Patrimoniale Netzwerke
Es besteht eine breite Dependenz in der gesellschaftlichen Kommunikation Chinas zwischen den ökonomischen, politischen, rechtlichen, wissenschaftlichen, differenzierten sozialen Systemen und ihren Elitegruppen. Ausgangspunkt von Chinas Modernisierung zu Beginn der 1990er Jahre ist die besondere Verbindung zwischen dem politischen und dem Wirtschaftssystem, die durch das maoistische Gesellschaftsmodell restrukturiert wurde und durch die Planwirtschaft gekennzeichnet war. Das Ergebnis der Modernisierung war, dass China in den vergangenen zwanzig Jahren von einem ökonomischen Schwellenland zur zweitgrößten Wirtschaft im globalen Wirtschaftssystem aufstieg. Das chinesische Wirtschaftssystem behält seine Abhängigkeiten mit dem politischen System bei. Es benötigt die Unterstützung des politischen Systems zum Beispiel für weitere Investitionen des staatlich kontrollierten Finanzsystems, für die Unterstützung bei der Gewinnung von Auslandsdirektinvestitionen und Technologietransfer sowie für die langfristigen Absicherungen von Investitionen. Auf der anderen Seite benötigt das politische System für seine Restabilisierung das fortlaufende wirtschaftliche Wachstum für die Umverteilung und den Ausgleich und einen wachsenden Lebensstandard, der seine Legitimität sichert. [1] Das chinesische Wirtschaftssystem verfügt über eine breite Interpenetration und Austausch mit dem politischen System.
Das politische Zentrum in der chinesischen Gesellschaft behielt die Kontrolle über die politischen Entscheidungsprozesse, aber es übergab ökonomische Entscheidungsprozesse nach unten zu lokalen Institutionen und Organisationen sowie Entscheidungsträgern in Unternehmen. Der Entscheidungsspielraum von Kollektivunternehmen und Staatsunternehmen, die weiterhin unter der Kontrolle des politischen Zentrums standen, wurde erweitert. [2] Chinas Wirtschaftssystem wurde nicht gegen den Einfluss des politischen Zentrums modernisiert, sondern im Gegenteil, die Modernisierung wurde von ihm ausgelöst. Die wirtschaftliche Transformation als eine Öffnung nach innen und außen wurde durch graduelle Schritte und in speziellen Modellregionen wie zum Beispiel Hainan herbeigeführt. Diese Öffnungspolitik als ein Versuchs- und Irrtumsprozess ermöglichte die situative Anpassung und die Stabilisierung des politischen Zentrums, da der Kapitalfluss auf die Modellregionen und Reformpolitik gewährleistet blieben. [3]
Die Kaderwirtschaft in der chinesischen Gesellschaft ist ein interessantes Beispiel für die Verbindung des politischen und des Wirtschaftssystems. Daran lassen sich die institutionellen Verbindungen, die Interpenetration der Funktionssysteme und das differenzierte Modernisierungsprogramm der chinesischen Wirtschaft verdeutlichen. Kaderwirtschaft bedeutet, dass die Kommunistische Partei und ihrer Verwaltung Einfluss auf den Ressourcenfluss, wie zum Beispiel Zugang zu favorisierten Krediten, Grundstücken, attraktiven Behandlungen, oder auch politische Protektion ausüben. Damit ist angesprochen, dass die Entscheidungen und Organisationen nicht rein nach der Codierung des Wirtschaftssystems durch Zahlung oder Nichtzahlung, Eigentum oder Nichteigentum gestaltet werden, sondern andere institutionelle und soziale Entscheidungsprozesse hinzukommen. Damit ist die enge Verbindung zwischen politischen Entscheidungsträgern, politischen Interessen und wirtschaftlicher Gestaltung angesprochen. Politische Mandatsträger repräsentieren staatseigene Unternehmen oder Kollektivunternehmen und sorgen dafür, dass Banken öffentliche gegenüber privaten Unternehmen bevorzugen. Aus diesem Grund liegen für Staatsunternehmen andere Finanzierungsmöglichkeiten und Grenzen vor, die sich auch in deren Bilanzierung und wirtschaftlicher Gestaltung festmachen lassen. Profitabilität hat damit einen anderen Stellenwert und wird in der Gesamtentscheidung der Finanzierung gesellschaftlichen Zielen gegenübergestellt, wie zum Beispiel