Fall Finalarte EuGH Slg. 2001, I-7831
Das in Portugal niedergelassene Unternehmen Finalarte Sociedade de Construção Civil Lda hatte Arbeitnehmer nach Deutschland entsandt und wurde von der dortigen Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft aufgefordert, Beiträge zu zahlen und für die Berechnung dieser Beiträge Auskünfte zu erteilen. Streitgegenstand war daher die Verpflichtung des portugiesischen Arbeitgebers zur Zahlung von Beiträgen zur Urlaubskasse des deutschen Baugewerbes. Nach der derzeitigen Regelung des § 5 Nr. 3 Arbeitnehmerentsendegesetz (vormals § 1 Abs. 3 AEntG) i. V. m. den einschlägigen Regelungen des Bundesrahmentarifvertrags für das Baugewerbe (BRTV) müssen Arbeitgeber auf deutschen Baustellen Beiträge zur Urlaubskasse des deutschen Baugewerbes, einer gemeinsamen Einrichtung der Tarifparteien des Baugewerbes, abführen.
Die Einrichtung einer Urlaubskasse soll es Arbeitnehmern des Baugewerbes ermöglichen, trotz der häufigen Arbeitgeberwechsel den gesetzlichen Jahresurlaub von vier Wochen tatsächlich beanspruchen zu können, obwohl die gesetzliche Wartezeit von 6 Monaten im Baugewerbe oft nicht erreicht wird. Nach dem BRTV erwerben die Beschäftigten des Baugewerbes in 16,5 Arbeitstagen je einen Urlaubstag. Die Urlaubsansprüche für alle Arbeitsverhältnisse des Baugewerbes werden zusammengerechnet und können ab einer Urlaubslänge von 9 Arbeitstagen gegenüber dem Arbeitgeber, bei dem gerade ein Arbeitsverhältnis besteht, beansprucht werden. Um eine überproportionale Belastung eines Arbeitgebers zu vermeiden, zahlen alle Arbeitgeber Beiträge zur Urlaubskasse, die dem Arbeitgeber, der den Urlaub gewährt, die Aufwendungen für die Entgeltfortzahlung im Urlaub erstattet. Ferner bestehen für entsendende Arbeitgeber umfassendere Mitteilungsund Dokumentationspflichten gegenüber der Urlaubskasse als dies für inländische Arbeitgeber der Fall ist.
Der EuGH hält es grundsätzlich für möglich, dass nationale Urlaubsregelungen im Interesse des Arbeitnehmerschutzes auch für ausländische Arbeitgeber zur Anwendung kommen. Dies gelte auch für den Fall, dass mehr Urlaub gewährt wird, als nach den EU-Mindestvorschriften des Art. 7 der Richtlinie 93/104 (vier Wochen) vorgesehen sei. Allerdings müsse feststehen, dass diese Regelungen für alle Arbeitgeber gelten und den Arbeitnehmern hierdurch ein echter Vorteil gegenüber der Regelung im Heimatland entstünde. Ergänzend sei zudem zu prüfen, ob die Regelung im Hinblick auf die Verwirklichung dieses Zieles auch verhältnismäßig sei. Dabei seien die administrativen und wirtschaftlichen Belastungen des Arbeitgebers gegen den zusätzlichen sozialen Schutz abzuwägen. Im konkreten Fall sah der EuGH sowohl in der Einbeziehung in die Urlaubskassenregelung als auch in den zusätzlichen Dokumentationspflichten eine mögliche Beeinträchtigung der Dienstleistungsfreiheit.
Der EuGH überließ es dem nationalen Gericht, festzustellen, ob den Arbeitnehmern nach deutschem Recht ein längerer Urlaub und/oder ein höheres Urlaubsentgelt zustehe als nach portugiesischem, so dass ihnen wirkliche Vorteile durch die Einbeziehung in den Geltungsbereich des BRTV entstünden. Hierfür müsse auch geprüft werden, ob die Arbeitnehmer praktisch nach ihrer Rückkehr die Ansprüche mit vertretbarem Aufwand geltend machen können. Zudem müsse untersucht werden, ob die zusätzlichen Auskunfts-, Kontrollund Dokumentationspflichten in Anbetracht vergleichbarer Dokumente und Unterlagen im Niederlassungsstaat überhaupt verhältnismäßig seien. Abschließend verwies der EuGH darauf, dass Maßnahmen, die eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit darstellen, nicht durch Ziele wirtschaftlicher Art – wie z. B. der Schutz inländischer Unternehmen – zu rechtfertigen seien. Allein zwingende und unabwendbare Interessen des Arbeitnehmerschutzes könne eine solche Einschränkung unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit rechtfertigen.
