Modernisierungstheorie unter der Voraussetzung von Globalisierung

Es gehört zu den Kernfragen in der Soziologie, die ‚Entwicklungsgeschichte' der modernen Gesellschaften, die weitere (späte) Modernisierung zu erforschen und theoretisch zu systematisieren. Das betrifft nicht nur eine wissenssoziologische Fragestellung. Einigkeit besteht darüber, dass die modernen Gesellschaften durch die funktionale Differenzierung gekennzeichnet sind, die sich von segmentären und stratifikatorischen (Kasten, Stände) Differenzierungen der vormodernen Gesellschaften unterscheidet. Die Modernisierung, auch dahingehend gibt es keine Kritik, bezeichnet den gesellschaftlichen Veränderungsprozess zu einer modernen Gesellschaft. Über den raumzeitlichen Vorgang der Modernisierung gibt es in der soziologischen Theorie unterschiedliche theoretische Systematisierungen. [1] Das betrifft den strukturellen Wandel zum modernen Gesellschaftssystem, seinen institutionellen Aufbau und die Evolution der modernen Gesellschaft.

Seit den 1990er Jahren finden weitreichende soziale Veränderungen in der chinesischen Gesellschaft statt. Betrachtet man das chinesische Wirtschaftssystem, so fand eine Veränderung zu einem der führenden Weltwirtschaften im globalen Wirtschaftssystem statt. Im Gegensatz zu den Vorhersagen der klassischen Modernisierungstheorien resultierte aus der Modernisierung der chinesischen Gesellschaft – insbesondere dem Wirtschaftssystem – keine Ausbildung eines konstitutiven demokratischen politischen Systems, eines modernen Rechtssystems, wie sie mit westlichen politischen Systemen und Rechtssystemen zu vergleichen sind. [2] Auch das Wirtschaftssystem in der chinesischen Gesellschaft weist andere Strukturen als westliche Wirtschaftssysteme auf, aber es gelang ihm trotzdem, zum zweitgrößten Wirtschaftssystem im globalen Wirtschaftssystem aufzusteigen.

Die klassische Modernisierungs- und Entwicklungstheorie sowie auch andere soziologische Ansätze zur Theorie des gesellschaftlichen Wandels sind nicht in der Lage, die Modernisierung der chinesischen Gesellschaft in ihrer strukturellen Ausgestaltung und mit ihren Widersprüchen zu beschreiben. Daher bedarf es für die chinesische Modernisierung eines neuen Ansatzes, der sich in die soziologische Theorie der Multiple Modernities einordnet und nicht in einen einzelfallbezogenen kulturalistischen Ansatz abdriftet. Das betrifft die Fortschreibung der soziologischen Modernisierungstheorie, wie sie im Folgenden dargestellt wird.

In einem ersten Schritt ist der soziologische Problembezug, der für die Beobachtung der chinesischen Modernisierung relevant ist, abzustecken. Es ist vom aktuellen Forschungsstand und den daraus benannten Forschungsfragen auszugehen. Dazu folgt im ersten Kapitel die Analyse des Mitgliedschaftssystems. Im zweiten Kapitel folgen die Differenzierungs- und Integrationsformen. Dieser leitet über zu dem strukturellen Wandel von Gesellschaft und der Voraussetzung von Globalisierung und Hybridisierung im dritten Kapitel. Aus der Forschung zur Modernisierungstheorie und den strukturellen Veränderungen in der Gesellschaft unter der Voraussetzung von Globalisierung stellt sich die Frage, welche Folgerungen daraus für die Analyse der chinesischen Modernisierung zu ziehen sind. Damit schließt das vierte Kapitel ab.

  • [1] Zum Diskussionsstand über die Globalisierungsforschung und dem Problem der Moderne im Singular und im Plural sowie der Modernity-Postmodernity-Debatte, die in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre begann, siehe Featherstone, Mike. Scott Lash und Roland Robertson (Hrsg.). Global Modernities. London: Sage 1991 und Turner, Bryan S. (Hrsg.). Theory of Modernity and Postmodernity. London: Sage, 1990. Zur Diskussion zur Gegenwartsgesellschaft und den unterschiedlichen Theoriezweigen siehe Nassahi, Armin. „Gesellschaft als Gegenwart,“ in Der soziologische Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009, 359–440. Eine Mitgliedschaftssoziologische Interpretation und den Forschungsnutzen von Jan Nederveen Pieterses Hybridisierungsansatzes liefert Preyer, Gerhard. „Globalisierung und Multiethnizität. Jan Nederveen Pieterses Beitrag zur Analyse struktureller Evolution,“ Marburger Forum Jg. 9, 3, 2008 rep. Gesellschaft im Umbruch II. Frankfurt a. M.: Humanities Online 2009, 48–73.
  • [2] Talcott Parsons beschreibt es noch so: „Fundamental to the structure of modern societies are, taken together, the other four complexes: bureaucratic organization of collective goal-attainment, money and market systems, generalized universalistic legal systems, and the democratic association with elective leadership and mediated membership support for policy orientation.“ in Parsons, Talcott. „Evolutionary Universals in Society,“ American Sociological Review Vol. 29, No. 3, 1964, 356.
 
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