der Beschäftigungsrate. Es gibt sozialwissenschaftliche Forschungen, welche die Kaderwirtschaft in enge Verbindung mit Korruption und dem unzureichenden Rechtssystem in Verbindung setzen und die Ansicht vertreten, dass durch die Einführung weiterer Gesetze nach dem Vorbild westlicher Rechtssysteme eine Rationalisierung eintritt, die dazu führt, dass diese Art der Wirtschaft auf lange Sicht abnehmen oder verschwinden wird. [4]Dieser Einschätzung liegt ein zu enger institutioneller Rahmen zugrunde und sie vernachlässigt die chinesische Modernisierung und die gesellschaftliche Schließung mit ihrer besonderen privilegierten Askription in der chinesischen Gesellschaft, die sich hemmend für eine solche Entwicklung auswirkt. [5] Für die zeitliche Dimension der Modernisierung des chinesischen Wirtschaftssystem zeichnet sich ab, dass sich zwei Zeitorientierungen herausgebildet haben, die darin bestehen, dass der kurzfristige Gewinn zu realisieren ist, dem aber zugleich zeitlich aufwendige Geschäftsverhandlungen und strategische Planungen gegenüberstehen. Darin muss kein Widerspruch bestehen. Die Orientierung an den kurzfristigen Gewinn erfüllt die Aufgabe, die Organisation und die sozialen Netzwerke mit neuen Ressourcen zu versorgen. Zugleich werden die Organisation und Netzwerkinteressen permanent neu abgestimmt, das ist ein Beleg für die langen und auf die soziale Dimension fokussierten Geschäftsverhandlungen. Diese Form der zeitlichen Orientierung entspricht der aus der chinesischen Sozialkonstruktion hervorgehenden Orientierung. Durch diese Form gelingt eine rasche Anpassung an sich verändernde Situationen und Märkte. Diese Form der Flexibilität erfordert eine bestimmte Form der Kommunikation und die ständige Einbindung der Kommunikationspartner über die sozialen Netzwerke und eine hohe Beobachtung. Eine Kommunikation über zeitliche Distanzen aufgrund sachlicher Übereinstimmung ist dadurch nicht möglich. Das führt zu einem anderen Aufbau des Wirtschaftssystems, der Herstellung von Erwartungserwartungen und ihrer Abstimmungen.
- [1] Auch Modernisierungsverlierer in der chinesischen Gesellschaft unterstützen das Modernisierungsprogramm des politischen Systems und stellen es entgegen westlichen Erwartungen nicht infrage, dazu Whyte, Martin K. „Myth of the Social Volcano: Popular Responses to Rising Inequality in China,“ in William C. Kirby The People's Republic of China at 60. Cambridge (MA): Harvard University Asia Center 2011, 273–90 und Alpermann, Björn „Soziale Schichtung und Klassenbewusstsein in Chinas autoritärer Modernisierung,“ Zeithistorische Forschungen, Heft 2: Soziale Ungleichheit im Staatssozialismus, 2013, 283–296.
- [2] Durch den Öffnungsprozess erweiterten sich die Handlungsalternativen, wie auch immer die Schließung einen Prozess der Verringerung der Handlungsalternativen beinhaltet. Die Schließung wurde durch das politische System und andere Strukturen herbeigeführt.
- [3] Eine Einführung über die wirtschaftliche Modernisierung mit seinen graduellen Reformen, unterschiedlichen Modellregionen, undifferenzierten Entwicklungen, ob im städtischen oder ländlichen oder küstennahen Zentralbereich Chinas, liefert: Naughton, Barry. The Chinese Economy. Transitions and Growth. London: MIT Press, 2007.
- [4] Für die Darstellung westlicher Institutionalisierung und Modernisierung siehe Guthrie, Doug. China and Globalization. The Social, Economic, and Political Transformation of Chinese Society. New York: Routledge 2006, Guthrie, Doug. Dragon in a Three-Suit. The Emergence of Capitalism in China. Princeton: Princeton University Press, 1999.
- [5] Eine anschauliche Charakterisierung der Kaderwirtschaft, ihrer institutionellen Voraussetzungen und der Bedingungen für eine Veränderung liefert Heilmann, Sebastian. „4.5 Korruption, ‚Kaderkapitalismus' und das politisch-ökonomisch Schattensystem“, in Das politische System der Volksrepublik China, Wiesbaden: VS Verlag 2004, 179–88.