Soziologie der Mitgliedschaft
Die sozialen Systeme sind voraussetzungsvolle Gebilde. Ihre Existenz versteht sich nicht von selbst. Vom Standpunkt der Soziologie der Mitgliedschaften sind diese Voraussetzung die Codierung von Mitgliedschaftsbedingungen und ihre formelle oder informelle Regulation. Zur Handhabung einer Gesellschaftsanalyse ist der Bezugsrahmen und damit der entsprechende theoretische Hintergrund so zu wählen, dass er einen Erklärungsrahmen von strukturellen Veränderungen und auch Widersprüche beschreiben kann, ohne sich von einer vorgegebenen, normativ bewerteten Gesellschaftsvorstellung leiten zu lassen. Das betrifft die Analyse des Gegenstandes der Mitgliedschaftssysteme, auf den wissenschaftliche theoretische Erkenntnisse anzuwenden sind. Für die Einordnung des Bezugsrahmens sind die unterschiedlichen Theorieebenen aufzuzeichnen, wie die allgemeine Theorie sozialer Systeme, die Gesellschaftstheorie und die Evolutionstheorie und es ist eine entsprechende Einordnung unterschiedlicher Mitgliedschaftstypen sozialer Systeme vorzunehmen. Der in dieser Arbeit anzusetzende Bezugsrahmen ist die Gesellschaftstheorie mit ihren unterschiedlichen Typen von Mitgliedschaftssystemen. Er verweist auf die Problemstufenordnung der Mitgliedschaftssysteme und ihre Unterscheidung auf den Ebenen Gesellschaft, formale Organisation und Interaktion. Die sozialen Gruppen sind keine eigenständige Problemebene, sondern zwischen den Ebenen anzuordnen. Auf diesen Ebenen ist der Bezugsrahmen für die Unterscheidung und Änderung von Mitgliedschaftsbedingungen und Mitgliedschaftsordnungen zu untersuchen. [1]
Auf der allgemeinen Ebene der Theorie der sozialen Systeme schließe ich mich Gerhard Preyer an, wenn er soziale Systeme als durch Mitgliedschaft selbstkonstituiert fasst. Die Unterscheidung zwischen Mitgliedschaft und Nichtmitgliedschaft ist die Leitdifferenz von sozialen Systemen, die nicht unterschritten werden kann. Die sozialen Systeme bilden sich durch die Unterscheidung von Mitglied und Nichtmitglied sowie der Beobachtung dieser Unterscheidung. Aus der Perspektive der Soziologie der Mitgliedschaften basieren die Systemtheorien nicht auf Handlungen und Handlungssystemen (Parsons) oder Kommunikation (Luhmann), sondern die Letztelemente sozialer Systeme sind Mitgliedschaften. Im Gegensatz zu Handlungen und Kommunikationen lassen sich Mitgliedschaften beobachten und zuschreiben. [2]
Die mitgliedschaftstheoretische Zuspitzung der Theorie sozialer Systeme besagt: Wir können soziale Systeme nur dann beobachten und beschreiben, wenn sie auf die Mitgliedschaftsoperation Bezug nehmen. Die Mitgliedschaftsdifferenz ist die elementare, d. h. nicht weiter analysierbare Selbstreferenz. Das wäre dann ihre Sinndifferenz, da „Sinn“ auf etwas verweist. Gehen wir davon aus, so ist der Verweisungszusammenhang von Sinn das Handeln und Erleben der Systemmitglieder. Daran sind in der soziologischen Beschreibung alle weiteren Operationen anzuschließen, zum Beispiel Beobachtung, Erwartung, Zuschreibung, Kommunikation und Handeln. Die Mitgliedschaftstheorie hält an der System-Umwelt-Beziehung als grundlegend für die Unterscheidung des Gegenstandsbereichs des sozialen Bereichs fest, da sie die Unterscheidung zwischen Mitglied und Nichtmitglied auf einen Beobachter (Interpreten) instanziiert. Damit geht jedoch nicht einher, dass sie die Unterscheidung zwischen analytischen Unterscheidungen – eines Beobachters – und der Systemreferenz dieses Beobachters im Hinblick auf „faktische“ (empirische, d. V.) soziale Systeme aufgibt. Darin weicht sie von Luhmanns Systemtheorie ab, da er diese Unterscheidung durch „System und Systemreferenz“ ersetzt. [3] Durch die Operationen der Mitgliedschaftsdifferenz zur Umwelt sind die Bestandteile (Typenmerkmale) sozialer Systeme zu folgern. Wie man die System-Umwelt-Beziehung auch immer fasst, sie ist beobachterabhängig, da die Mitgliedschaftsbedingung und ihre Operationalisierung als Statusfunktion beobachterabhängig sind. Die Umwelt des Beobachters ist aber beobachtungsunabhängig, da sie auch dann bestehen würde, wenn es keine sozialen Systeme gäbe.
