Chinas Modernisierung

Die chinesische Gesellschaft und auch ihr Veränderungsverlauf bleibt für viele westliche Betrachtungen ein Rätsel, da die Erwartungen und aufgestellten Prognosen durch wissenschaftliche Theorien, sei es zur Transformation oder Modernisierung, sich nicht erfüllt haben. [1] Das politische System ist trotz weitgehender Veränderungen im Wirtschaftssystem und anderen gesellschaftlichen Teilbereichen stabil geblieben, das Wirtschaftssystem konnte seine Marktmodernisierung und Deregulierung weiter fortsetzen. Ferner hat es seine hohe Veränderungsgeschwindigkeit beigehalten. Es kam nicht zu politischen Bewegungen, die das politische Zentrum zu verändern versuchten. Auch das Rechtssystem hat sich nicht nach westlichem Muster gestaltet. Die chinesische Gesellschaft hat sich modernisiert und ist dabei einen eigenen Pfad gegangen. Worin dieser Pfad besteht und welche strukturellen Gegebenheiten dazu geführt haben, dass dieser Pfad entstand, wird in der Untersuchung dargestellt. Dazu werden die Strukturen, Prozesse und Wechselwirkungen, die zu diesem Verlauf der Modernisierung geführt haben, vorgestellt und analysiert. Der Begriff moderne Gesellschaft ist von den bloßen Institutionen und den daraus entstehenden Perspektiven abzulösen. Vielmehr ist eine tiefer gehende Analyse vorzunehmen, die untersucht, wie komplexe Gesellschaft aufgebaut sind. Dabei ist auf die unterschiedlichen Ordnungsstrukturen, die verschiedenen Modelle sozialer Integration und den Aufbau der Teilsysteme einzugehen. [2] In China erfolgte mit der Modernisierung keine Umgestaltung der gesellschaftlichen Teilsysteme derart, dass ein modernes Rechtssystem, ein demokratisch verfasstes politisches System oder ein nach westlichem Vorbild verfasstes Wissenschaftssystem entstanden. Um das etwas genauer nachzuzeichnen, ist auf die gesellschaftlichen Teilsysteme Wirtschaft, politisches System und Rechtssystem einzugehen und ihre typischen Merkmale sinddarzustellen.

In der sozialwissenschaftlichen Forschung herrscht Einigkeit darüber, dass die chinesische Modernisierung, insbesondere des Wirtschaftssystems, nicht nach westlichem Muster bzw. alten Modernisierungstheorien verlaufen ist. Über die Erklärung der Veränderungen liegen unterschiedliche Ansätze und Begründungen vor.

Ist die chinesische Gesellschaft eine moderne Gesellschaft und was zeichnet demnach eine modernisierte chinesische Gesellschaft aus? Liegt in der chinesischen Gesellschaft ein modernes Wirtschafts-, Rechts-, Wissenschaftsschaftsystem vor, das auf Bürgerechten (civil rights), einer parlamentarischen Demokratie und einem inklusionsoffenen Wirtschaftssystem mit einem freien Verkehr von Gütern und Eigentum beruht? [3] Bei enger Betrachtung fällt die Antwort in Bezug auf die chinesische Gesellschaft deutlich aus: Nein, in der Summe liegen alle diese Institutionen nicht vor. Ein parlamentarisches System mit Gewaltenteilung zwischen der Legislative, der Exekutive und der Judikative oder auch freie und allgemeine Rechte, die einen uneingeschränkten Diskurs in allen Teilbereichen der Gesellschaft ermöglichen, liegen nicht vor. Es gehört mittlerweile zur allgemeinen Einsicht in der Soziologie, dass die Modernisierung Chinas nicht nach dem westlichen Muster und seinen Problemlösungen verläuft.

