Diachrone Veränderungen der Bedeutung des lebenslangen Lernens

Nach Blumenberg verfügen absolute Metaphern über eine Geschichte, die Auskunft über Veränderungen der Bedeutung des zugrunde liegenden Gegenstandes im zeitlichen Ablauf gibt (vgl. Blumenberg 1998: 25). Im Datenmaterial finden sich Hinweise auf derartige diachrone Veränderungen. Es wird thematisiert, dass das Verständnis des lebenslangen Lernens in seiner mittlerweile 40jährigen bildungspolitischen Ideengeschichte durch unterschiedliche Ideologien geprägt worden sei. Verdeutlicht wird dies anhand der Benennung bildungspolitischer Dokumente (z. B. Recurrent Education 1973) und damit einhergehende Veränderungen der Bedeutung des lebenslangen Lernens.

I: Mhm, ähm welche pädagogischen oder gesellschaftlichen Ideen liegen Ihrem beruflichen Verständnis von lebenslangem Lernen zugrunde?

E: Da gibt's bestimmte Wandlungen, ich habe angefangen im Bereich der Arbeiterbildung, habe darüber auch eine wissenschaftliche Ausarbeitung angefertigt über (nennt das Thema). Äh, bin dann äh mit verschiedenen Projekten an der Hochschule, an der ich beruflich tätig war, äh dieses weiterverfolgt und habe jetzt eher einen (seufzt) Ansatz, der gezeichnet ist sowohl durch ökonomische Kategorien, also Employability und Human Capital, also das Unwort des Jahres.

(Interview-Nr. 6: Herr Becker, Bildungspolitik Länderebene, Z. 38-45)

Das Textbeispiel zeigt auf, dass Veränderungen im subjektiven Verständnis durch Veränderung des beruflichen Tätigkeitsfeldes evoziert werden können. Im Rahmen der Behauptungsaktivität werden zunächst Wandlungen im Verständnis des lebenslangen Lernens konstatiert. In der darauffolgenden Begründung werden in Rekurs auf berufsbiografische Stationen die Bezugspunkte zum lebenslangen Lernen dargelegt. Auch wenn in dem Beispiel keine expliziten Dokumente, Definitionen etc. benannt werden, kann aufgrund des Hinweises auf das Tätigkeitsfeld ,Arbeiterbildung' die berufliche Auseinandersetzung mit diesem Teilbereich der Erwachsenenbildung im Kontext der Hochschulbildung sowie aufgrund des Alters des Informanten davon ausgegangen werden, dass sich der Akteur hier auf die Bedeutung des lebenslangen Lernens der ersten Generation bildungspolitischer Dokumente bezieht (Permanent Education des Europarats 1971, Faure-Report der UNESCO 1972, Recurrent Education der OECD 1973). [1] In der Fortführung der Begründung wird erläutert, dass das heutige Verständnis geprägt sei durch ökonomische Kategorien wie Employability und Human Capital. Aufgrund der aktuellen beruflichen Verortung des Experten in der Landespolitik liegt die Vermutung nahe, dass sein heutiges Verständnis des lebenslangen Lernens durch den aktuellen bildungspolitischen Diskurs geprägt ist. [2]

Neben dem Rekurs auf bildungspolitische Dokumente und damit verbundenen Ideologien lassen sich diachrone Veränderungen der Bedeutung lebenslangen Lernens auch in Form des Zeitvergleichs ,früher – heute' in beruflichen Kontexten rekonstruieren („also früher hätte man wahrscheinlich unter lebenslangem Lernen verstanden dass einer wenn er dann sagen&wir&mal Schreiner oder meinetwegen auch Jurist oder irgendwas geworden ist er immer noch ein bisschen was dazu lernen muss(.) heute kriegt das eine ganz neue Dimension(') weil keiner mehr sicher sein kann ob er sein ganzes Leben lang Schreiner sein wird oder Jurist(.)“ Interview-Nr. 19, Frau Wagner, Sekundarbereich, Z. 63-69).

Allen Hinweisen ist gemeinsam, dass sie hauptsächlich auf das Lernen Erwachsener in beruflichen Kontexten fokussieren. Während diachrone Veränderungen der Bedeutung lebenslangen Lernens in Rekurs auf den bildungspolitischen Diskurs von Vertreterinnen und Vertretern der Interviewgruppen ,Erwachsenenbildung/Weiterbildung' sowie ,Bildungspolitik' thematisiert werden, wird die Verdeutlichung von Veränderungen mittels des Zeitvergleichs ,früher – heute' von Vertreterinnen und Vertretern des Sekundarbereichs vorgenommen. Die Expertinnen und Experten aus dem Sekundarbereich – konkret die Vertreter aus der Wissenschaft – konzentrieren sich bei dem Zeitvergleich ,früher – heute' meist auf ihre eigenen beruflichen Erfahrungen in der Lehrerausbildung und -fortbildung.

  • [1] Der Faure-Report wird im erziehungswissenschaftlichen Diskurs als gesellschaftspolitisches Dokument eingestuft, in dessen Mittelpunkt die Entwicklung einer demokratischen und humanen Lerngesellschaft steht, „in der die Lernenden als Erwachsene in der Education Permanente selbstbestimmt und initiativ ihre Lernentscheidungen treffen und diesen durchaus auch selbstorganisiert nachgehen“ (Kuhlenkamp 2010: 16). Die Recurrent Education der OECD „ist charakterisiert als ein Konzept, das die Streuung von Bildung und Ausbildung über die gesamte Lebensdauer der Individuen im periodischen Wechsel mit anderen Aufgaben und Aktivitäten des Lebens vorsieht, insbesondere mit dem Beruf. Das Konzept strebt in einem umfassenden Sinne Chancengleichheit in Bildung und Gesellschaft an. Es zielt auf die Gleichheit der Bildungschancen, die das herkömmliche Bildungssystem nicht erreichen könne, es versucht die Möglichkeiten der Individuen zu verbessern, ihre Fähigkeiten und Lebenschancen mit möglichst geringer Abhängigkeit von den Reglementierungen des Bildungssystems zu entwickeln und die Kluft von Bildungsund Arbeitswelt zu verringern“ (a.a.O.: 18).
  • [2] Rothe (2011) stellt in der von ihr durchgeführten Diskursanalyse „Lebenslanges Lernen als Programm“ fest, dass sich der deutsche bildungspolitische Diskurs ab Mitte der 1990er Jahre stark an den europäischen und internationalen bildungspolitischen Themen und Gegenständen orientiert. Es handelt sich dabei um Themen wie „Arbeitslosigkeit und Employability, gesellschaftlicher Wandel, Autonomie von Bildungseinrichtungen, Qualität und Evaluation, Finanzierung etc.“ (Rothe 2011: 265).
 
< Zurück   INHALT   Weiter >