Fall Arblade EuGH Slg. 1999, I-8453

Betroffen waren zwei französische Unternehmen, die Arbeitnehmer vorübergehend nach Belgien entsandt hatten. Gegen sie war ein Strafverfahren wegen Nichtbeachtung mehrerer im belgischen Recht vorgesehener und durch belgische Polizeiund Sicherheitsgesetzte strafbewährter Sozialverpflichtungen anhängig. Nach belgischem Recht bestand ein allgemeinverbindlicher Tarifvertrag für das Baugewerbe, der alle Arbeitgeber verpflichtete, u. a. Beiträge im Rahmen eines Schlechtwetterund Treuemarkensystems zu entrichten. Beide französischen Unternehmen unterlagen jedoch für dieselben Arbeitnehmer für den entsprechenden Beschäftigungszeitraum auch in Frankreich Verpflichtungen, die im Hinblick auf ihre Zwecksetzung mit dem belgischen Arbeitgeberbeiträgen zum Schlechtwetterund Treuemarkensystem vergleichbar waren. Zudem wurde den französischen Unternehmen vorgeworfen, bestimmte Unterlagen und Personaldokumente auf der Baustelle nicht aufbewahrt und bereitgehalten zu haben. Das zuständige Tribunal correctionnel Huy legte dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob die Regelungen über die Dienstleistungsfreiheit so auszulegen seien, dass sie es einem Mitgliedsstaat verbieten, einem Unternehmen aus einem anderen Mitgliedsstaat, das vorübergehend Arbeiten im ersten Staat ausführt, zu verpflichten, Personalund Arbeitsunterlagen vorrätig zu halten, obwohl diese Unterlagen bereits in dem Staat, in dem das Unternehmen ansässig ist, vorliegen.

Der EuGH sah in dieser doppelten Verpflichtung der Arbeitgeber eine Verletzung ihrer Dienstleistungsfreiheit. Die Erstellung, Dokumentation und Vorlage von Personalunterlagen im Entsendestaat kann nur unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes verlangt werden. Eine Vorlage entsprechender Unterlagen (z. B. auf Baustellen) setzt daher voraus, dass dies zur Erfüllung der Überwachungsaufgaben unerlässlich sei. Daher könne ein ausländischer Arbeitgeber auch nicht verpflichtet werden, dem entsandten Arbeitnehmer ein Konto nach den Regelungen des Tätigkeitsstaates einzurichten oder ein Personalregister zu führen, wenn vergleichbare Pflichten im Heimatstaat bestehen. Grundsätzlich müsse es dem ausländischen Arbeitgeber möglich sein, sich auf die Unterlagen in seinem Heimatstaat zu berufen. Mithin müssen die nationalen Instanzen unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit jeweils prüfen, welche Unterlagen für ihre Überwachungsaufgaben unerlässlich sind und ob hierfür die bereits vorhandenen Unterlagen im Niederlassungsbzw. Heimatstaat ausreichen.

1. Eine Verpflichtung wie die im belgischen Recht vorgesehene, im Aufnahmemitgliedstaat bestimmte weitere Unterlagen zu erstellen und zu führen, verursacht den in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Unternehmen zusätzliche administrative und wirtschaftliche Kosten und Belastungen. Damit sind diese Unternehmen den im Aufnahmemitgliedstaat ansässigen Arbeitgebern unter dem Gesichtspunkt des Wettbewerbs nicht gleichgestellt, so dass eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit vorliegt. (Rn. 58, 59)

2. Der wirksame Schutz der Arbeitnehmer des Baugewerbes vor allem in Bezug auf Sicherheit und Gesundheit sowie auf die Arbeitszeit kann es zwar erforderlich machen, dass bestimmte Unterlagen auf der Baustelle oder zumindest an einem zugänglichen und klar bezeichneten Ort im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats für die mit der Durchführung der Kontrollen betrauten Behörden dieses Staates bereitgehalten werden, insbesondere da ein organisiertes System der Zusammenarbeit und des Informationsaustausches zwischen Mitgliedstaaten im Sinne von Art. 4 der Richtlinie 96/71 fehlt. (Rn. 61)

3. Die Informationen, die nach der Regelung des Niederlassungsmitgliedstaats und nach der des Aufnahmemitgliedstaats u. a. bezüglich des Arbeitgebers, des Arbeitnehmers, der Arbeitsbedingungen und der Vergütung verlangt werden, sind möglicherweise so unterschiedlich, dass die in der Regelung des Aufnahmemitgliedstaats vorgeschriebenen Kontrollen nicht auf der Grundlage von Unterlagen vorgenommen werden können, die gemäß der Regelung des Niederlassungsmitgliedstaats geführt werden. (Rn. 63)

