Multiple Modernities
Shmuel N. Eisenstadt verwendet den Modernisierungsbegriff im Rahmen der Analyse der strukturellen Evolution von Gesellschaften als eine evolutionäre Differenzierung zwischen kongruenten und nichtkongruenten Gesellschaften, die zu einer Entkopplung der strukturellen und der symbolischen Dimension führt, die durch die Differenzierung der Basiseliten ausgelöst wurde:
The great variety of institutional and integrative contours of different societies arriving at similar levels or stages of differentiation may be due to several different, yet interconnected, reasons. First, different societies arrive at the same level of differentiation through different historical paths and through a variety of concrete structural forms. Thus, for instance, for political systems of centralized empires could develop from city-states, or form patrimonial or feudal regimes. These different antecedents greatly affected the social composition and the concrete organization of the new centralized structure as well as the basic orientations and problems of its rulers.
Similarly, the process of modernization may begin in tribal groups, in caste societies, in different types of peasant society, and in societies with different degrees and types of prior urbanization. These groups differ greatly with regard to resources and abilities for setting up and implementing relatively differentiated goals, and for regulating the increasingly complex relations among different parts of the society. One aspect of the variety among these antecedents of differentiation is of special interest. Within many relatively undifferentiated societies exist enclaves of much more differentiated and specialized activities, especially in the economic and cultural spheres. [1]
Der soziale Wandel wird somit nicht durch dominierende Ontologien von Zivilisationen und auch nicht durch eine vorliegende Sozialstruktur ausgelöst, sondern durch ein besonderes Zusammenspiel zwischen beiden in bestimmen Situationen. Eine besondere Rolle spielen dabei die Basiseliten. Daraus resultieren fortlaufend ungelöste Konflikte in den Einstellungen zur Welt. [2] Modernisierung hat eine revolutionäre Veränderungsrichtung, die als Langzeitentwicklung in westlichen Gesellschaften zu vergleichbaren Innovationen, wie der Rationalisierung von Recht, Wirtschaft, Wissen und Kultur als strukturgebendem Merkmal gesellschaftlicher Kommunikation geführt hat. Verallgemeinernd lässt sich Modernisierung als die Umgestaltung und Variabilisierung der Mitgliedschaftsbedingungen beschreiben, die zu veränderten Rollenformen der sozialen Integration und Solidarität führten. [3]
Das Forschungsprogramm und die theoretischen Ergebnisse von S. N. Eisenstadt nehmen zu diesen theoretischen Ansätzen eine in der Mitte liegende Position ein. Der Ansatz der Multiple Modernities geht davon aus, dass sowohl unterschiedliche Modernisierungsbedingungen entstanden sind, aber es auch in Zusammenhang mit der modernen Gesellschaft zu vergleichbaren Problemen gekommen ist, zum Beispiel den Folgen der Urbanisierung und Industrialisierung. Die Folgerung aus dem Forschungsprogramm läuft darauf hinaus, dass die Leitunterscheidung zwischen „Kontinuität und Diskontinuität“, „Tradition und Moderne“ sowie „traditionaler und moderner Gesellschaft“ der auf Max Weber zurückgehenden Modernisierungstheorie zu korrigieren ist. Die Korrektur geht dahin, dass diese Unterscheidungen selbst auf die Selbstbeschreibung der westlichen Modernisierung zurückgehen. [4]
Die Modernisierungsdynamik entsteht im Spannungsfeld der Erwartungserwartungen zwischen „Idee“ und „Wirklichkeit“. Das wird am Programm der Moderne und seinen sieben Merkmalen deutlich: [5]
(1) Vorstellung der kosmologischen und sozialen Ordnung (orthodox versus heterodox),
(2) Form der Institutionen (Erfahrungen und Umgang mit dem Fremden),
(3) Innere Spannungen, Dynamiken und Widersprüche in der Gesellschaft,
(4) Einordnung in das internationale System,
(5) Konfrontation zwischen politischen und wirtschaftlichen Zentren,
(6) Hegemonie in den internationalen Systemen (ökonomische, politische, technische und kulturelle Veränderungen) und
(7) Interpretation des Programms der Moderne durch Zentren und Eliten.
Unter der Voraussetzung von Globalisierung ermöglicht der Ansatz zu Multiple Modernities eine soziologische Beschreibung der Prozesse, die zu Gemeinsamkeiten und unterschiedlichen Entwicklungen führen. Für ein Verständnis dieses Ansatzes ist es dienlich, auf die Werkgeschichte von Eisenstadt zurückzugehen und sich seiner soziologischen Fragestellung zu widmen, die zu dem Multiple-ModernitiesForschungsprogramm geführt haben.
