Praktische Fallbeispiele
Fall LAG Düsseldorf vom 28.05.2009, 13 Sa 1492/08
Der Kläger ist deutscher Staatsangehöriger und als Binnenschiffer/Matrose bei der Beklagten, einem Unternehmen der J. Reederei-Gruppe beschäftigt. Die Reederei hat ihren Sitz in Luxemburg. Sie unterhält dort ein Büro, in welchem vier Mitarbeiter die Aufgaben der Personalverwaltungsund Buchhaltungstätigkeit wahrnehmen. Grundlage des Arbeitsverhältnisses bildet ein im Luxemburger Büro unterzeichneter Arbeitsvertrag von Dezember 2003. Der Geschäftsführer der Beklagten erbringt einen Teil seiner Tätigkeit im Luxemburger Büro, den anderen Teil einem Konzernunternehmen in Duisburg. Die Beklagte bereedert Binnenschiffe, welche im Eigentum der deutschen Konzernmutter stehen. Die Schiffe fahren unter deutscher Flagge. Die Beklagte ist nach luxemburgischen Recht Inhaberin der Ausrüsterbescheinigung, welche sie berechtigt, das Schiff mit Personal nach luxemburgischen Recht zu besetzen. Der Kläger war auf einem Schubschiff eingesetzt, welches im sog. „Continue-Betrieb“ den Rhein zwischen Duisburg und Rotterdam befuhr. Der Rhein fließt auf dieser Strecke zu 1/3 und zu 2/3 auf niederländischem Staatsgebiet. Im „Continue-Betrieb“ schiebt das Schubschiff mit Erz beladene Leichter von Rotterdam nach Duisburg, liefert diese ab, nimmt leere Leichter auf und schiebt diese zurück nach Rotterdam und so fort. Dabei fährt das Schubschiff rund um die Uhr. Landgänge der Besatzung finden nicht statt. An Bord befinden sich jeweils drei Besatzungen, die im Schichtbetrieb tätig sind. Die Arbeitnehmer haben im Wechsel jeweils zwei Wochen Dienst und sodann zwei Wochen frei.
Aufgrund einer Anweisung der Beklagten haben sich die Arbeitnehmer zu Beginn der zweiwöchigen Arbeitsschicht zunächst um 11:00 Uhr an einer Bäckerei im Duisburger Hauptbahnhof einzufinden. Von dort wird telefonisch erfragt, wo sich das Schiff gerade befindet und sodann verabredet, an welcher Stelle der Wechsel der Schiffsbesatzungen stattfinden soll. Zwischen Duisburg und Rotterdam existieren etwa 15 bis 20 Haltepunkte, an denen ein Wechsel der Schiffsbesatzung möglich ist. Mit einem von der Beklagten bezahlten Taxi fahren die Arbeitnehmer dann zu der verabredeten Stelle und gehen an Bord. Teilweise reist auch einer der Arbeitnehmer mit einem beklagtenseits gestellten Leihfahrzeug zum Duisburger Hauptbahnhof an, nimmt die Kollegen dort auf und fährt mit ihnen zur verabredeten Stelle. Die von Bord gehende Besatzung wiederum fährt mit dem Taxi beziehungsweise dem Leihwagen zum Duisburger Hauptbahnhof. Die Beklagte hat den Duisburger Hauptbahnhof als Treffpunkt ausgewählt, weil er bezogen auf die Orte, an denen auf der Rheinstrecke zwischen Duisburg und Rotterdam ein Wechsel der Schiffsbesatzungen möglich ist, für die aus dem ganzen Bundesgebiet anreisenden Arbeitnehmer am verkehrsgünstigsten gelegen ist. Betriebsversammlungen der Beklagten fanden ebenfalls in Duisburg statt. Auf den Schubschiffen wurde ausschließlich deutsch gesprochen.
Nachdem die Beklagte das Arbeitsverhältnis des Klägers gekündigt hat, erhob dieser beim Arbeitsgericht Duisburg Kündigungsschutzklage. Das Arbeitsgericht Duisburg hat die Klage mangels deutschen Gerichtsstandes als unzulässig abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das LAG Düsseldorf das Urteil aufgehoben.
Das LAG Düsseldorf geht von einer internationalen Zuständigkeit der deutschen Gerichtsbarkeit nach Art. 19 Nr. 2 a EuGVVO aus. Danach ist die Klage eines Arbeitnehmers auch vor dem Gericht des Ortes in einem anderen Mitgliedsstaat als dem Sitz des Arbeitgebers zulässig, wenn der Arbeitnehmer dort gewöhnlich seine Arbeit verrichtet. Das Gericht legt den Begriff des gewöhnlichen Arbeitsortes aufgrund der Arbeitnehmerschutzwirkung so aus, dass es dem Arbeitnehmer an diesem Ort möglich sein muss, am besten seine Interessen wahrzunehmen.