4. Dagegen kann die bloße Tatsache, dass bestimmte formale oder inhaltliche Unterschiede bestehen, nicht die Führung von zwei Serien von Unterlagen rechtfertigen, von denen die einen der Regelung des Niederlassungsmitgliedstaats und die anderen der des Aufnahmemitgliedstaats entsprechen, wenn die Informationen, die durch die nach der Regelung des Niederlassungsmitgliedstaats verlangten Unterlagen geliefert werden, insgesamt ausreichen, um die erforderlichen Kontrollen im Aufnahmemitgliedstaat zu ermöglichen. (Rn. 64)

5. Die Behörden und Gerichte des Aufnahmemitgliedstaats müssen also, bevor sie verlangen, dass im Hoheitsgebiet dieses Staates Personaloder Arbeitsunterlagen gemäß ihrer eigenen Regelung erstellt und geführt werden, nacheinander prüfen, ob der soziale Schutz der Arbeitnehmer, der diese Erfordernisse rechtfertigen kann, nicht hinreichend gewahrt würde, wenn innerhalb einer angemessenen Frist die im Niederlassungsmitgliedstaat geführten Unterlagen oder Kopien davon vorgelegt würden oder, falls das nicht geschieht, diese Unterlagen oder Kopien davon auf der Baustelle oder an einem zugänglichen und klar bezeichneten Ort im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats bereitgehalten würden. (Rn. 65)

6. Unterliegt der Arbeitgeber hinsichtlich der Führung von Personaloder Arbeitsunterlagen, wie einer Arbeitsordnung, eines besonderen Personalregisters und – für jeden entsandten Arbeitnehmer – eines persönlichen Kontos, in dem Mitgliedstaat, in dem er ansässig ist, für dieselben Arbeitnehmer und dieselben Beschäftigungszeiten im Hinblick auf ihren Zweck vergleichbaren Verpflichtungen, so ist die Vorlage der im Niederlassungsmitgliedstaat geführten Personalund Arbeitsunterlagen als ausreichend anzusehen, um den sozialen Schutz der Arbeitnehmer zu gewährleisten, so dass von diesem Arbeitgeber die Erstellung von Unterlagen gemäß der Regelung des Aufnahmemitgliedstaats nicht verlangt werden kann. (Rn. 66)

7. Im Rahmen einer solchen Prüfung sind die Gemeinschaftsrichtlinien zur Koordinierung oder Mindestharmonisierung bezüglich der für den Schutz der Arbeitnehmer erforderlichen Informationen zu berücksichtigen, nämlich Richtlinie 91/533/EWG (Nachweis-Richtlinie) sowie Richtlinie 39/391/ EWG (Arbeitsschutz-Rahmenrichtlinie). (Rn. 67)

8. Handelt es sich um eine Verpflichtung, bestimmte Unterlagen am Wohnsitz einer im Aufnahmemitgliedstaat wohnenden natürlichen Person bereitzuhalten und aufzubewahren, auch nachdem der Arbeitgeber die Beschäftigung von Arbeitnehmern in diesem Staat eingestellt hat, so genügt es zur Rechtfertigung einer solchen Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs nicht, dass das Vorhandensein derartiger Unterlagen geeignet ist, die Erfüllung der Überwachungsaufgabe der Behörden zu erleichtern. Es ist außerdem erforderlich, dass die Überwachungsaufgaben nicht erfüllt werden könnten, ohne dass das Unternehmen in diesem Mitgliedstaat über einen Bevollmächtigten oder eine Aufsichtsperson verfügt, die die betreffenden Unterlagen aufbewahrt. (Rn. 76)

9. Die Verpflichtung, die Personalunterlagen fünf Jahre lang im Aufnahmemitgliedstaat sowie am Wohnsitz einer natürlichen Person unter Ausschluss juristischer Personen aufzubewahren, ist durch derartige Erfordernisse jedenfalls nicht gerechtfertigt. Die Kontrolle der Beachtung der mit dem sozialen Schutz der Arbeitnehmer des Baugewerbes zusammenhängenden Regelungen kann durch weniger einschränkende Maßnahmen sichergestellt werden. So können, wenn der in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Arbeitgeber keine Arbeitnehmer mehr in Belgien beschäftigt, die einschlägigen Personalunterlagen bzw. Kopien davon den nationalen Behörden zugesandt werden, die sie kontrollieren und gegebenenfalls aufbewahren könnten. (Rn. 77, 78)

 
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