Praktische Fallbeispiele

Wie ausgeführt, sollen zunächst im Zusammenhang mit dem Betriebsübergang die für das deutsche Arbeitsrecht wesentlichen Entscheidungen zum Betriebsbegriff dargestellt werden. Zudem musste sich der EuGH im Zusammenhang mit Massenentlassungen in einer für das deutsche Arbeitsrecht ebenfalls grundlegenden Entscheidung mit der Frage auseinandersetzen, was unter Entlassung im Sinne von Art. 3 und 4 der EU-Richtlinie 98/59/EG zu verstehen ist. Schließlich sollen im Zusammenhang mit der Francovich-Entscheidung die Rechtsfolgen bei einer fehlerhaften Umsetzung der Insolvenz-Richtlinie erläutert werden.

Fall Christel Schmidt EuGH Slg. 1994, I-1311

Frau S arbeitet seit mehreren Jahren bei der Sparkasse Bordesholm in SchleswigHolstein. Ihr wurde gekündigt, weil die Reinigungstätigkeiten nach einem Umbau in der Filiale nicht mehr von der Sparkasse selbst sondern durch ein Drittunternehmen der Firma Spiegelblank vorgenommen werden sollten. Spiegelblank bot Frau S an, sie zu einem höheren monatlichen Arbeitsentgelt mit einer entsprechenden Ausweitung ihrer Aufgaben zu übernehmen. Frau S war nicht bereit, dieses Angebot anzunehmen, da sie aufgrund der erheblichen Vergrößerung ihrer Aufgaben von einer Verschlechterung ihres Stundenlohns ausging. Daraufhin wurde das Arbeitsverhältnis von Frau S gekündigt. Frau S rügt wegen der Kündigung die Verletzung von § 613 a IV BGB sowie RL 2001/23/EG. Die Sparkasse ist der Meinung, ein Betriebsteilübergang liege nicht vor, da die Reinigungsarbeiten allein von Frau S. ausgeführt wurden. Im Rahmen des Kündigungsrechtsstreits legte das LAG SchleswigHolstein dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob Reinigungsaufgaben eines Betriebes, die auf eine Fremdfirma übertragen werden, auch dann einem Betriebsteil gleichgestellt werden, wenn die Aufgaben nur von einer Arbeitnehmerin erledigt werden.

Obwohl nur die Reinigungsarbeiten und keine Sachmittel von der Sparkasse auf die Firma Spiegelblank übertragen wurden, sah der EuGH hier einen Betriebsteilübergang im Sinne der Betriebsübergangs-Richtlinie 77/187/EWG (nunmehr RL 2001/23/EG). Hierfür sei auch ausreichend, dass die Aufgaben nur von einer Arbeitnehmerin wahrgenommen werden. Insoweit ist auch bei einer Funktionsnachfolge ein Betriebsübergang denkbar, wenn die Identität der wirtschaftlichen Einheit nach der Übertragung gewahrt bleibt.

1. Die Wahrung der Identität der wirtschaftlichen Einheit ist das entscheidende Kriterium für die Antwort auf die Frage, ob es sich um einen Übergang eines Unternehmens oder Unternehmensteils im Sinne der Richtlinie handelt. Die Wahrung dieser Identität ergibt sich u. a. daraus, dass dieselbe oder eine gleichartige Geschäftstätigkeit vom neuen Inhaber tatsächlich weitergeführt oder wieder aufgenommen wird. (Rn. 17)

2. So stellt die Gleichartigkeit der vor und nach der Übertragung ausgeführten Reinigungsaufgaben, die im Übrigen durch das der betreffenden Arbeitnehmerin unterbreitete Angebot der Weiterbeschäftigung zum Ausdruck kommt, ein typisches Merkmal eines Vorgangs dar, der in den Anwendungsbereich der Richtlinie fällt und der Arbeitnehmerin, deren Tätigkeitsbereich übertragen wurde, den ihr durch diese Richtlinie eingeräumten Schutz bietet. (Rn. 17)

3. Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 77/187/EWG (nunmehr RL 2001/23/EG) ist so auszulegen, dass ein Fall, in dem ein Unternehmer durch Vertrag einem anderen Unternehmer die Verantwortung für die Erledigung der früher von ihm selbst wahrgenommenen Reinigungsaufgaben überträgt, auch dann dem Anwendungsbereich der Richtlinie unterliegt, wenn diese Aufgaben vor der Übertragung von einer einzigen Arbeitnehmerin erledigt wurden. (Rn. 20)

 
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