Die Entscheidung über Mitglied oder Nichtmitglied ist zu beobachten, da sie eine Handlung ist, die zugleich auch zu kommunizieren ist. Insofern setzt die Mitgliedschaftsbestimmung einen Beobachter (Interpreten) voraus. Sie ist sozusagen beobachterabhängig, d. h. nicht, dass sie nicht objektiv ist. Die Beobachtung von sozialen Systemen erfolgt über ihre Mitgliedschaften, insbesondere über die Erfüllung von Mitgliedschaftsbedingungen als der Grenzunterscheidung zur Umwelt. Die Erfüllung dieser Mitgliedschaftsbedingungen ist die Voraussetzung für das Entstehen eines sozialen Systems. Das bekommt besondere Relevanz, wenn die Mitgliedschaft und die Mitgliedschaftsbedingungen variabel werden. Die Beobachtung der Mitgliedschaftsbedingungen in Bezug auf ihre Veränderungen liefert Aufschluss über die Veränderungen in der Gesellschaft als dem umfassendsten Mitgliedschaftssystem. Die Beobachtung dieses Beobachters hinsichtlich seines Beobachtungsstandpunktes, die damit erhaltene Perspektive und auch die damit unberücksichtigte Perspektive (blinder Fleck), die vorgenommene Unterscheidung und die Kausalitätszuschreibung lieferndem Beobachteraufderzweiten Stufedie Zusammenhängefürdie Beschreibung der strukturellen Veränderungen der Gesellschaft. Der Prozess der Beobachtung der nächsthöheren Stufe kann beliebig weit fortgesetzt werden, mit der Einschränkung, dass die Abstraktion und steigende Komplexität den Zugang erschweren.
Die Soziologie der Mitgliedschaft geht von einer Systemtheorie der geschlossenen, selbstreferenziellen Systeme aus, in der die Systembildung einen Rationalitätsgewinn gegenüber der Umwelt bedeutet, auch wenn dieser Rationalitätsvorteil nur aus Systemperspektiven bestehen mag, sowie auf die von Talcott Parsons und Richard Münch inspirierte Systemtheorie, die zwischen analytischen und empirischen Funktionssystemen unterscheidet und die multiple Konstitution der sozialen Systeme hervorhebt, zurück. Die Entscheidung und Codierung über und von Mitgliedschaft differenziert soziale Systeme von ihrer Umwelt. Wenn wir davon ausgehen, dass durch die Entscheidung über Mitgliedschaft soziale Systeme selbstkonstituiert (selbstreferenziell) sind, so wird der Systembegriff, somit die Differenz zwischen System und Umwelt, nicht durch eine Sinnselektion, sondern durch die Mitgliedschaftsselektion festgelegt. Die Mitgliedschaftssysteme sind geschlossene selbstreferenzielle Systeme. Jedes Mitgliedschaftssystem wird von einer Instanz geschlossen, dem Autoritätssystem, das über die Mitgliedschaft entscheidet. Als Strukturbedingung lässt sich das Mitgliedschaftsordnung nennen. Da jedes soziale System die Erfüllung und Kommunikation der Mitgliedschaftsbedingungen als Voraussetzung hat, sind Mitgliedschaftsselektionen zu beobachten. Das sind die porösen Punkte, welche die strukturelle Unterscheidung von sozialen Systemen zu ihrer Umwelt bilden. Die Erfüllung dieser Voraussetzungen ist in der Kommunikation zu beobachten und bezieht sich auf die Erwartungserwartungen von Mitgliedern in sozialen Systemen. [4]