Von ihrem komplexen Aufbau her entspricht die chinesische Gesellschaft einer modernen Gesellschaft. Die Lösung für diesen Widerspruch betrifft vor allem zwei Punkte. Zum einen ist zu untersuchen, welche funktionalen Äquivalente und Gesellschaftsstrukturen für den komplexen Aufbau der chinesischen Gesellschaft charakteristisch sind. Zum anderen ist zu beschreiben, wie die Modernisierung aufgrund der unterschiedlichen Strukturen zu dieser Gesellschaftsordnung geführt hat. Die Beschreibung der Modernisierung betrifft die Beobachtung der politischen, wirtschaftlichen, rechtlichen, kulturellen Integration und die Trennung und Verbindung von gesellschaftlichen Teilbereichen vor dem Hintergrund der Sozialkonstruktion. Durch die Modernisierung und damit den Auf- und Ausbau der Funktionssysteme kommen weitere Strukturelemente hinzu. Das Wirtschaftssystem ist inklusiv und ordnet sich über den Markt. Der Zugang zum politischen System ist ebenfalls inklusiv und strukturiert sich über die Macht. Das Rechtssystem ordnet sich über den Zugriff auf die Erwartungserwartungen durch die Rechtssetzung. Um die Modernisierung und damit die moderne chinesische Gesellschaft angemessen zu verstehen, ist der Aufbau und das Zusammenspiel zwischen den Funktionssystemen untereinander und die Verbindung zwischen Funktionssystemen und sozialen Netzwerken zu beschreiben. Dieses Verständnis ist dahingehend aufzubauen, um zu erkennen, dass die Funktionssysteme über ihre verallgemeinerten Kommunikationsmedien wie Macht, Geld, Recht, Argumente und Gefühl gebildet werden und sich strukturieren. [4] Die Funktionssysteme sind strukturell inklusiv. Um ihren Erhalt und ihre Stabilität zu gewährleisten, benötigen sie Diskriminierungsfunktionen; das sind formale Organisationen, die über die Anforderungen an die Teilnahme an den Funktionssystemen entscheiden. Diese formalen Organisationen schreiben die Mitgliedschaftsbedingungen formal fest und entscheiden über die Mitgliedschaft und Nichtmitgliedschaft, d. h. sie führen einen systemtypischen Selektionsprozess durch. Es wird zu zeigen sein, wie sich diese Modernisierungsaspekte auf die Funktionssysteme auswirken, welche Verbindungen daraus zwischen den Funktionsbereichen entstehen und welchem Aufbau sie damit folgen. Daran wird der Veränderungspfad der chinesischen Gesellschaft beobachtbar und weist seinen ihm eigentümlichen Verlauf auf. Die Modernisierung der chinesischen Gesellschaft wurde durch die Öffnung des Wirtschaftssystems durch das politische System ausgelöst. Die chinesische Modernisierung kristallisiert sich an zwei Punkten: Es kommt zum einen zur Konstruktion von Differenz und Einheit, die sich an der unterschiedlichen Grenzziehungen der Solidarität beobachten lässt, und zum anderen tritt die Veränderung durch Anpassung und Zusammensetzung aus Altem und Neuem (Hybridisierung) ein. Das erste Kapitel resystematisiert die Chinaforschung im Hinblick auf die Modernisierung der chinesischen Gesellschaft. Das leitet zu der Darstellung dieses besonderen Modernisierungspfads im zweiten Kapitel über. Die Öffnung des chinesischen Wirtschaftssystems hat für den chinesischen Strukturwandel eine herausgehobene Relevanz. Das dritte Kapitel stellt die Untersuchung der Systematisierung des Teilsystems Wirtschaft vor. Das betrifft insbesondere die Initialisierung und die Form der Veränderung (gradueller Wandel), die Öffnung und Restabilisierung (Liberalisierung), die Verbindung zum globalen Wirtschaftssystem (Glokalisierung) und die Ordnungsbildung (Netzwerke und Hybridisierung). Die kollektive Zielgestaltung in der chinesischen Gesellschaft folgt keinem demokratischen Muster westlicher Prägung.

Das vierte Kapitel stellt die Ordnungsvorstellungen und die Herleitung von kollektiven Zielen im politischen System dar. Unter der Voraussetzung der Modernisierungstheorie und damit insbesondere der Funktion des politischen Systems für die Ausgestaltung einer modernen Gesellschaft wird der Frage nach der formellen und informellen Gestaltung von Einfluss nachgegangen. Daran schließt sich die Resystematisierung der politischen Eliten insbesondere durch die Veränderungen der Modernisierung an. Das ist insofern von zentraler Bedeutung, da der Eliteerhalt nicht demokratisch verfasster und wechselnder Mitgliedschaften im Widerspruch zu klassischen Modernisierungstheorien und dem institutionellen Ansatz einer Globalen Moderne stehen. Im fünften Kapitel folgt die Untersuchung des chinesischen Wissenschaftssystems. Das betrifft den selektiven Zugang zu wissen, die Innovationsgenerierung durch Anpassung und die Entwertung von Wissen. In der chinesischen Gesellschaft liegt im Unterschied zu westlichen Gesellschaften eine andere Form der Konfliktverarbeitung vor. Das sechste Kapitel resystematisiert das chinesische Rechtssystem im Hinblick auf diese Konfliktlösungen, die Fragen der Institutionalisierung und des Rechtsverständnisses.

Die Teilbereiche Wissenschaft und Recht der chinesischen Gesellschaft sind in besonderer Art vom politischen und Wirtschaftssystem beeinflusst. Diesen Zusammenhang zwischen den Teilsystemen stützt die Unterscheidung zwischen analytischen und empirischen Funktionssystemen und verdeutlicht darüber hinaus ein besonderes Muster im strukturellen Aufbau zwischen den Teilsystemen, die in westlichen Gesellschaften in der Art nicht vorliegt. Charakteristisch für das Wissenschaftssystem ist die Orientierung an die Vergangenheit. Das Rechtssystem in der chinesischen Gesellschaft behält traditionale Bestandteile der Konfliktverarbeitung und verbindet diese mit der kontinentaleuropäischen sowie mittelamerikanischen Rechtstradition und grenzt sich insbesondere durch die Nicht-Verrechtlichung seiner Sozialordnung von westlichen Rechtstraditionen ab.

  • [1] „What makes China's transformation all the more remarkable is that it is taking place under the unbroken leadership of the Chinese Communist Party (CCP) and with only limited reforms of its Leninist political system. [..] It also prompts us to rethink our ideas about how society is ordered and reordered during processes of rapid modernization that give rise to new social hierarchies.“, Alpermann, Björn. „Class, Citizenship and Individualization in China's Modernization,“ ProtoSociology Vol 28 China's Modernization I, 2011, 7.
  • [2] Nederveen Pieterse, Jan. „Multipolarity means Thinking plural: Modernities,“ ProtoSociology Vol 26 Modernization in Times of Globalization I, 2009, 19–35.
  • [3] Zu den Institutionen, die die westliche Modernisierung hervorgebracht hat, siehe Münch, Richard. Dynamik der Kommunikationsgesellschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1995.
  • [4] Preyer, Gerhard. „III. Die Medien der gesellschaftlichen Mitgliedschaft und Kommunikation,“ In Soziologische Theorie der Gegenwartsgesellschaft (3 Bd.). Mitgliedschaft und Evolution III. Wiesbaden: Springer VS, 2008, 127–257.
 
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