Keine geringere Beweiskraft von Dokumenten aus EU-Mitgliedsstaaten
Die Entscheidungen Paletta II und Dafeki zeigen, dass das sowohl die Dienstleistungsfreiheit als auch das Recht der Freizügigkeit kollisionsrechtliche und prozessuale Auswirkungen haben können. Dies gilt insbesondere für Fragen der Darlegungsund Beweislast in arbeitsgerichtlichen oder sozialgerichtlichen Verfahren. So können die Anzeigeund Nachweispflichten nach § 5 EntgeltfortzahlungsG auch durch Bescheinigungen von Ärzten aus anderen Mitgliedsstaaten erbracht werden. Solchen Bescheinigungen kommt keine geringere Beweiskraft zu als die von deutschen Ärzten. Will der Arbeitgeber die Unrichtigkeit solcher ärztlichen Bescheinigungen geltend machen, trifft ihn hierfür die uneingeschränkte Beweislast. Es gibt keine Beweiserleichterung hinsichtlich eines Attestes von Ärzten aus anderen Mitgliedsstaaten. Am Rande sei angemerkt, dass es im Fall Paletta II dem Arbeitgeber letztlich nach der Entscheidung des EuGH doch noch gelungen ist, die Unrichtigkeit der Bescheinigungen zu beweisen. In der Paletta II-Entscheidung hat der EuGH darauf hingewiesen, dass trotz der grundsätzlichen Bindung an das Attest dem Arbeitgeber der Beweis des Rechtsmissbrauchs nicht abgeschnitten sei. Dies gilt im Übrigen auch bei Attesten von deutschen Ärzten, wenn der Arbeitgeber die Arbeitsunfähigkeit bezweifelt. In einem solchen Fall hat der Arbeitgeber aber zu beweisen, dass der die Bescheinigung ausstellende Arzt durch Simulation getäuscht wurde oder er den Begriff der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit verkannt oder sich mit dieser Frage gar nicht auseinandergesetzt hat. Im Rahmen der erneuten Verhandlung des Paletta-Falls vor dem LAG Baden-Württemberg wies das Gericht auf die massiven und sich überschneidenden Arbeitsunfähigkeitszeiten der vier Familienmitglieder und die Vermutung des Gerichts hin, dass diese nicht richtig sein konnten. Dem Arbeitnehmer könne jedoch nicht der Gegenbeweis abgeschnitten werden, dass er tatsächlich erkrankt war. Aus diesem Grund beschloss das LAG gegenbeweislich, die italienischen Ärzte als Zeugen zu vernehmen. Da einer der Ärzte zwischenzeitlich verstorben war und ein anderer sich nicht erinnern konnte, wurde schließlich die Klage abgewiesen. Im Fall Dafeki hat der EuGH die Verpflichtung zur Anerkennung der Personenstandsurkunden aus Griechenland im Grunde allein aus dem Freizügigkeitsrecht hergeleitet.
Im Fall FTS ging es vordergründig auch um die Rechtsnatur der sog. E-101-Bescheinigung, mit der in Entsendefällen der Niederlassungsstaat bestätigt, dass seine Sozialversicherungspflicht für weitere 12 Monate bestehe. Vergleichbar wie in den Entscheidungen Paletta II und Dafeki sind auch die Behörden des Tätigkeitsstaates hieran gebunden, sofern es ihnen nicht gelingt einen Missbrauch zu beweisen. Die eigentliche Relevanz des Falles bestand aber in der Frage, wie stark die Bindung des entsendenden Unternehmens an den Niederlassungsstaat bzw. den Mitgliedsstaat der Betriebsstätte sein muss, insbesondere wenn es sich bei dem Arbeitgeber um ein Leiharbeitsunternehmen handelt.
Grundsätzlich geht man in Entsendungsfällen davon aus, dass zwischen dem Unternehmen und dem Arbeitnehmer während dessen Entsendung weiterhin eine arbeitsvertragliche Bindung besteht und dieses Unternehmen seine Geschäftstätigkeit gewöhnlich im Niederlassungsstaat ausübt. Nur unter diesen Voraussetzungen soll sich das entsendende Unternehmen auf die Privilegierungsvorschrift von Art. 12 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 – also die weitere Anwendung des heimischen Sozialversicherungsrechts nunmehr für 24 Monate – berufen können. Im Fall des Leiharbeitsunternehmens FTS ging es daher um die Frage, ob hierfür das Unternehmen im Niederlassungsstaat tatsächlich tätig sein muss oder ob etwa auch eine Briefkastenfirma ausreichend sei. Im Hintergrund stand der Verdacht, dass bestimmte unionsweit operierende Leiharbeitsfirmen sich den Mitgliedsstaat mit dem für den Arbeitgeber günstigsten Sozialversicherungssystem aussuchen würden, um von hier aus Arbeitnehmerüberlassungen durchzuführen, die mit einer Entsendung ins EU-Ausland verbunden sind.
Der EuGH wies zu Recht darauf hin, dass zumindest eine nennenswerte Geschäftstätigkeit ausgeübt werden müsse, damit sich das Unternehmen auf die Dienstleistungsfreiheit berufen könne. Sofern dies der Fall sei, sei es für das Unternehmen ausreichend, sich im Entsendungsfall auf Urkunden und Unterlagen, die er bereits im Niederlassungsstaat erbracht hat, zu berufen. Bloße Briefkastenfirmen dürften daher für die Inanspruchnahme des dargestellten Sozialversicherungs-privileges nicht ausreichen. Die fehlende Bindung an den Niederlassungsstaat nachzuweisen, ist allerdings Sache der Sozialversicherungsbehörden des Tätigkeitsstaates, die die Anwendung ihres Systems der sozialen Sicherheit geltend machen.
Abschließend sei wie schon angedeutet darauf hingewiesen, dass der Privilegierungszeitraum für die Anwendung der sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften aus dem Niederlassungsstaat mittlerweile nach Art. 12 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 auf 24 Monate verlängert wurde. Im deutschen Sozialrecht sind Regelungen über die Ausstrahlungsbzw. Einstrahlungswirkungen im Zusammenhang mit der Entsendung von Arbeitnehmern in den §§ 4, 5 SGB IV enthalten. Durch die Privilegierungsregelungen von Art. 12 Abs. 1 kann es daher dazu kommen, dass ein entsandter Arbeitnehmer sozialversicherungsrechtlich dem Heimatstaat zugeordnet ist, während er arbeitsrechtlich aufgrund der Regelung von Art. 3 Abs. 1 Richtlinie 96/71/EG (Arbeitnehmerentsende-Richtlinie) dem Recht des Tätigkeitsstaates, z. B. hinsichtlich des Mindestlohns und des Mindesturlaubs, unterworfen ist. EU-Unternehmen haben daher für ihre ins EU-Ausland entsandten Arbeitnehmer hinsichtlich des Arbeitsrechts die Regelungen des Tätigkeitsstaates und hinsichtlich des Sozialversicherungsrechts innerhalb der ersten 24 Monate die sozialversicherungs-rechtlichen Regelungen ihres Niederlassungsstaates zur Anwendung zu bringen.