Gradueller Wandel ohne Utopie

Die graduelle Einführung von Wirtschaftsreformen und auch das Ausprobieren von verschiedenen Modellversuchen stehen in diesem Bezugsrahmen. Das darin beinhaltete Vorgehen orientiert sich an einem Situationsbezug und wandelt die Maßnahmen, abgestimmt auf die unterschiedlichen Einflussgrößen, ab. Diese Vorgehensweise mag von außen als pragmatischer Vorgang gesehen werden, da er keinem ideologischen Konzept zu folgen vermag. Daran wird auch ein weiterer Punkt der Modernisierung Chinas im Unterschied zu westlichen Modernisierungen deutlich. Trotz der Blütezeit wissenschaftlicher Erkenntnisse in der chinesischen Gesellschaft im 14. und 15. Jahrhundert hat es in China keine Rationalisierung der Wissenschaft gegeben, die eine enge Verknüpfung zwischen der Theoriekonstruktion und empirischen Beweisverfahren herstellt. [1] Die Integration und Abgrenzung findet in der chinesischen Gesellschaft über eine Status-Prestigeordnung statt. Diese Form des Integrationsmechanismus wurde auch durch die Modernisierung der chinesischen Gesellschaft nicht verändert.

Der besondere Weg der wirtschaftlichen Modernisierung Chinas besteht in der Umgestaltung des Wirtschaftssystems und gleichzeitig der Beibehaltung des politischen Zentrums und seiner Strukturen. Die graduellen und modellhaften Reformen erwiesen sich auch bei allen Nachteilen, die sie hervorgebracht haben, als erfolgreicher, im Vergleich zu anderen postkommunistischen und postsozialistischen Gesellschaften in Zentralasien oder Osteuropa. Durch die Liberalisierung findet eine sachliche Umgestaltung zu den westlichen Institutionsmustern statt, die durch den graduellen Verlauf zum einen Stabilität und zum anderen Innovation miteinander vereinen kann. Für den eigenen Modernisierungspfad der chinesischen Gesellschaft werden die strukturellen Voraussetzungen und damit insbesondere die Verbindung zwischen dem Wirtschafts- und dem politischen System und die Hinterlassenschaft patrimonialer sozialer Netzwerkstrukturen genannt. Chancen und Gefahren für den weiteren gesellschaftlichen Wandel in China bestehen darin, inwiefern diese Abhängigkeiten und Hinterlassenschaften aufgelöst und eine funktionale Marktorientierung, Effektivität, Effizienz und Rationalität geschaffen werden können. Über das Ausmaß und die Zukunftschancen der chinesischen Gesellschaft, insbesondere des chinesischen Wirtschaftssystems im globalen Wirtschaftssystem, herrscht Uneinigkeit darüber, inwiefern die Abhängigkeit zum politischen System zum Beispiel durch eine Rechtsentwicklung und den marktorientierten Rationalismus und seine Institutionen in der chinesischen Gesellschaft selbst schon aufgebaut sind und zur Veränderung geführt haben. [2]

Die stufenweise Modernisierung des Wirtschaftssystems, die die chinesische Gesellschaft kennzeichnet, führt zu anderen Anschlussbedingungen als die Big-BangTransformation der ehemaligen Ostblockstaaten in Europa, die darin bestehen, dass der Anschluss nicht strategisch oder planifikatorisch angesteuert werden kann, sondern situativ anzusteuern ist. Dazu bedarf es in einer hohen Sensibilität für die Situationsbeobachtung und die nötige Variabilität, die auf die jeweiligen Bedingungen einzustellen ist. Darüber hinaus verlangt es eine Bezugnahme auf die Konstruktion der Erwartungserwartungen, die über Vorwissen verfügt und ein intuitives Reagieren erlaubt. Diese Bedingungen sind ein Selektionskriterium zum Ausschluss, der Suche nach einem Neuanschluss und der Umgestaltung. Für formale Organisationen ist die Anschlussbildung eine Herausforderung, da sie die Beobachtung und die Verarbeitung der Beobachtung fortlaufend zu variieren haben. Es handelt sich demnach um einen permanenten Zustand der Unsicherheit, der neue Chancen und Risiken beinhaltet. Unter diesen Voraussetzungen gelang gerade durch die Kopplung mit dem politischen System und der in ihm angelegten Förderung des Wirtschaftssystems die Stabilisierung der Erwartungserwartungen, sodass es zu keinem radikalen Bruch kam. Insofern sind die Bruchlinien robuster und weniger dramatisch.

