Chinas Modernisierungspfad

Die chinesische Gesellschaft als eine moderne Gesellschaft nach ihrer Modernisierung zeigt Abweichungen von früheren Modernisierungen hinsichtlich der Verbindung zwischen den Funktionssystemen. Ein großer Teil der Modernisierung wurde durch endogene Faktoren ausgelöst und befördert. Dazu gehören in erster Linie die Öffnung des Wirtschaftssystems (Zulassung von Marktpreisen, Selbstorganisation, Zulassung von neuen Unternehmensformen sowie Zulassung und Förderung von ausländischen Investoren), aber auch der Wegfall der Übersteuerung des politischen Systems. Das ermöglichte neue Formen von formalen Organisationen, die in ihrer Ausgestaltung des Aufbaus und der Ablaufgestaltung mehr Handlungsfreiraum erhielten. Die Mitgliedschaftsbedingungen des Wirtschaftssystems wurden dahingehend verändert, dass die Mitgliedschaft vor allem in Staatsbetrieben flexibilisiert wurde und damit das System der dauerhaften Beschäftigung abgelöst wurde.

Für die chinesische Gesellschaft ist es kennzeichnend, dass die Funktionssysteme eine Eigenlogik aufgebaut haben, dass aber zugleich starke Wechselwirkungen – Symbiosen – zu anderen Funktionssystemen bestehen. Obwohl das politische System sich von einer kommunistischen Übersteuerung gelöst hat und den eigentlichen Aufbau des Wirtschaftssystems ermöglichte, gibt es starke Dependenz zwischen diesen beiden Funktionssystemen. Mit der Modernisierung der chinesischen Gesellschaft entstand eine Doppelelite, die sehr eng miteinander verknüpft ist. Diese Verknüpfung zeigt sich in der gegenseitigen Abhängigkeit. Erstaunlich ist, dass das politische Zentrum seine Monopolstellung insofern verloren hat, dass Macht und Geld nicht mehr direkt miteinander gekoppelt sind, sondern über die Kopplung der sozialen Netzwerke erfolgt. Diese Kopplung mag zwar individuell ausfallen, aber durch die Kommunikation und Bildungserfordernisse bleibt sie sehr effektiv. Ähnlich verhält es sich mit dem Wirtschaftssystem und dem politischen System, da Absprachen und Kombinationen notwendig sind, wenn es zum Beispiel um die Einstufung und Vergabe neuer Forschungsgelder handelt.

Das chinesische Modernisierungsprogramm folgt keinem Ideal oder einer utopischen Ordnung, wie sie noch von der marxistisch konnotierten Idealvorstellung des Maoismus nach einer Gleichheit der Gesellschaft der Trägerschicht, der Bauern und der Arbeiterschicht formuliert wurde. Das Ziel dieser Gemeinschaftsvorstellung war es, die bestehende Ordnung zu sichern, und die Etablierung einer nationalstaatlichen Identität, unter der sich die Chinesen vereinen. Es waren die Veränderungen seit den 1990er Jahren, die auf die revolutionären Erfahrungen in der chinesischen Gesellschaft durch die Kulturrevolution von 1966 bis 1976 zurückgreifen und auch zugleich deren Folgen als Erfahrungswert mit einbeziehen konnten. Die Kulturrevolution führte zur institutionellen Blockade derart, dass sie in dieser Zeit nicht mehr fortbestehen konnten. Mit der Modernisierung seit den 1990er Jahren galt es, keine utopische Vision zu verwirklichen, sondern aus den bestehenden Möglichkeiten Anschlüsse zu realisieren, Wachstum zu schaffen und den Lebensstandard zu steigern. Das vollzog sich ohne eine religiöse, ideologische oder politische Orientierung. Sie greift dabei nicht auf ein Pflichtethos oder philosophische Orientierungen zurück.

Der westliche Modernisierungspfad im Gegensatz zum chinesischen Pfad beinhaltet eine Generalisierung der Kommunikationsmedien und eine funktionale Differenzierung mit bestimmten Interpenetrationszonen zwischen dem politischen, wirtschaftlichen, rechtlichen und gemeinschaftlichen System. Ein Zentrum, das andere Funktionssysteme dominiert, gibt es inwestlichen Gesellschaften nicht. Die Solidarität zwischen Personen ist im Wohlfahrtsstaat institutionalisiert worden. Auch wenn es unterschiedliche Wohlfahrtssysteme in westlichen Gesellschaften gibt, so gibt es doch eine Generalisierung von Solidarität. Der westliche Modernisierungspfad ist im Gegensatz zur chinesischen Modernisierung durch eine Differenzierung von kollektiven Identitäten und eine Generalisierung der kognitiven Rationalitätsstandards, die eine bestimmte Tradition bilden, aber sie nicht rechtfertigen, gekennzeichnet. Es ist ein Programm der Naturalisierung des Menschen und der Privatisierung des Menschen gegenüber Gott (Renaissance-Humanismus).

Aus der heutigen Sicht und der westlichen Beobachtungen werden Probleme, die in China vorlagen, oft unzureichend erfasst und entsprechend eingeordnet. Um die Veränderung in der chinesischen Gesellschaft zu beobachten und damit auch einen Ausblick auf ihre Entwicklung zu geben, sind die internen Problembezüge herauszuarbeiten und ihre eingeschlagenen Lösungswege und Lösungsansätze zu benennen. Vor diesem Hintergrund mag die weitere Öffnung des chinesischen Wirtschaftssystems auch als riskanter Schritt erscheinen, da seine Entwicklung und die Gewalt seiner Umgestaltung nicht prognostizierbar waren und vor allem auch von westlichen Wissenschaftlern bezweifelt oder anders eingeschätzt wurden. Hervorzuheben ist an dieser Stelle, dass der von westlichen Havard-Professoren entwickelte und zum Beispiel in Russland vollzogene Big-Bang-Ansatz der Modernisierung nicht zu signifikant besseren Ergebnissen und Strukturen führte. Die Entwicklung des Big-BangAnsatzes der Umstellung auf eine Marktordnung in einem zeitlich kurzen Abstand erfolgte als Konsequenz der Vorstellung, dass die sozialistische Planwirtschaft und die Marktordnung nicht parallel im selben Wirtschaftssystem operieren können. Den Gegenbeweis trat China an.

 
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