Die Systembildung hat das Bezugsproblem zu lösen, das in der Absorption von Unsicherheit und damit in der Ausschaltung von Kontingenz besteht. Die Unterscheidung zwischen System und Umwelt erfolgt über die Entscheidung über Mitgliedschaft und Nichtmitgliedschaft. Der Umweltbezug in der System-System-Beziehung besteht darin, dass sich Mitgliedschaftssysteme durch Öffnung und Schließung bilden und damit eine Unterscheidung zur Umwelt vornehmen. Es entsteht ein Grenzverkehr, der dadurch einzuschränken ist, dass mit der Entscheidung zwischen System und Umwelt eine Kausalitätsunterbrechung stattfindet. Die sozialen Systeme beruhen auf Vorbedingungen, die aus der Perspektive der Mitgliedschaftssoziologie aus der Codierung der Mitgliedschaftsbedingungen und damit aus formellen und informellen Regulationen bestehen. Jedes soziale System ist durch eine Instanz, das Autoritätssystem[5], das über die Mitgliedschaft entscheidet, zu bilden. Das bestimmt die Mitgliedschaftsordnung. Diese Ordnung wird von den Basiseliten und ihren Allianzen gebildet. Jedes soziale System ist auf die Erfüllung der Mitgliedschaftsbedingungen als ihren Vorbedingungen ein selbstbestimmtes System, welches die Teilnahmebedingungen an die Teilnahme an der Kommunikation selbst bestimmt. Durch diesen Punkt findet eine Trennung von der Umwelt statt, die Erfüllung von diesen Mitgliedschaftsbedingungen ist in der Kommunikation zu beobachten und bezieht sich auf die Erwartungen und Erwartungserwartungen von Mitgliedern sozialer Systeme. Die Mitgliedschaftssysteme bestehen nicht aus Menschen, physischbiologischen Wesen, sondern aus den Identitätsmarkierungen ihrer Mitglieder (Personen) und Zuschreibungen.
Die Etablierung von sozialen Systemen hat drei Grundbedingungen zu erfüllen, das sind die zeitliche Dimension, die sachliche Dimension und die soziale Dimension. Die sozialen Systeme müssen durch das Nadelöhr von kommunikativen Ereignissen, d. h. sie haben die zeitliche Dimension zu bearbeiten. Durch die Abgrenzung und Stabilisierung von sozialen Systemen nehmen sie auf die sachliche Dimension der Kommunikation und Thematisierungsbestandteile Bezug, die die Aufrechterhaltung des sozialen Systems gefährden, zum Beispiel durch Tabus. Auf der sozialen Ebene haben sich soziale Systeme selbst zu begrenzen und damit die Inklusion zu selektieren, um sich restabilisieren und erhalten zu können. [6]
Die Öffnung und Schließung von sozialen Systemen erfolgt durch die Entscheidung über Mitgliedschaft. An dieser Stelle ist die Evolution von Mitgliedschaftsbedingungen und ihren Operationalisierungen angesprochen. In Bezug auf die soziostrukturelle Evolution ist die Beobachtung der Mitgliedschaftsbedingungen die Konsequenz aus der Disposition über freie Ressourcen, ihre Institutionalisierung wie zum Beispiel durch die soziale Stratifikation im Verwandtschaftssystem und die Inklusions-Exklusionsordnung der funktionalen Differenzierungen. Die Basiseliten in der Sozialstruktur und die soziale Arbeitsteilung initiieren diese Ordnung. Die Beobachtung der Systembildung von Mitgliedschaften liefert Aufschluss über den strukturellen Kampf um die Distribution freier Ressourcen. Das ist durch Inklusions-Exklusionsordnung zu erkennen.
- [1] Preyer, Gerhard. Soziologische Theorie der Gegenwartsgesellschaft (3 Bd.). Mitgliedschaftstheoretische Untersuchungen I. Wiesbaden: VS Verlag 2006, 31.