Der Beginn der wirtschaftlichen Modernisierung der chinesischen Gesellschaft seit Anfang der 1990er Jahre hatte eine interne und eine externe Voraussetzung, die darin bestanden, dass das politische Zentrum die politische Transformation und Eliteumschichtung in den ehemaligen Sowjetrepubliken und auch in Osteuropa beobachtete, sowie zugleich auch eine interne Sicht, die Vorstufe der Liberalisierung, ihre Folgen für die Gesellschaftsstruktur, gekennzeichnet war. Das betrifft die planwirtschaftliche Übersteuerung, die Rollenvorstellungen, die maoistischen Modernisierungsansätze und die darin verankerte Institutionalisierung der solidarischen Ordnung in Danwei. [3]

Die chinesische Wirtschaft hat sich von einer Agrarzu einer modernen Technologieindustrie und von einer Planzu einer Marktwirtschaft gewandelt. Aber das Entscheidende daran ist, dass das politische System diese revolutionäre Veränderung nicht nur geduldet, sondern unterstützt hat. Es ermöglichte einen eigenen Systemaufbau, der auf regionale Bedürfnisse und Anforderungen reagiert. Das bedeutet insofern eine große Veränderung, da nicht mehr wie zu Zeiten Maos eine Übersteuerung durch das politische System als Lösungsprinzip angenommen wurde. Das politische Zentrum übergibt Autonomie zu den lokalen Behörden. Dabei wird den Organisationen ermöglicht, eine Reallokation der Ressourcen vorzunehmen und in den Wettbewerb mit anderen Regionen und Ideen einzutreten. [4] Im Versuchs- und Irrtumsverfahren wettstreiten Regionen, Ideen und Unternehmer um die besseren Zukunftschancen. Das Wirtschaftssystem kann als ein Flickenteppich beschrieben werden, der aus unterschiedlichen Industrien unterschiedlicher Regionen besteht, die um neue Wettbewerbschancen und Investitionen konkurrieren. Das ist kein einheitliches oder planifikatorisches Programm. Die wirtschaftlichen Veränderungen, ausgelöst vom politischen System seit dem Beginn der 1990er Jahre, sind als Transitionsprozess beschrieben worden oder als Dualtransistorenprozess. [5] Dieser Prozess beinhaltet den gleichzeitigen Wechsel von einer Agrarzur Industriewirtschaft und von einer Planzur Marktwirtschaft. Der Wechsel von einer Planzu einer Marktwirtschaft wurde in der chinesischen Gesellschaft durch einen Mechanismus von plan- und marktwirtschaftlichen Preisen parallel herbeigeführt. Damit behielt das politische Zentrum die Kontrolle über den Finanzsektor und Investitionen.

Das chinesische Wirtschaftssystem hat sich von einem agrarzu einem industriegeprägten Wirtschaftssystem gewandelt. Das Charakteristische für diese strukturelle Veränderung ist, dass sie vom politischen System und den darin verankerten Trägerschichten als eine Modernisierung von oben initiiert wurde. Durch die Generalisierung des Kommunikationsmediums „Geld“ und neuer Mitgliedschaftsbedingungen, die die Selektion der Teilnahme an dem Funktionssystem begrenzten, wurde eine neue Struktur geschaffen. Damit war es möglich, dass das Wirtschaftssystem sich selbst restrukturierte. Das Kommunikationsmedium Geld löste einen Einfluss auf diese Veränderung aus. Es wird oft argumentiert, dass die funktionale Differenzierung und die Institutionenbildung in der chinesischen Gesellschaft dem westlichen Modernisierungspfad folgen. Diese Annahme verdeckt aber die strukturellen Verbindungen zwischen den Funktionssystemen, die in der chinesischen Gesellschaft bestehen.

Die unterschiedliche Veränderungsrichtung und Veränderungsgeschwindigkeit führten in China zu einer Binnenkonkurrenz und damit zu Wettbewerb um neue Ideen zu Investitionsförderungen, der Schaffung neuer Absatzmärkte und wirtschaftlichen Ausrichtungen. Dabei entstanden Regionen mit unterschiedlichen Branchen- und Produktionsschwerpunkten. Die regionale Nähe von ähnlichen Herstellern nutzen die Synergien in der Herstellung, Ressourcengewinnung und der Absatzgestaltung. Die so entstandene Binnenkonkurrenz wird gesellschaftspolitisch nicht ausbalanciert. Dazu bestehen auch keine Erfordernisse. Das gilt auch dann, wenn durch Infrastrukturprojekte vom politischen Zentrum und Entwicklungsprogramme zum Beispiel durch internationale Entwicklungszusammenarbeitsprojekte, wie durch die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, auch die zentralen chinesischen Provinzen und die Westprovinzen an den Veränderungsverlauf angeschlossen werden sollen. Diese Maßnahmen dienen der Intensivierung neuer Veränderungsimpulse, ohne einem gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsplan zu folgen. Das ist auch ein Beleg dafür, dass das Wirtschaftssystem nicht in seinem Aufbau oder in seiner Veränderung vom politischen System übersteuert wird.

