Die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit
Zunächst ist festzustellen, dass weder in der Freizügigkeitsverordnung – mit Ausnahme der Ansätze in Art. 7 Abs. 2 und 3 – noch in der Entsende-Richtlinie Regelungen über die Sozialversicherungspflicht von Arbeitnehmern bei grenzüberschreitender Tätigkeit enthalten sind. Vielmehr haben die EU-Instanzen von der Ermächtigung des Art. 48 AEUV erst durch Schaffung spezieller Sozialversicherungs-Verordnungen, nämlich der Verordnung (EG) 883/2004 und der Durchführungs-Verordnung (EG) 987/2009 Gebrauch gemacht. Der persönliche Anwendungsbereich dieser Verordnungen erfasst Arbeitnehmer, ihre Angehörigen und unter bestimmten Voraussetzungen auch Selbständige. In sachlicher Hinsicht sollen diese Verordnungen die Ansprüche von Arbeitnehmern, die in anderen EU-Staaten tätig sind, hinsichtlich Renten-, Kranken-, Arbeitslosen-, Unfallund Pflegeversicherung koordinieren.
Insbesondere sollen durch die Inanspruchnahme des Freizügigkeitsrechts keine sozialversicherungsrechtlichen Nachteile – aber auch keine Vorteile – entstehen, d. h. es sollen Doppelsicherungen und Sicherungslücken vermieden werden. Aus diesem Grund sollen Ansprüche der sozialen Sicherheit auch nicht vom Wohnort der betreffenden Person abhängig sein. Insoweit enthält die Verordnung (EG) 883/2004 sowohl kollisionsrechtliche Bestimmungen hinsichtlich des anwendbaren Rechts als auch ein Konzept der Koordinierung von Sozialversicherungsansprüchen.
Kollisionsrechtliche Bestimmungen
Wie im internationalen Privatrecht hat auch im Sozialrecht das Kollisionsrecht die Aufgabe, bei Fällen mit Auslandsberührung zu entscheiden, welches nationale Sachrecht auf den Fall zur Anwendung gelangt. Art. 11 Abs. 2 der Verordnung (EG) 883/2004 enthält den Grundsatz, dass Personen nur den Rechtsvorschriften eines und nur eines Mitgliedsstaates unterliegen. Diese Vorschrift verankert das Prinzip der Einheitlichkeit des Sozialrechtsstatus. Zum einen soll mit diesem Prinzip sichergestellt werden, dass grenzüberschreitend tätige Erwerbspersonen nicht ohne sozialen Schutz bleiben. Zum anderen wird verhindert, dass Doppelversicherungen entstehen, die einerseits mit doppelten Beitragslasten, andererseits aber auch mit dem Vorteil doppelten Leistungsbezugs verbunden wären. Einheitlichkeit des Sozialrechtsstatus bedeutet auch, dass keine Aufspaltung hinsichtlich verschiedener Zweige der sozialen Sicherheit entsteht.
Für die kollisionsrechtliche Anknüpfung besteht nach Art. 11 Abs. 3 a der Verordnung (EG) 883/2004 zunächst einmal das sog. Beschäftigungslandprinzip. Der Arbeitnehmer unterliegt den Rechtsvorschriften des Staates, in dem er beschäftigt ist. Art. 11 Abs. 3 a der Verordnung (EG) 883/2004 folgt also dem Grundsatz des lex loci labores. Ausnahmen hiervon ergeben sich aus dem Wohnsitzlandprinzip im Zusammenhang mit Leistungen bei Arbeitslosigkeit und dem Prinzip des Arbeitgebersitzes, wenn die Tätigkeit in zwei oder mehreren Mitgliedsstaaten erfolgt, Art. 13 Abs. 1 b der Verordnung (EG) 883/2004. Eine für die Praxis wichtige Ausnahme erfährt der Grundsatz, dass der Beschäftigungsort das entscheidende Kriterium für die Zuordnung zu einem nationalen System der sozialen Sicherheit ist, im Falle der Entsendung von Arbeitnehmern ins Ausland. Nach Art. 12 Abs. 1 der Verordnung (EG) 883/2004 ist eine Entsendung ins Ausland für den Verbleib des Arbeitnehmers im bisherigen System der sozialen Sicherheit unschädlich, wenn die voraussichtliche Dauer von 24 Monaten nicht überschritten wird. Das Sozialversicherungsstatut ändert sich daher nicht im Falle einer Entsendung ins EU-Ausland, die nicht länger als 24 Monate dauert.
Konzept der Koordinierung
Ziel dieses Konzeptes ist die Sicherung und Zusammenrechnung aller nach den verschiedenen innerstaatlichen Rechtsvorschriften zu berücksichtigenden Zeiten über die Grenzen der Mitgliedsstaaten hinaus. Auf diesem Wege soll erreicht werden, dass den die Freizügigkeit wahrnehmenden Arbeitnehmern im Hinblick auf ihre soziale Absicherung keine Nachteile entstehen. Dabei bleibt es aber Sache der einzelnen Mitgliedsstaaten, die Voraussetzungen für den Erwerb von Ansprüchen festzulegen. Sie unterliegen dabei lediglich den Vorgaben der Gleichbehandlung nach Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004. Zudem geht die Verordnung nach Art. 5 von dem Grundsatz aus, dass bestimmte Sachverhalte, Ereignisse, die im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedsstaates eingetreten sind, so zu behandeln sind, als ob sie im Hoheitsgebiet des Mitgliedsstaates, dessen Rechtsordnung Anwendung findet, eingetreten wären. Allerdings dürften die Regelungen über die Koordinierung der sozialen Systeme nach ständiger Rechtsprechung des EuGH nicht dazu führen, dass die in einem Mitgliedsstaat erworbenen Leistungen durch EU-Recht beschränkt werden.
Schließlich enthalten die Art. 17 ff. dann speziellere Regelungen zu den einzelnen Versicherungszweigen, wie der Krankenversicherung, der Rentenversicherung, der Unfallversicherung sowie der Arbeitslosenversicherung. Für die rechtspolitisch besonders brisante Frage des Anspruchs auf Sozialhilfeleistungen enthält Art. 70 der VO (EG) Nr. 883/2004 Sonderregelungen für sog. beitragsunabhängige Geldleistungen. Für solche Geldleistungen kommt in Abweichung von Art. 7 wieder die Wohngeldklausel zur Anwendung, Art. 70 Abs. 3 VO (EG) Nr. 883/2004. Dies bedeutet, dass entsprechende Leistungen davon abhängig gemacht werden können, dass der Anspruchsteller in dem jeweiligen Mitgliedsstaat auch wohnt. Daher werden beitragsunabhängige Geldleistungen nach Art. 70 Abs. 4 ausschließlich in dem Mitgliedsstaat, in dem die betreffenden Personen wohnen, und nach dessen Rechtsvorschriften gewährt.