Ausgehend vom Austauschmodell und ökonomischen Konflikttheorien geht Eisenstadt der Untersuchungsfrage nach, was verschiedene Organisationen von sozialen Ordnungen erzwingt. In diesem Zusammenhang wendet er sich der Untersuchung des Charismas und dem politischen Zentrum zu. [6] Die Analyse von dem Medienaustausch zwischen Geld, Macht und Prestige, die Struktur des Austauschprozesses führen ihn dazu, die Patron-Klient-Beziehung zu untersuchen. Eine Abstrahierung dieses Untersuchungsgegenstands ermöglicht es, das Verhältnis von Macht, der Konstruktion von Solidarität (Vertrauen) und Bedeutung zu erkennen. Von dort aus kommt der Verbindung zwischen Kreativität (Handeln) und Struktur, der Beziehung zwischen Struktur und Geschichte sowie der Funktion von Kultur für die Veränderung bzw. Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung und schließlich der Interpenetration zwischen Sozialstrukturen und Kultur eine besondere Relevanz zu. [7]
Die Untersuchung der Zentrums-Peripherie-Differenzierungen stellt die theoretische Verbindung zwischen Kreativität (Handeln) und Struktur der kosmologischen Ordnung, der Beziehung zwischen Kulturen und Sozialstrukturen sowie das Problem der sozialen Ordnung und Institutionenbildung sowie der konstruktiven und destruktiven Bestandteile her. In Abgrenzung zu den individualistischen Austauschmodellen, zum Beispiel von Blau, setzt Eisenstadt in seiner Analyse der PatronKlient-Beziehung auf eine Umstellung dieser Analyseebene auf die vergleichende Institutionsanalyse, welche die interpersonalen Beziehungen, Quasi-Gruppen, Netzwerke und Machtverhältnisse für die soziologische Analyse betont.
Die gesellschaftliche Modernisierung als Form eines sozio-strukturellen Wandels führt zu einem fortlaufenden Umbau komplexer Gesellschaften, ohne einen Endzustand zu erreichen. Für den Verlauf des Umbaus und seine strukturellen Folgen sind die sozialen strukturellen Vorbedingungen, die Sozialkonstruktion, die Formierung der Eliten und Gegen-Eliten, die neugefassten Mitgliedschaftsbedingungen und deren Grenzsetzung, askriptive Solidaritäten und die Selbstbeschreibung der kollektiven Identität zu berücksichtigen.
Das Programm der Moderne als eine Zusammenführung und Differenz von Modernisierung unter deren unterschiedlichen Verläufen umfasst den Bezug zur Welt – insbesondere geht das auf die Orientierungen von Trägerschichten zurück – und ihre Veränderung. Das betrifft die vorliegenden Institutionen, aus denen die Veränderungen hervorgehen, die Formen der gesellschaftlichen Kommunikation mit ihrer Integration und ihren Anomalien, die Beziehung zwischen dem Wirtschafts- und dem politischen System aber auch die Interdependenz zum internationalen System mit ihren hegemonialen Zentren im politischen – und Wirtschaftssystem sowie den kulturellen und technischen Veränderungen.
Die Modernisierung als eine sozio-strukturelle Evolution reinterpretiert die Mitgliedschaftsbedingungen in Bezug auf die Disposition von freien Ressourcen über soziale Trägerschichten und ihre Institutionalisierungen, zum Beispiel die soziale Stratifikation durch das Verwandtschaftssystem oder auch durch die InklusionsExklusionsordnung in funktional differenzierten Gesellschaften. Die Position der Basiseliten in der Sozialstruktur und die Organisation der Arbeitsteilung führen die Inklusions-Exklusionsordnung herbei. Das bedeutet zusammengefasst, dass die Reinterpretation und die Institutionalisierung von Mitgliedschaften zu einem Kampf um die Ressourcenverteilung und auch zu einer neuen Inklusions-Exklusionsordnung führen.
- [1] Eisenstadt, Shmuel N. „Social Change, Differentiation, and Evolution,“ in Power, Trust, and Meaning. Essays in Sociological Theory and Analysis. Chicago: Chicago UP, 1995, 117–8.
- [2] Eisenstadt, Shmuel N. „Die institutionelle Ordnung der Moderne. Die Vielfalt der Moderne aus einer Weberianischen Perspektive,“ in Theorie der Moderne. Soziologische Essays. Wiesbaden: Springer VS 2006, 141–165, 141.
- [3] Preyer, Gerhard. Soziologische Theorie der Gegenwartsgesellschaft (3 Bd.). Mitgliedschaftstheoretische Untersuchung I. Wiesbaden: VS Verlag, 2006, 148–9.
- [4] „From the early and, especially, the mid sixties, the momentum of research as well as the development on the world scene gave rise to far-reaching criticisms of these assumptions. These criticisms arose from a variety of vantage points, and they touched not only on the problems of development and modernization, but also on some very central questions of sociological analysis. Behind much of the debate there also loomed political and ideological differences, sometimes forcefully expressed. The two major foci of these criticisms were the alleged a historicity and Europocentricity of this initial model of modernization, and the closely connected doubts about the validity of the tradition-modernity dichotomy.”, Eisenstadt, Shmuel N. „Alternative ways of modernisation: comparison of individual societies as nation states in 19th and 20th century Western societies,“ in Joachim Matthes und Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) (Hrsg.). Sozialer Wandel in Westeuropa: Verhandlungen des 19. Deutschen Soziologentages in Berlin 1979. Frankfurt a. M.: Campus Verlag, 1979, 390.
- [5] Eisenstadt, Shmuel N. „Die institutionellen Ordnungen der Moderne“, in Theorie der Moderne. Soziologische Essays. Wiesbaden 2006, 141–65, 155f.
- [6] Eisenstadt, Shmuel N. „Charisma and Institution Building: Max Weber and Modern Sociology,“ in Power, Trust and Meaning. Chicago: UP Chicago, 1995, 167–201.
- [7] Preyer, Gerhard. Zur Aktualität von Shmuel N. Eisenstadt. Einleitung in sein Werk. Wiesbaden: Springer VS, 2011, 22–44.