Der fortlaufende Umbau, das heißt, eine hohe Dynamik des Wirtschaftssystems, ist für die chinesische Gesellschaft charakteristisch. Diese hohe Dynamik besteht nicht nur in dem seit Jahren anhaltend hohen Wachstum des Bruttoinlandsproduktes, sondern auch im fortlaufenden Wandel der sozialen Netzwerke, Ideen und Organisationsformen. Außerdem ergab sich durch die regionale Öffnung und die unterschiedlichen Experimentierfelder eine Konkurrenzsituation zwischen den chinesischen Regionen. Am stärksten profitiert das Perlflussdelta im Süden Chinas von der wirtschaftlichen Öffnung. Die Schwerindustrie im Nordosten Chinas, die einst die wirtschaftliche Bedeutung Chinas unter Mao Zedong formulieren sollte, wurde durch den Umbau stark in Mitleidenschaft gezogen. Die Staatsbetriebe waren technisch und organisational unrentabel und mussten sukzessiv umgebaut oder geschlossen werden. Regionen, die weit von Küste in Zentraloder Westchina lagen, waren von den ausländischen Investitionen und den neuen Märkten weitgehend abgeschnitten. Diese Regionen waren landwirtschaftlich geprägt, konnten wenige Ressourcen zusammenlegen und nur schwer in den Markt eintreten. Viele Bauern verließen als Wanderarbeiter diese Gebiete, um in den Städten mehr Einnahmen zu generieren.

Das Bemerkenswerte an den gesellschaftlichen Veränderungen in der chinesischen Gesellschaft ist ihre hohe Veränderungsdynamik bei einer gleichzeitig hohen Stabilität. Durch die Entkollektivierung der Landwirtschaft wurden neue Wirtschaftsformen in der Landwirtschaft eingeführt und genutzt, die zu einem zusätzlichen Markt an Lebensmitteln und einer Steigerung der Versorgungsqualität geführt haben. Mit der Privatisierung der State-owned Enterprises gelang es, die Produktionsprozesse zu optimieren und weitere Produktionskapazitäten zu schaffen. Der Wegfall der reinen Planpreise und die Einführung des parallelen Marktpreises ermöglichten die Produktivitätssteigerung, die Ausweitung der Produktportfolios und neue Karrieren in Unternehmen. [6]

Die Voraussetzung für eine fortlaufende Modernisierung des Wirtschaftssystems waren die Herstellung einer selbstregulierenden Ordnung, die nicht von anderen Funktionssystemen übersteuert wurde. Sie leitete Innovationen ein und führte zu einer Stabilisierung. Dazu bedarf es einer Planungsstabilität und des Aufbaus von Erwartungserwartungen. Diese Planungsstabilität wird durch ein kalkulierbares System von Erwartungen und Erwartungserwartungen geschaffen. Zu Stabilisierung eines Systems bedarf es bei einer Öffnung auch zugleich einer Schließung. Die Schließung erfolgt durch die Ausbildung einer Systemgrenze. Die Grenzausbildung bzw. die Grenzerhaltung des chinesischen Wirtschaftssystems erfolgte durch eine Grenzverschiebung bzw. eine teilweise Öffnung der Grenze. Die Einführung von Marktpreisen, die den Aufbau eines Marktes und Submärkte ermöglichen und zugleich die Ausbildung einer Marktorientierung gestatten, wurde parallel zu den bestehen gebliebenen Staatspreisen vorgenommen. Durch weitere Deregulierung wurde damit ein Markt zusätzlich zu dem bestehenden Versorgungs- und Ressourcenumschlagssystem geschaffen. Die Schließung bestand darin, dass die Grundversorgung sicherzustellen war, die über den staatlichen Preis erfolgte. Ähnlich wurde auf der sozialen Dimension hinsichtlich des Teilnehmerkreises verfahren. Den Zugang zum Wirtschaftssystem und zu dem zusätzlichen Marktsystem erhielten in der ersten Stufe die bisherigen Mitglieder am Wirtschaftssystem sowie halbstaatliche und halbausländische Unternehmen. Die Grenze bilden somit die formalen Organisationen. Später wurden kleine Einzelprivatunternehmen erlaubt. Die Grenzziehung wurde geografisch durch Sonderwirtschaftszonen gezogen, die weite Teile des Landes außen vor ließen. Die sachliche Grenzziehung erfolgt durch branchenspezifische Zulassung und Ausschluss. Der Finanz- und Versicherungssektor sind noch immer vor ausländischen Investitionen geschützt und ein Marktaufbau fand noch nicht statt.

