Fall Rüffert EuGH Slg. 2008, I-1989
Ein polnisches Bauunternehmen hatte den Zuschlag für Arbeiten an der Justizvollzugsanstalt Göttingen erhalten und dort polnische Arbeitnehmer eingesetzt, die nur etwa 50 % des in Niedersachsen tariflich vorgesehenen Baulohnes erhielten. Die Entlohnung entsprach den in Polen üblichen Löhnen auf Baustellen. Nachdem das Land Niedersachsen von der Bezahlung Kenntnis erhalten hat, kündigte es den Bauvertrag. Das polnische Bauunternehmen meldete daraufhin Insolvenz an. Gegen den Hauptverantwortlichen des in Polen ansässigen Unternehmens erging ein Strafbefehl, der den Vorwurf enthielt, den auf der Baustelle eingesetzten 53 Arbeitnehmern nur 46,57 % des gesetzlich vorgesehen Mindestlohns ausgezahlt zu haben. Der Insolvenzverwalter Rüffert verlangte vom Land Niedersachsen den vollen Werklohn und das LG Hannover und OLG Celle hatten zu entscheiden, ob die Kündigung des Bauvertrages aufgrund einer Verletzung von Tariftreuepflichten wirksam sei.
Auf Vorlage des Rechtsstreits durch das OLG Celle stellte der EuGH fest, dass die Tariftreuepflichten nach dem niedersächsischen Landesvergabegesetz mit der Dienstleistungsfreiheit nicht vereinbar seien. Nach Auffassung des EuGH könne das Landesvergabegesetz im vorliegenden Fall eine Einschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs nicht rechtfertigen. Da das Landesvergabegesetz selbst keinen Mindestlohn festgelegt hatte, konnte es nicht als Rechtsvorschrift im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 erster Gedankenstrich der EU-Richtlinie 96/71/EG
– der einen harten Kern klar definierter Schutzbestimmungen enthält – angesehen werden. Der Tarifvertrag war auch nicht allgemeinverbindlich und galt daher nur für einen Teil der Bautätigkeit. Zudem bezieht sich das niedersächsische Vergabegesetz nur auf öffentliche Aufträge, so dass die Vergabe privater Aufträge nach wie vor unabhängig von den Mindestlohnansätzen erfolgte. Die Kündigung des Bauvertrages verstieß daher gegen die Dienstleistungsfreiheit, so dass im Rahmen des fortgesetzten Zivilrechtsstreits auf Zahlung des noch offenen Werklohns von einer unwirksamen Kündigung des Landes Niedersachsen auszugehen war.
1. Nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 96/71 sind bei der staatenübergreifenden Erbringung von Dienstleistungen im Bausektor den entsandten Arbeitnehmern die Arbeitsund Beschäftigungsbedingungen bezüglich der in den Buchst. a bis g dieser Bestimmung genannten Aspekte zu garantieren, zu denen nach Buchst. c die Mindestlohnsätze zählen. Diese Arbeitsund Beschäftigungsbedingungen sind durch Rechtsoder Verwaltungsvorschriften und/oder durch für allgemein verbindlich erklärte Tarifverträge oder Schiedssprüche festzulegen. (Rn. 21)
2. Eine Gesetzesnorm wie das Landesvergabegesetz, die selbst keinen Mindestlohnsatz festlegt, kann nicht als Rechtsvorschrift im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 erster Gedankenstrich der Richtlinie 96/71 angesehen werden. (Rn. 24)
3. Nach Art. 3 Abs. 7 steht die Entsende-Richtlinie nicht der Anwendung von für die Arbeitnehmer günstigeren Beschäftigungsund Arbeitsbedingungen entgegen. Diese Bestimmung lässt sich aber nicht dahin auslegen, dass sie einem Aufnahmemitgliedstaat erlaubt, die Erbringung einer Dienstleistung in seinem Hoheitsgebiet davon abhängig zu machen, dass Arbeitsund Beschäftigungsbedingungen eingehalten werden, die über die zwingenden Bestimmungen über ein Mindestmaß an Schutz hinausgehen. (Rn. 33)
4. Folglich ist das Schutzniveau, das den entsandten Arbeitnehmern im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats garantiert wird, grundsätzlich auf das beschränkt, was Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. a bis g der Richtlinie 96/71 als sog. harten Kern vorsieht, es sei denn, die genannten Arbeitnehmer genießen bereits nach den Gesetzen oder Tarifverträgen im Herkunftsmitgliedstaat hinsichtlich der Aspekte, die die genannte Vorschrift betrifft, günstigere Arbeitsund Beschäftigungsbedingungen. (Rn. 34)
5. Daher ist ein Mitgliedstaat nicht berechtigt, in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Unternehmen nach der Richtlinie 96/71 einen Lohnsatz wie den im Baugewerbe-Tarifvertrag vorgesehenen vorzuschreiben. Diese Auslegung der Richtlinie 96/71 wird durch deren Würdigung im Licht des Art. 56 EG bestätigt, da diese Richtlinie insbesondere auf die Verwirklichung des freien Dienstleistungsverkehrs abzielt, der eine der vom EG-Vertrag garantierten Grundfreiheiten ist. (Rn. 35, 36)
6. Was schließlich als mögliche weitere Rechtfertigung den Zweck der finanziellen Stabilität der sozialen Versicherungssysteme angeht, also, dass die Leistungsfähigkeit des Sozialversicherungssystems vom Lohnniveau der Arbeitnehmer abhängt, so ist nicht erkennbar, dass die Zahlung eines Mindestlohns erforderlich wäre, um eine erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit zu verhindern. (Rn. 42)