Fall Voogsgeerd EuGH Slg. 2011, I-13275
Der Kläger Voogsgeerd hat im Jahr 2001 einen unbefristeten Arbeitsvertrag mit dem luxemburgischen Unternehmen Navimer abgeschlossen. Die Parteien vereinbarten die Anwendung luxemburgischen Rechts. Die Unterzeichnung des Arbeitsvertrages erfolgte am Sitz der Naviglobe NV in Antwerpen (Belgien), einem Tochterunternehmen von Navimer. Von August 2001 bis April 2002 arbeitete der Kläger als erster Maschinist an Bord der Schiffe MS Regina und Prince Henri. Beide Schiffe sind Eigentum von Navimer. Einsatzgebiet war die Nordsee. Im April 2002 kündigte das Unternehmen dem Kläger. Dieser verklagte Naviglobe und Navimer vor dem Arbeitsgericht Antwerpen und beantragte, beide Unternehmen gesamtschuldnerisch zu verurteilen, ihm die nach belgischem Gesetz vorgesehene Kündigungsentschädigung zu zahlen. Zur Begründung der Klage trug der Kläger vor, dass die zwingenden Bestimmungen des belgischen Gesetzes über Arbeitsverträge anwendbar seien und zwar unabhängig von der Rechtswahl der Parteien. Dabei machte er ferner geltend, er sei durch seinen Arbeitsvertrag mit dem belgischen Unternehmen Naviglobe und nicht mit dem luxemburgischen Unternehmen Navimer verbunden und habe seine Arbeit hauptsächlich in Belgien verrichtet, wo er die Anweisungen von Naviglobe entgegengenommen habe und wohin er nach jeder Reise zurückgekehrt sei. Das Arbeitsgericht Antwerpen erklärte sich hinsichtlich der Klage gegen Navimer für örtlich unzuständig. Die Klage gegen Naviglobe wurde für zulässig aber unbegründet erklärt, da Voogsgeerd die nach luxemburgischen Recht – nicht aber nach belgischem Recht – vorgesehene 3 monatige Ausschlussfrist zur Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen wegen missbräuchlicher Kündigung nicht eingehalten habe. Auf seine Kassationsbeschwerde legte der Arbeitsgerichtshof Antwerpen dem EuGH die Frage vor, ob der Staat, in dem sich die Niederlassung befindet, danach zu beurteilen sei, ob dort der Arbeitnehmer eingestellt wurde oder gewöhnlich seine Arbeit verrichtet.
Der EuGH sieht den rechtlichen Schwerpunkt des vorliegenden Problems nicht in der Bestimmung der Niederlassung sondern der Bestimmung des Rechtes des Ortes, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet. Der EuGH verweist darauf, dass in Fällen, in denen der Arbeitnehmer seine Tätigkeit in mehreren Staaten verrichtet, der Ort, von dem aus der Arbeitnehmer seine Tätigkeit aufnimmt und in dem er Weisungen empfängt, von besonderer Bedeutung sei. Zudem beantwortet der EuGH die Frage, dass der Ort der einstellenden Niederlassung dort sei, wo der Arbeitnehmer den Arbeitsvertrag geschlossen oder das Arbeitsverhältnis begründet wurde. Die einstellende Niederlassung müsse keine rechtlich verselbständigte Einheit mit eigener Rechtspersönlichkeit darstellen.
1. Art. 6 Abs. 1 des Übereinkommens von Rom (nunmehr Art. 8 Abs. 1 Satz 2 Rom I-VO) sieht vor, dass die Rechtswahl der Parteien hinsichtlich eines Arbeitsvertrags oder Arbeitsverhältnisses nicht dazu führen kann, dass dem Arbeitnehmer der Schutz entzogen wird, der ihm durch die zwingenden Bestimmungen des Rechts gewährt wird, das nach diesem Artikel mangels einer Rechtswahl anzuwenden wäre. Art. 6 Abs. 2 (nunmehr Art. 8 Abs. 2 Rom I-VO) legt die Anknüpfungskriterien des Arbeitsvertrags oder des Arbeitsverhältnisses fest, auf deren Grundlage die lex contractus mangels Rechtswahl zu bestimmen ist. (Rn. 25)
2. Es sind dies in erster Linie das Kriterium des Staates, in dem der Arbeitnehmer „gewöhnlich seine Arbeit verrichtet“, und subsidiär, in Ermangelung eines solchen Ortes, das Kriterium der „Niederlassung, die den Arbeitnehmer eingestellt hat“. Außerdem sieht der letzte Satz von Abs. 2 (nunmehr Art. 8 Abs. 4 Rom I-VO) vor, dass diese beiden Anknüpfungskriterien nicht anwendbar sind, wenn sich aus der Gesamtheit der Umstände ergibt, dass der Arbeitsvertrag oder das Arbeitsverhältnis engere Verbindungen zu einem anderen Staat aufweist; in diesem Fall ist das Recht dieses anderen Staates anzuwenden. (Rn. 26, 27)
3. Aus dem Wortlaut von Art. 6 Abs. 2 des Übereinkommens von Rom (nunmehr Art. 8 Abs. 2 Rom I-VO) ergibt sich, dass der Gesetzgeber eine Rangordnung unter den Kriterien aufstellen wollte, die für die Bestimmung des auf den Arbeitsvertrag oder das Arbeitsverhältnis anzuwendenden Rechts zu berücksichtigen sind. Dabei ist das Kriterium des Staates, in dem der Arbeitnehmer „gewöhnlich seine Arbeit verrichtet“, weit auszulegen, während das vorgesehene Kriterium des Ortes der „Niederlassung, die den Arbeitnehmer eingestellt hat“, nur anzuwenden ist, wenn das angerufene Gericht nicht in der Lage ist, den Staat zu bestimmen, in dem gewöhnlich die Arbeit verrichtet wird. (Rn. 34, 35)
4. In einem solchen Fall ist das Kriterium des Staates, in dem gewöhnlich die Arbeit verrichtet wird, so aufzufassen, dass es sich auf den Ort bezieht, an dem oder von dem aus der Arbeitnehmer seine beruflichen Tätigkeiten tatsächlich ausübt, und, in Ermangelung eines Mittelpunkts seiner Tätigkeiten, auf den Ort, an dem der Arbeitnehmer den größten Teil seiner Tätigkeiten verrichtet. (Rn. 37)
5. Daher sind unter Berücksichtigung des Wesens der Arbeit in der Seefahrt sämtliche Umstände zu berücksichtigen, die die Tätigkeit des Arbeitnehmers kennzeichnen und es ist zu bestimmen, in welchem Staat sich der Ort befindet, von dem aus der Arbeitnehmer seine Transportfahrten durchführt, Anweisungen zu diesen Fahrten erhält und seine Arbeit organisiert, sowie der Ort, an dem sich seine Arbeitsmittel befinden. (Rn. 38)
6. Wenn aus diesen Feststellungen hervorgeht, dass der Ort, von dem aus der Arbeitnehmer seine Transportfahrten durchführt und auch die Anweisungen für seine Fahrten erhält, immer derselbe ist, dann ist er als der Ort anzusehen, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet. Wie ausgeführt, ist das Kriterium des Ortes, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet, vorrangig anzuwenden. (Rn. 39)