Das chinesische Wirtschaftssystem führte eine Selbststrukturierung ein, bei der die Privatunternehmen und Kollektivunternehmen die Reorganisation derart imitierten, dass sie die staatseigenen Betriebe unter Wettbewerbsdruck setzten. Damit fand innerhalb des Wirtschaftssystems in der chinesischen Gesellschaft eine Grenzverschiebung durch den neuen Grenzbildungsprozess von formalen Organisationen statt. Für das chinesische Wirtschaftssystem lassen sich vier Organisationsformen unterscheiden: staatseigene Unternehmen, städtische Kollektivunternehmen (Town and Village Enterprises) und halb-, vollausländische Unternehmen. [7]

  • [1] Münch, Richard. „4.2.1 China,“ in Die Struktur der Moderne. Frankfurt a. M: Suhrkamp, 1984, 212–16.
  • [2] Doug Guthrie bewertete den chinesischen Wandel hin zu einer liberalen Wirtschaftsordnung mit Rationalentscheidungen und dem Verknüpfen zu einem modernen Rechtssystem positiv, siehe dazu Guthrie, Doug. Dragon in a Three-Piece Suit. The Emergence of Capitalism in China. Princton: Princton University Press, 1999, oder auch Guthrie, Doug. China and Globalization. The Social, Economic, and Political Transformation of Chinese Society. New York: Routledge, 2006. Ebenfalls positiv, aber deutlich von den durch die Strukturen der patrimonialen Ordnung geprägten Hinterlassenschaften geprägt, ordnet der Ökonom Barry Naughton Chinas wirtschaftliche Veränderungen in dem Maße ein, wie es ihr gelingt, die Hinterlassenschaften zu überwinden, siehe dazu Naughton, Barry. The Chinese Economy. Transition and Growth. London: The MIT Press, 2007.
  • [3] Zu den Merkmalen der ersten Veränderungsbemühungen in der Landwirtschaft, den Staatsbetrieben und dem Beginn der Öffnung zur globalen Weltwirtschaft auch vor den 1990er Jahren siehe Schüler, Margot. „Reform und Öffnung. Der chinesische Weg zur Marktwirtschaft,“ in Carsten Herrmann-Pillath und Michael Lackner (Hrsg.). Länderbericht China. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im chinesischen Kulturraum. Bonn, BPB 2000, 278–301. Im Vergleich zu anderen Gesellschaften in Greater China (Taiwan, Singapur, Hongkong) stellt Carsten Herrmann-Pillath die Charakterisierung des chinesischen Wirtschaftssystems vor seiner Modernisierung unter den ersten liberalistischen Reformen dar, Herrmann-Pillath, Carsten. „Wettbewerb der Systeme und wirtschaftliche Entwicklung im Chinesischen Kulturraum,“ in Carsten Herrmann-Pillath und Michael Lackner (Hrsg.). Länderbericht China. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im chinesischen Kulturraum. Bonn, BPB 2000, 261–77.
  • [4] Guthrie, Doug. China and Globalization. The Social, Economic, and Political Transformation of Chinese Society. New York: Routledge 2006, 45.
  • [5] Eine detaillierte Darstellung für die Öffnung zum globalen Wirtschaftssystem liefern Nee, Victor und Sonja Opper. Capitalism from below. Markets and institutional Change in China. Cambridge, Havard UP, 2012, Naughton, Barry. The Chinese Economy. Transition and growth. London: MIT Press, 2007 und Lardy, Nicholas. Integrating China into the Global Economy. Washington D.C: Brooking Inst, 2002.
  • [6] Welche Auswirkungen dieser Prozess auf die chinesische Gesellschaftsstruktur hat, geht Björn Alpermann unter der Frage nach Herstellung ‚sozialer Ungleichheit' nach, dazu Alpermann, Björn. „Soziale Schichtung und Klassenbewusstsein in Chinas autoritärer Modernisierung,“ Zeithistorische Forschungen, Heft 2: Soziale Ungleichheit im Staatssozialismus, 2013, 283–296. Er kommt zu dem Ergebnis, dass sich durch die Modernisierung eine Differenzierung der Gesellschaft ergibt, die Gewinner und Verlierer beinhaltet, die sich aber nicht zu einer kollektiven Einheit und Bewegung verbinden, die Träger von gesellschaftlichen Veränderungen sind.
  • [7] Zu den gewonnenen Handlungsspielräumen zählen: Entscheidungsfreiheit in Produktion und Operation, Preisfestlegung, Markterschließung, Materialeinsatz, Import oder Export, Investitionsentscheidungen, Einsatz der Überschüsse und Vermögen, Firmenzusammenschlüsse und –übernahmen, Personaleinsatz und Gehälter, siehe dazu Guthrie, Doug. China and Globalization. The Social, Economic, and Political Transformation of Chinese Society. New York: Routledge, 2006, 123.
 
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