1. Die Zuständigkeit der deutschen Gerichtsbarkeit folgt aus Art. 19 Nr. 2 a EuGVVO. Danach ist die Klage eines Arbeitnehmers auch vor dem Gericht des Ortes in einem anderen Mitgliedstaat als dem des Sitzes des Arbeitgebers zulässig, wenn der Arbeitnehmer dort gewöhnlich seine Arbeit verrichtet. Die Vorschrift regelt neben der internationalen zugleich auch die örtliche Zuständigkeit. Die Verordnung hat weitgehend das Brüsseler Abkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivilund Handelssachen vom 27. September 1968 (Brüssel I-Übereinkommen oder EuGVÜ genannt) ersetzt. (Rn. 24)
2. Schon während der Geltung des EuGVÜ wurden als Ausfluss der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Regelungen in dieses aufgenommen, die Arbeitnehmerinteressen Rechnung tragen sollten. Die EuGVVO hat dieses Schutzsystem ausgebaut. (Rn. 26)
3. Der Begriff des gewöhnlichen Arbeitsortes ist weder in der EuGVVO noch in der Vorgängerregelung definiert. Aus der geschilderten Entstehungsgeschichte und dem Sinn und Zweck der Norm ergibt sich, dass es sich um eine Schutzvorschrift zugunsten der Arbeitnehmer handelt. Bei einem im Hoheitsgebiet mehrerer Vertragsstaaten erfüllten Arbeitsvertrag ist die Zuständigkeitsregelung so auszulegen, dass sie sich auf den Ort bezieht, an dem oder von dem aus der Arbeitnehmer unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls den wesentlichen Teil seiner Verpflichtungen gegenüber seinem Arbeitgeber tatsächlich erfüllt. (Rn. 27)
4. Die EuGVVO geht dabei davon aus, dass der Arbeitnehmer dort, wo er arbeitet, auch mit dem geringsten Kostenaufwand die Gerichte anrufen kann, und will ihm deshalb dort den Gerichtsstand eröffnen. Der gewöhnliche Arbeitsort ist vor diesem Hintergrund zu suchen. Das maßgebliche Kriterium, das zur Bestimmung des gewöhnlichen Arbeitsorts heranzuziehen ist, ist grundsätzlich der Ort, an dem der Arbeitnehmer den größten Teil seiner Arbeitszeit für den Arbeitgeber geleistet hat. Anders verhält es sich jedoch, wenn angesichts der tatsächlichen Umstände des jeweiligen Einzelfalls der Gegenstand des Rechtsstreits engere Verknüpfungen mit einem anderen Arbeitsort aufweist; in einem solchen Fall ist dieser Ort maßgeblich. (Rn. 27)
5. Danach liegt der gewöhnliche Arbeitsort des Klägers in Deutschland. Von dort aus geht er seiner Arbeit nach. Zwar liegen zwei Drittel der Fahrstrecke des Schubschiffs auf niederländischem Hoheitsgebiet. Arbeitsgerichte befinden sich jedoch nicht auf Flüssen, sondern an Land. Zwar mag man bei der Ermittlung des gewöhnlichen Arbeitsortes von Binnenschiffern die Frage stellen, im Territorialsockel welchen Staates das befahrene Gewässer gelegen ist. Die Verbindung des Klägers mit dem niederländischen Festland ist aber ausschließlich „schwimmend“ und damit eine im Hinblick auf die vorzunehmende Betrachtung nur äußerst lose. Während der zweiwöchigen Arbeitsschicht betritt er das niederländische Festland allenfalls, wenn der Wechsel der Schiffsbesatzung von dort aus stattfindet. Jedoch tritt der Kläger auch in diesen Fällen auf Anweisung der Beklagten die Arbeit von Duisburg aus an. (Rn. 30, 31)
6. Zudem wurde Duisburg aus sozialen Gründen zum Treffpunkt für die Arbeitnehmer bestimmt. Konsequenterweise wurden in Duisburg und nicht etwa in Luxemburg oder auf niederländischem Staatsgebiet die Betriebsversammlungen abgehalten. Damit besteht eine bedeutende Verbindung zwischen den vertraglichen Pflichten des Klägers und Duisburg. Hintergrund ist gerade die im Vergleich zur übrigen Fahrstrecke bessere Erreichbarkeit von Duisburg. Auf dieses Kriterium der Erreichbarkeit stellt die EuGVVO bei dem Merkmal des gewöhnlichen Arbeitsortes gerade entscheidend ab. (Rn. 31)
7. Die Auffassung, der Kläger könne dort klagen, wo er die meiste Zeit gearbeitet habe, nämlich in den Niederlanden, vernachlässigt den Umstand, dass die von Art. 19 Nr. 2 a EuGVVO geforderte Verbindung des (mit der Arbeitsleistung zusammenhängenden) Umfelds des Klägers mit dem niederländischen Staatsgebiet mangels Landgang nicht existiert. (Rn. 31)
8. Außerdem fährt das Schubschiff, auf welchem der Kläger eingesetzt wurde, unter deutscher Flagge. Die Schiffsflagge stellt ein Erkennungszeichen für die staatliche Zuordnung eines Schiffes dar. Die deutsche Bundesflagge dürfen nur Schiffe führen, deren Eigner Deutsche sind bzw. juristische Personen, bei denen Deutsche die Mehrheit im Vorstand oder in der Geschäftsführung stellen. Damit bilden solche Schiffe zwar keinen Teil des deutschen Hoheitsgebiets, es ist jedoch ein weiterer Anhaltspunkt dafür, dass der gewöhnliche Arbeitsort des Klägers einen größeren Bezug zum deutschen Staatsgebiet hat, obwohl das Schiff sich die meiste Zeit auf niederländischem Hoheitsgebiet bewegt. (Rn. 32)