- [2] Zur ausführlichen Darstellung zur Mitgliedschaft als Leitdifferenz und die Abgrenzung zu Handlung und Kommunikation als systembildender Vorgang siehe: Preyer, Gerhard. „Kapitel I: Mitgliedschaft als letzte Elemente sozialer System,“ in Soziologische Theorie der Gegenwartsgesellschaft (3 Bd.). Mitgliedschaftstheoretische Untersuchungen I. Wiesbaden: 2006, 23–64. Es ist dazu anzumerken, dass sich die Mitgliedschaftstheorie nicht der Aufnahme der Logic of Form (Spencer Brown) und der Kybernetik (Heinz von Foerster) in die Systemtheorie Luhmanns angeschlossen hat. Ihre Äußerungen dazu sind zurückhaltend, vgl. ebd. 55–64. Aus der Sicht der dortigen Darlegungen sollte die klassische Logik nicht geändert werden. Zwar finden sich in einer weiteren Resystematisierung einer Vereinheitlichung der Theorie sozialer Systeme, der Gesellschaftstheorie und der Evolutionstheorie auch ein Hinweis, dass diese Vereinheitlichung in einem Übergang von der zweiten zur dritten Kybernetischen Stufung vorzunehmen ist. Dieser Ansatz wäre aber noch weiter fortzuentwickeln, siehe dazu Preyer, Gerhard. Soziologische Theorie der Gegenwartsgesellschaft (3 Bd.). Mitgliedschaft und Evolution III. Wiesbaden: Springer VS, 2008, 58–68. Das ist insofern hervorzuheben, da Luhmann die kybernetische Aufstufung auf der zweiten Stufe ‚deckelt', Luhmann, Niklas. Die Gesellschaft der Gesellschaft (Bd. 2). Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997, 1124–125. Das ist durch die Frage motiviert „wie es in einem Kommunikationszusammenhang auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung zu Stabilitäten kommen kann“, ebd. 1124. Luhmann löst das Problem dahingehend, dass „die Funktion der Funktion […] die Funktion (ist)“, ebd. 1125. Angesprochen sind damit 1. die Ergiebigkeit der Aufstufungen als fortlaufende Iterationen, 2. die Fassung der System-Umwelt-Relation und 3. die damit einhergehende Sozialontologie. Zu einer Kritik an Luhmanns zirkulären Konstruktion sozialer Systeme Preyer, Gerhard. Soziologie der Mitgliedschaft IV – Mitgliedschaftssoziologie funktionaler Differenzierung, https://electure-ms.studiumdigitale.uni-frankfurt.de/vod/ playlists/ZvTn7Fqbat.html, rev. 2014-09-01 (oder Youtube, ProtoSociology). In der Vorlesung liegt das fortgeschriebene Forschungsprogramm der Mitgliedschaftstheorie vor. Unabhängig, zu welchen erkenntnistheoretischen und ontologisch systematischen Ergebnissen man in dieser Untersuchung kommt, die zwei Wege zur Mitgliedschaftstheorie und Mitgliedschaftssoziologie, der kommunikationstheoretische und der eher axiomatische (setzende) (Es gibt kein soziales System ohne die Operationalisierung seiner Mitgliedschaftsbedingung) sind aus meiner Sicht davon nicht betroffen.
- [3] Luhmann, Niklas. Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1984, 608–9.
- [4] Preyer, Gerhard. Soziologische Theorie der Gegenwartsgesellschaft (3 Bd.). Mitgliedschaftstheoretische Untersuchungen I. Wiesbaden: Springer VS, 2006.
- [5] Auf der Ebene der allgemeinen Theorie sozialer Systeme ist das Autoritätssystem unbestimmt. Die Frage nach dem bzw. den Entscheidern stellt sich frühestens auf der Ebene der Theorie der Mitgliedschaften, siehe dazu Preyer, Gerhard. Soziologische Theorie der Gegenwartsgesellschaft (Bd. 3), Mitgliedschaft und Evolution I. Wiesbaden: Springer VS 2006, 54.
- [6] Im theoretischen Bezugsrahmen der Systemtheorie Luhmanns wird Inklusion-Exklusion auf die Differenzierungsformen spezifiziert. Inklusion bezeichnet die Berücksichtigung von Personen, wobei „Person“ eine Identitätsmarke ist, die in der System-Umwelt-Relation funktionaler Differenzierung zu einem Problem wird. Zu Inklusion-Exklusion bei Luhmann und Parsons, Lehmann, Maren. Inklusion. Beobachtungen einer sozialen Form am Beispiel von Religion und Kirche. Frankfurt a. M.: Humanities Online, 2002. „Inklusion löst sich also von allen personalisierbaren, 'persönlichen' Attributen ab (im Fall funktionaler Differenzierung, d. V.), sie verdankt sich einer sehr weitgehenden Generalisierung, sodass 'Vollinklusion' ähnlich wie 'Jedermann' eine Beschreibung dieser Generalisierung selbst ist.“, Ebd. 110. Darin ist zu erkennen, dass unter dieser Voraussetzung die Mitgliedschaftsbedingung als der Zugang zu den Teilsystemen generalisiert ist. Das Folgeproblem ist die Einschränkung der Mitgliedschaft. Inklusion darf nicht mit politischer Teilhabe verwechselt werden. Sie ist gerade kein sozialpolitischer Begriff. Der Inklusionsbegriff in der analytischen Handlungs- und Systemtheorie ist auf den Sozialisationsprozess spezifiziert. Für Parsons ist der Inklusionsbegriff auf die Integration spezifiziert, ebd. 95–97, 101–102.