1. Die Anwendung der nationalen Regelungen des Aufnahmemitgliedstaats auf Dienstleistende ist geeignet, Dienstleistungen zu unterbinden, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen, soweit daraus zusätzliche Kosten und zusätzliche administrative und wirtschaftliche Belastungen folgen. Sie muss geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihr verfolgten Zieles zu gewährleisten, und darf nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist. Zu den anerkannten zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gehört der Schutz der Arbeitnehmer. (Rn. 30, 32, 33)
2. Die Anwendung des AEntG auf die außerhalb Deutschlands ansässigen Dienstleistenden stellt für diese eine Steigerung der Kosten und der administrativen und wirtschaftlichen Belastungen dar, so dass eine Beeinträchtigung der Dienstleistungsfreiheit vorliegt. So haben diese Dienstleistenden insbesondere Verwaltungsformalitäten zu beachten, wozu auch die Verpflichtung gehört, der Kasse Auskünfte zu erteilen. Eine derartige Beeinträchtigung der Dienstleistungsfreiheit kann nur gerechtfertigt sein, wenn sie erforderlich ist, um ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel effektiv und mit den geeigneten Mitteln zu verfolgen. (Rn. 35, 36, 37)
3. Dem AEntG lässt sich das erklärte Ziel entnehmen, die deutschen Unternehmen des Baugewerbes gegen den steigenden Wettbewerbsdruck im europäischen Binnenmarkt, also gegen ausländische Dienstleistende zu schützen. Mit einem solchen Gesetz soll vor allem angeblich unfairer Wettbewerb durch europäische Billiglohnunternehmen bekämpft werden. Eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit lässt sich aber nicht durch Ziele wirtschaftlicher Art wie den Schutz der inländischen Unternehmen rechtfertigen. (Rn. 38, 39)
4. Hinsichtlich des weiteren Zieles des Arbeitnehmerschutzes ist zu prüfen, ob diese Regelung den betroffenen Arbeitnehmern einen tatsächlichen Vorteil verschafft, der deutlich zu ihrem sozialen Schutz beiträgt. So ist es möglich, dass dem Arbeitnehmer nach der deutschen Regelung mehr Urlaubstage und ein höheres Urlaubsgeld pro Tag zustehen als nach den Rechtsvorschriften des Niederlassungsmitgliedstaats seines Arbeitgebers. Außerdem erlaubt das Urlaubskassenverfahren den Arbeitnehmern, die zu einem in Deutschland ansässigen Unternehmen wechseln möchten, ihre Urlaubsansprüche mitzunehmen. (Rn. 42, 44)
5. Es ist zu prüfen, ob derartige potenzielle Vorteile den entsandten Arbeitnehmern einen tatsächlichen zusätzlichen Schutz gewähren. Dabei ist erstens zu berücksichtigen, welchen Schutz die Arbeitnehmer in Bezug auf bezahlten Urlaub bereits nach der Regelung des Niederlassungsmitgliedstaats ihres Arbeitgebers genießen. Denn die in Rede stehende Regelung gewährt den entsandten Arbeitnehmern dann keinen tatsächlichen zusätzlichen Schutz, wenn diese nach der Regelung des Niederlassungsmitgliedstaats ihres Arbeitgebers den gleichen oder einen im Wesentlichen vergleichbaren Schutz genießen. (Rn. 45)
6. Sodann ist zu prüfen, ob die betroffenen Arbeitnehmer nach ihrer Rückkehr in den Niederlassungsmitgliedstaat ihres Arbeitgebers tatsächlich in der Lage sind, ihre Ansprüche auf Zahlung der Urlaubsvergütungen bei der Kasse geltend zu machen, wobei insbesondere zu berücksichtigen ist, welche Formalitäten sie dafür zu erledigen haben, welcher Sprache sie sich bedienen müssen und wie die Zahlungsmodalitäten beschaffen sind. (Rn. 48)
7. Sollte die Regelung ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel verfolgen, das im Schutz der Arbeitnehmer besteht, die von außerhalb Deutschlands ansässigen Dienstleistenden beschäftigt werden, müsste unter Berücksichtigung aller einschlägigen Gesichtspunkte ebenfalls geprüft werden, ob diese Regelung im Hinblick auf die Verwirklichung dieses Zieles verhältnismäßig ist. Zu diesem Zweck wären einerseits die dem Dienstleistenden aufgrund dieser Regelung entstehenden administrativen und wirtschaftlichen Belastungen und andererseits der zusätzliche soziale Schutz, den sie den Arbeitnehmern im Vergleich zur Regelung des Niederlassungsmitgliedstaats ihres Arbeitgebers gewährt, gegeneinander abzuwägen. (Rn. 49, 50)
8. Insoweit müsste geprüft werden, ob das Ziel, den nach Deutschland entsandten Arbeitnehmern mehr Urlaubstage und ein höheres Urlaubsgeld pro Tag zu gewähren, als ihnen nach den Rechtsvorschriften des Niederlassungsmitgliedstaats ihres Arbeitgebers zustehen, durch weniger einschneidende Vorschriften erreicht werden kann als diejenigen, die sich aus der hier fraglichen Regelung ergeben, z. B. durch eine Verpflichtung des außerhalb Deutschlands ansässigen Arbeitgebers, für die Dauer der Entsendung unmittelbar an den Arbeitnehmer die Urlaubsvergütungen zu zahlen, die ihm nach den deutschen Vorschriften zustehen. (Rn. 51)
9. Daher steht die Dienstleistungsfreiheit nur dann einer Regelung wie dem AEntG nicht entgegen, sofern die Arbeitnehmer nach den Rechtsvorschriften des Niederlassungsmitgliedstaats ihres Arbeitgebers keinen im Wesentlichen vergleichbaren Schutz genießen, so dass die Anwendung der nationalen Regelung deutlich zu ihrem sozialen Schutz beiträgt und die Anwendung dieser Regelung verhältnismäßig ist. (Rn. 53)
10. Es ist schließlich Sache des vorlegenden Gerichts, unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu ermitteln, welche Arten von Auskünften die deutschen Behörden von den außerhalb Deutschlands ansässigen Dienstleistenden zulässigerweise verlangen können. Zu diesem Zweck hat das vorlegende Gericht zu beurteilen, ob objektive Unterschiede zwischen der Situation von in Deutschland ansässigen Unternehmen und derjenigen von außerhalb Deutschlands ansässigen Unternehmen die von Letzteren verlangten zusätzlichen Auskünfte sachlich erforderlich machen. (Rn. 75)