustellen wie es in seinem Hoheitsgebiet für Arbeitnehmer desselben Sektors gilt, könne dann als verwirklicht angesehen werden, wenn sich alle betroffenen Arbeitnehmer im Aufnahmemitgliedsstaat und im Niederlassungsmitgliedsstaat hinsichtlich des Entgeltes, der Steuerlast und der Sozialabgaben in einer insgesamt gleichen Lage befinden. Bei der Beurteilung der Gleichwertigkeit der Bezahlung muss nicht nur die Höhe des Entgeltes sondern auch die Dauer der Entsendung – gerade im grenznahen Bereich – sowie die Höhe der Sozialabgaben und der steuerlichen Belastung berücksichtigt werden.

Ergänzend dazu sei auch zu berücksichtigen, ob die entsandten Arbeitnehmer weiterhin der Operationsbasis ihres ausländischen Arbeitgebers in dessen Niederlassungsstaat oder in dem Tätigkeitsstaat angehören. Nur bei Berücksichtigung all dieser Umstände könne im Ergebnis entschieden werden, ob die Dienstleistungsfreiheit durch übergeordnete Interessen des Arbeitnehmerschutzes in verhältnismäßiger Weise eingeschränkt werden kann. Zudem müsse auch im Interesse des Dienstleistenden berücksichtigt werden, dass die Anwendung nationaler Mindestlöhne dann unverhältnismäßig sei, wenn dies bei einer grenznahen Tätigkeit mit zusätzlichen erheblichen Verwaltungskosten verbunden sei. Die zuständigen Gerichte oder Behörden des Aufnahmemitgliedsstaates müssen daher beurteilen, ob das Erfordernis einer stundenweisen Berechnung des angemessenen Entgelts für jeden Arbeitnehmer überhaupt erforderlich sei.

1. Der freie Dienstleistungsverkehr darf als fundamentaler Grundsatz des Vertrages nur durch Regelungen beschränkt werden, die durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sind und für alle im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats tätigen Personen oder Unternehmen gelten, soweit dieses Interesse nicht durch die Vorschriften geschützt wird, denen der Dienstleistende in dem Mitgliedstaat unterliegt, in dem er ansässig ist. (Rn. 25)

2. Die Anwendung der nationalen Regelungen eines Mitgliedstaats auf in anderen Mitgliedstaaten niedergelassene Dienstleistende muss geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewährleisten, und darf nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist. (Rn. 26)

3. Zu den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gehört der Schutz der Arbeitnehmer. Hinsichtlich der Vorschriften über Mindestlöhne ist es den Mitgliedstaaten nicht verwehrt, ihre Rechtsvorschriften oder Tarifverträge über Mindestlöhne unabhängig davon, in welchem Land der Arbeitgeber ansässig ist, auf alle Arbeitnehmer zu erstrecken, die in ihrem Hoheitsgebiet, und sei es auch nur vorübergehend, tätig sind. Folglich können die Rechtsvorschriften oder Tarifverträge eines Mitgliedstaats, die einen Mindestlohn garantieren, grundsätzlich auf die Arbeitgeber, die im Hoheitsgebiet dieses Staates Dienstleistungen erbringen, angewandt werden, unabhängig davon, in welchem Land sie ansässig sind. (Rn. 27, 28)

4. Es kann jedoch Umstände geben, unter denen die Anwendung solcher Vorschriften im Hinblick auf das angestrebte Ziel, den Schutz der betroffenen Arbeitnehmer, nicht verhältnismäßig ist. So sieht die französische Regelung zwar einen niedrigeren Mindestlohn vor als die belgische, doch muss die Gesamtsituation berücksichtigt werden, d. h. nicht nur das Entgelt, sondern auch die steuerliche Belastung und die Belastung durch Sozialabgaben. (Rn. 30, 33)

5. Die nationalen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats müssen vor deren Anwendung auf einen in einer angrenzenden Region eines anderen Mitgliedstaats ansässigen Dienstleistenden prüfen, ob die Anwendung dieser Regelung für den Schutz der betroffenen Arbeitnehmer erforderlich und insoweit verhältnismäßig ist. (Rn. 34)

6. Das Ziel des Aufnahmemitgliedstaats, ein gleiches soziales Schutzniveau sicherzustellen wie es in seinem Hoheitsgebiet für Arbeitnehmer desselben Sektors gilt, kann nämlich als verwirklicht angesehen werden, wenn sich alle betroffenen Arbeitnehmer im Aufnahmemitgliedstaat und im Niederlassungsmitgliedstaat hinsichtlich des Entgelts, der Steuerlast und der Sozialabgaben in einer insgesamt gleichen Lage befinden. (Rn. 35)

7. Ferner kann die Anwendung der nationalen Vorschriften des Aufnahmemitgliedstaats über Mindestlöhne auf Dienstleistende, die in einer an den Aufnahmemitgliedstaat angrenzenden Region eines anderen Mitgliedstaats ansässig sind, zum einen zu unverhältnismäßig hohen zusätzlichen Verwaltungskosten führen, etwa für eine stundenweise Berechnung des angemessenen Entgelts für jeden Arbeitnehmer, je nachdem, ob er während seiner Arbeit die Grenze zu einem anderen Mitgliedstaat überschritten hat, und zum anderen zur Zahlung unterschiedlich hoher Entgelte an die Beschäftigten, die alle derselben Operationsbasis angehören und die gleiche Arbeit leisten. Die zuletzt genannte Auswirkung könnte wiederum Spannungen zwischen den Beschäftigten zur Folge haben und sogar die Kohärenz der im Niederlassungsmitgliedstaat geltenden Tarifverträge bedrohen. (Rn. 36)

8. Somit verwehrt es die Dienstleistungsfreiheit einem Mitgliedstaat nicht, einem Unternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat die Verpflichtung aufzuerlegen, seinen Arbeitnehmern die in den nationalen Vorschriften des Tätigkeitsstaates festgelegten Mindestlöhne zu zahlen. Dies kann sich jedoch als unverhältnismäßig erweisen, wenn es sich um Beschäftigte eines Unternehmens mit Sitz in einer grenznahen Region handelt, die einen Teil ihrer Arbeit in Teilzeit und für kurze Zeiträume im Hoheitsgebiet eines oder mehrerer anderer Mitgliedstaaten als desjenigen erbringen müssen, in dem das Unternehmen seinen Sitz hat. (Rn. 41)

9. Die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats müssen daher feststellen, ob und inwieweit die Anwendung einer nationalen Regelung, die einen Mindestlohn vorschreibt, auf ein solches Unternehmen erforderlich und verhältnismäßig ist, um den Schutz der betroffenen Arbeitnehmer sicherzustellen. (Rn. 41)

 
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